SIEBENUNDDREISSIG

Emily packte das Dampfbügeleisen mit der rechten Hand und hob es hoch über den Kopf. Dabei stellte sie fest, dass sie vor Angst zitterte. Tat sie das Richtige? Oder sogar das Vernünftige?

Sie wartete, während Gabriel den anderen Wachmann ins Zimmer schleppte. Er wandte ihr den Rücken zu, was für sie ein Glücksfall war. Sie glaubte nicht, dass es ihr so leicht von der Hand gehen würde, wenn er sie so mit dem hoch erhobenen Bügeleisen hinter sich stehen sähe. Er schloss die Tür mit einem Fußtritt und bewegte sich, die Hände unter den Achselhöhlen des toten Sicherheitsmannes, rückwärts in Richtung Kleiderschrank.

Als er nah genug herangekommen war, holte sie tief Luft und nahm all ihre Kraft und ihre Entschlossenheit zusammen und zielte mit dem Dampfbügeleisen auf seinen Hinterkopf. Und sie zielte gut.

CLUNK!

Das Bügeleisen traf die rechte Seite seines Hinterkopfs. Es erwischte sein rechtes Ohr, aber hauptsächlich landete es auf dem Teil seines Schädels, der mit einer sehr dünnen Schicht Haut und Haarstoppeln bedeckt war. Gabriel kippte um wie ein Sack Maiskolben und fiel auf den Körper des Wachmanns, den er über den Fußboden geschleift hatte.

Emily blickte auf ihn hinab. Er schien nur noch halb bei Bewusstsein zu sein, wenn man den murmelnden Lauten, die er von sich gab, trauen konnte. Sie hatte ihn auf jeden Fall betäubt, aber wie stark? Sie wollte ihn nicht töten, daher schlug sie ihm kein zweites Mal auf den Kopf, sondern versuchte, über die beiden Körper zwischen dem Bett und der Wand zu steigen, die ihr den Weg zur Zimmertür versperrten. Da war der Wachmann, den sie vor den Kleiderschrank gezogen hatte. Und dann lagen da noch Gabriel und unter ihm der zweite Wachmann. Eine hysterische Entschuldigung murmelnd trat sie vorsichtig auf den ersten Wachmann und machte Anstalten zu einem großen Schritt über Gabriel und den anderen Wachmann hinweg.

Während sie ein Bein über Gabriels Körper hob, kam er schlagartig zu sich. Die kurze Benommenheit, die sie bei ihm ausgelöst hatte, war viel zu schnell verflogen. Er packte ihr linkes Bein und zog heftig daran, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Sie stolperte und stürzte neben dem Bett zu Boden und konnte gerade noch vermeiden, sich den Kopf am Bettpfosten anzuschlagen. Die unsanfte Landung hatte zur Folge, dass ihr das Bügeleisen aus der Hand rutschte und neben ihr auf den Teppichboden polterte.

»Du verdammtes Miststück!«, hörte sie Gabriel fluchen. Sie hatte es geschafft, ihn in Rage zu bringen und nicht, ihn außer Gefecht zu setzen.

Er kam hinter ihr auf die Füße. Während sie aufzustehen versuchte, versetzte er ihr mit der rechten Faust einen brutalen Hieb auf den Nacken. Sie fiel aufs Gesicht und bekam eine Vorstellung davon, wie er sich gefühlt haben musste, als sie ihn mit dem Bügeleisen niedergeschlagen hatte.

»Das war wirklich verdammt dämlich«, knurrte er wütend. Sie blickte zu ihm hoch und sah, wie er sich den Hinterkopf massierte, wo sie ihn getroffen hatte.

»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht.«

Der Biker hatte sich offenbar von dem Schlag auf den Kopf vollständig erholt. Er kauerte sich nieder und sie spürte sein Knie in ihrem Kreuz, mit dem er sie auf den Boden presste.

»Ich habe dir die Chance gegeben, am Leben zu bleiben, du Schlampe.«

»ich weiß. Es tut mir leid.«

»Mit ›es tut mir leid‹ lassen sich meine Kopfschmerzen nicht vertreiben. Du gottverdammtes nichtsnutziges Miststück!«

Er stieß ihren Kopf auf den Teppich. Mit seinem Knie gleichzeitig im Kreuz war sie völlig hilflos. Dann hörte sie das Geräusch, vor dem sie sich am meisten fürchtete – Gabriel holte wieder seine Pistole aus der Jacke. Er drückte die Mündung gegen ihren Hinterkopf. Ihre Angst stieg ins Unermessliche. Sie hatte alles total vermasselt. Ihm das Bügeleisen gegen den Kopf zu schmettern war einfach dumm gewesen. Und unnötig. Obgleich sie es, dachte sie flüchtig, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit abermals tun würde, allerdings dann um einiges kräftiger.

»Nicht besonders angenehm, wenn einem kalter Stahl gegen den Hinterkopf gedrückt wird, nicht wahr?«, knurrte Gabriel. Er stieß den Pistolenlauf heftiger gegen ihren Schädel. »Na, wie fühlt sich das an? Hä? Ganz schön unangenehm, nicht wahr?«

»Ja. Es tut mir leid.« Emily begann zu schluchzen. »Es tut mir so schrecklich leid.«

»Ja, es tut dir verdammt noch mal leid. Nun, du hattest deine Chance!« Mit der freien Hand griff er in ihr Haar und riss ihren Kopf ein paar Zentimeter vom Teppich hoch. »Verdammt noch mal, ich habe dir einen verdammten Gefallen getan!«

Er stieß ihr Gesicht auf den Fußboden. Ihre Stirn schlug zuerst auf und bewahrte ihre Nase davor, die volle Wucht des Aufpralls aufzufangen. Trotzdem tat es höllisch weh. Sie war benommen. Abermals riss Gabriel ihren Kopf an den Haaren hoch und stieß das Gesicht erneut nach unten. Emily verspürte Übelkeit. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie würde sterben und sie hatte ihre Mutter im Stich gelassen. Sie spürte die Mündung von Gabriels Pistole wieder an ihrem Hinterkopf. Sie schrie vor Schmerzen auf. Dann vernahm sie ein metallisches Klicken. Er hatte die Pistole entsichert. Das war’s.

Sie schloss die Augen und wartete auf den Moment der Wahrheit. Wie würde es sich anfühlen? Wie lange, nachdem die Kugel in ihren Schädel eingedrungen war, müsste sie die Schmerzen ertragen?

Während diese Fragen und eine Million anderer Gedanken durch ihren Kopf rasten, hörte sie ein überlautes Krachen hinter sich. Die Mündung von Gabriels Pistole drückte nicht mehr gegen ihren Hinterkopf. Das war der Moment.

BANG!

Sie hörte deutlich den Schuss, ein Knall, der sie in der Enge des Zimmers taub werden ließ. War dies das Gefühl, wenn man erschossen wurde? Oder tot war? Sie spürte nichts. Sie fühlte sich so wie immer. Sie fühlte – Moment mal. Soweit sie feststellen konnte, war sie immer noch am Leben und atmete. Was zum –?

WACK!

In ihrem benommenen Zustand drehte sie den Kopf und schaute nach links. Gabriels Gesicht tauchte auf, verschwamm, erschien wieder. Sie konzentrierte sich darauf und erkannte, dass er neben ihr auf der Seite lag und sie anstarrte. Sie blickten einander in die Augen. Dann beobachtete Emily, wie Gabriels Augen sich langsam verdrehten.

Sie lag noch immer ausgestreckt auf dem Teppichboden und hatte keine Ahnung, was geschehen war. Blut sickerte aus Gabriels Kopf. Es kroch über den Teppich auf sie zu.

Dann, ohne Vorwarnung, verstärkte sich das Gefühl der Benommenheit um ein Vielfaches. Sie hob den Kopf, um hinter sich zu schauen. Über ihr und der Leiche Gabriels stand der Mann in Schwarz, den sie früher am Tag gesehen hatte. In einer Hand hielt er eine Pistole, aus deren Mündung bläulicher Rauch zur Decke aufstieg. Während sie das Bewusstsein verlor, begriff sie, dass der Mann, den die Welt als den Bourbon Kid kannte, gekommen war, um sie zu retten.

Und Gabriel den Hinterkopf weggeschossen hatte.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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