SECHS

Emily war nicht gerade begeistert darüber, sich die Garderobe mit vier Männern zu teilen. Doch sie sagte sich immer wieder, dass sie es nur für einen Tag ertragen müsste und die Belohnung am Ende wahrscheinlich ihr Leben von Grund auf verändern würde.

Sie war einer der fünf Gesangskünstler, die Nigel Powell, oberster Juror des Back-From-The-Dead-Gesangswettbewerbs, bereits als Finalisten ausgewählt hatte. Emily verspürte ein leichtes Unbehagen, dass das öffentliche Vorsingen noch nicht stattgefunden hatte und dass alle anderen hoffnungsvollen Kandidaten, die nach und nach im Hotel eintrudelten, keine Ahnung hatten, dass die fünf Finalisten längst feststanden. Aber dann dachte sie an all die Bumslokale, in denen sie hatte auftreten müssen, an all die harten Jahre und daran, was dies für sie und ihre Mutter bedeutete. Denn Tatsache war Folgendes: Sie waren die fünf Finalisten, weil sie die besten Tribute-Acts der Clubszene waren. Also, was war schon schlimm daran, wenn die ganze Show ein abgekartetes Spiel war? Traf das heutzutage nicht auf alles zu? Jedenfalls beruhigte sie damit ihr Gewissen.

Außerdem war es ja nicht so, dass sie bereits gewonnen hatte. Sie musste immer noch die anderen vier besiegen.

Die fünf Wettbewerber saßen in einer Reihe an eigenen Schminktischen, jeder mit einem eigenen Spiegel ausgestattet, der durch kleine Glühbirnen an den Seiten und oben beleuchtet wurde. Die Garderobe war mit ihren zehn Metern Länge und etwa drei Metern Breite ziemlich eng. Die Wände wie auch die Tische waren in einem beruhigenden Pink gehalten. Emilys Tisch war der einzige, auf dem Schminkutensilien standen. Sie hatte einige Zeit darauf verwendet, genau so auszusehen, wie es ihr vorschwebte, während die Männer die meiste Zeit nur untätig herumgesessen und sich an allen möglichen Stellen gekratzt hatten. Typisch.

Die vier Männer saßen an den Tischen links von Emily. Der nächste neben ihr war das Otis-Redding-Double. Abgesehen davon, dass er schwarz war, sah er dem verstorbenen Sänger in keiner Weise ähnlich, aber er hatte eine herrliche Stimme und trug einen offensichtlich sündhaft teuren schwarzen Anzug mit einem roten Seidenhemd darunter. Emily dachte, dass er beim Finale ein durchaus ernst zu nehmender Konkurrent wäre.

Neben ihm saß Kurt Cobain. Er war dem echten Cobain nicht nur sehr ähnlich, er roch auch so wie er. Er trug einen schmuddeligen grauen Pullover und ausgefranste Jeans. Sein Haar war blond und fettig und die untere Hälfte seines Gesichts verschwand hinter zwei Tage alten Bartstoppeln und hatte, um das grunge-typische Bild abzurunden, sicherlich für einige Wochen auf den Gebrauch von Seife verzichtet. Vielleicht versuchte er auch zu riechen wie der viel beschworene Teen Spirit. Der Gestank erinnerte eher an ein durchgeschwitztes Suspensorium.

Zu seiner Linken residierte Johnny Cash. Emily hatte schon früh festgestellt, dass dieser Typ die Angelegenheit sehr ernst nahm. Er hatte seinen Namen offiziell in Johnny Cash geändert und gab sich alle Mühe, genauso zu leben wie der berühmte Sänger seligen Angedenkens. Während seiner Tribute-Tourneen war er in fast allen Sälen aufgetreten wie sein Idol. Sein Kostüm bestand – was niemanden wunderte – aus einem schwarzen Oberhemd und schwarzer Hose, und sein schwarzes Haar war zu einer Tolle aufgegelt. Zweifellos verfügte er über das größte Charisma aller männlichen Konkurrenten, und Emily hatte bereits entschieden, dass, wenn sie nicht gewinnen sollte, er derjenige war, dem sie den Sieg am ehesten wünschte. Aber eigentlich wollte sie auf keinen Fall verlieren.

Der letzte Wettstreiter, der am Ende der Reihe direkt an der Tür saß, war der James-Brown-Imitator. Er war zweifellos ein Spinner und trug einen violetten Anzug mit einem blauen, fast bis zum Bauchnabel offenen Oberhemd, unter dem eine glatte braune Brust und ein dickes goldenes Kruzifix, das an einer Kette um seinen Hals hing, zum Vorschein kamen. Ein ständiges strahlend weißes Lächeln lag auf seinem Gesicht, und er trug die gleiche wellige ungeordnete Frisur, mit welcher der Godfather of Soul in seinen letzten Jahren aufgetreten war.

In der Garderobe herrschte Grabesruhe. Nur das Geräusch von Kurt Cobains nasalem Atmen war in der herrschenden Stille zu hören. Emily beschloss, das Eis zu brechen.

»Was meinst du, ist meine Frisur okay?«, wollte sie von Otis Redding wissen.

Er antwortete sofort. »Na klar, Baby, du siehst super aus«, sagte er und nickte bestätigend. Johnny Cash, der seine eigenen Haare im hell erleuchteten Spiegel vor ihm geordnet hatte, beugte sich vor, um einen Blick auf Emilys Frisur zu werfen.

»Er hat Recht. Du siehst klasse aus«, meinte er lächelnd mit einem Augenzwinkern.

»Danke«, sagte Emily und erwiderte das Lächeln. Ermutigt durch ihre freundliche Reaktion fuhr sie fort. »Ich glaube, ich werde jetzt richtig nervös. Wie geht es euch?«

Erleichtert, dass das Schweigen gebrochen worden war, begannen die vier Männer beinahe gleichzeitig zu reden. Man kam überein, dass sie alle nervös waren. James Brown brachte es auf den Punkt. »Schätze, ich wäre weniger nervös, wenn ich nicht längst wüsste, dass ich im Finale bin«, sagte er und erhob sich von seinem Stuhl. »Jetzt stehen wir alle unter dem Druck zu wissen, dass wir, selbst wenn wir versagen sollten, von den Juroren bevorzugt werden und dann jeder begreift, dass die Show manipuliert wurde.«

Emily nickte heftig. »Das kann man wohl sagen. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen aus Angst, beim Vorsingen zu versagen. Mir scheint, dass der Druck im Finale bei Weitem nicht so groß sein wird.«

Johnny Cash ergriff wieder das Wort. »Ja. Viel lieber würde ich mir den Einzug ins Finale auf legale Art erkämpfen. Das Ganze fühlt sich an wie nackter Betrug, nicht wahr? Warum lassen sie nicht zu, dass wir es aus eigener Kraft schaffen?«

Otis Redding war der Einzige, der darauf eine Antwort wusste. »Weil der ganze Wettbewerb nur einen einzigen Tag dauert.«

»Na und? Welchen Unterschied macht das?«

»Nun, ihr Herzchen, wenn ihr ins Finale kommt, dann steht ihr nicht auf der Bühne und singt ganz alleine. Ihr habt das Hausorchester zur Unterstützung, das euch bei euerm Song begleitet.«

»Und?«

»Das Orchester muss schon Tage im Voraus wissen, welche Musik es spielen wird, nicht wahr? Wenn ein verdammter Jimi-Hendrix-Imitator es – unerwarteterweise – bis ins Finale schafft und verkündet, er wolle ›Voodoo Child‹ singen, dann wette ich, dass das Orchester in den Arsch gekniffen ist. Wie sollen die in einer Stunde lernen, diesen und vier andere Songs zu spielen?«

Allmählich dämmerte es Johnny Cash. Trotz seines Charismas, seines Charmes und seines Talents war er nicht gerade der intelligenteste Zeitgenosse. »Ich verstehe«, sagte er langsam. »Daran habe ich nie gedacht. Wollten sie deshalb im Voraus wissen, welchen Song ich zum Besten geben will?«

»Ja. Das ist der Grund.« Das »So ein Blödmann!« fügte Otis Redding gerade noch laut genug hinzu, sodass alle es hören konnten.

Emily lächelte. Sie hatte das Ganze ziemlich genau durchschaut. Was den Wettbewerb betraf, gab es einige Dinge zu bedenken, die Johnny wahrscheinlich nicht im Mindesten in den Sinn gekommen waren. Vor allem ein Punkt hatte sie während der letzten Tage ausgiebig beschäftigt. Und jetzt schien der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, um die Angelegenheit zur Sprache zu bringen.

»Ich frage mich«, sagte sie nachdenklich, »was geschehen würde, wenn einer von uns krank wird und einer der anderen Sänger es ins Finale schafft?«

James Brown war von seinem Platz aufgestanden und ging zur Tür, doch während er nach der Türklinke griff, wandte er sich um und beantwortete Emilys Frage. »Ich denke, dann würden sie es bei vier Finalisten belassen.«

»Schon möglich«, sagte Emily vorsichtig. »Aber wenn nun drei oder vier von uns irgendetwas zustößt? Angenommen, wir bekämen eine Lebensmittelvergiftung und könnten nicht auftreten? Was dann?«

James Brown öffnete die Tür, um in den Korridor hinauszugehen. »Das wäre dann ein verdammt interessantes Finale, denke ich«, sagte er.

»Wo willst du hin, Mann?«, rief Johnny Cash ihm nach.

»Ich gehe raus auf den Parkplatz, um frische Luft zu schnappen. Hier stinkt es, als wäre hier drin jemand gestorben.«

Instinktiv blickte jeder zu Kurt Cobain. Der bemerkte ihre unfreundlichen Blicke und errötete ein wenig. Dann schickte er James Brown einen trotzigen Kommentar hinterher, während er die Garderobe verließ.

»Nimm dich vor den Autobussen auf dem Parkplatz in Acht, Mann. Wäre doch schade, wenn du zerquetscht wirst und wir nur noch zu viert im Finale stehen.«

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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