ZWEIUNDVIERZIG ♦
Die Mitglieder des Pasadena-Hotel-Orchesters hatten den größten Teil des Tages geprobt. Sie waren daher äußerst enttäuscht, als sie erfuhren, dass drei der Songs, die sie einstudiert hatten, nicht gespielt würden. In der letzten Minute hatte Nigel Powell sie darüber informiert, dass sie nur zwei Finalisten begleiten mussten. Die anderen würden zu Karaoke-Musik singen, die der Haus-DJ soeben aus dem Internet herunterlud. Verständlicherweise waren die Musiker ziemlich verärgert und machten ihrem Unmut lautstark Luft, während sie sich durch die Hotelflure zum Orchestergraben vor der Bühne begaben.
Insgesamt vierundzwanzig Musiker, die bis auf den Pianisten und den Schlagzeuger ihre Instrumente trugen, legten den langen Weg vom Probenraum zum Konzertsaal zurück. Einige von ihnen machten es mit der Gewissheit, dass ihr Können und ihre Instrumente nicht mehr benötigt wurden. Sie würden im Orchestergraben sitzen und nichts anderes tun, als sich die Show anzusehen. Einer von ihnen war Boris, der Gitarrist. Sein Einsatz war überflüssig geworden. Er feierte gerade seinen einundzwanzigsten Geburtstag, und seine Mitwirkung bei der Show hätte der Höhepunkt seiner bisherigen Musikerkarriere sein sollen. Doch nun war Pablo, sein älterer Kollege, der einzige Gitarrist, der für die beiden Finalsongs gebraucht wurde.
Ziemlich niedergeschlagen trottete Boris hinter seinen Kollegen her und haderte mit seinem Schicksal. Während sie durch den langen Korridor von der Lobby zur Bühne wanderten, bemerkte er, dass die Orchestermusiker vor ihm sich zu teilen begannen wie das Rote Meer vor den Kindern Israels. Er sah inmitten des Gewühls von Musikern einen athletischen Mann auf sich zukommen. Er trug eine schwarze Lederjacke mit einer Kapuze, die er sich über den Kopf gezogen hatte, sodass sein Gesicht im Schatten lag.
Während Boris Anstalten machte, zur Seite auszuweichen, um den Mann an sich vorbeigehen zu lassen, streckte dieser eine Hand aus und packte ihn an der Schulter.
»Heh, du«, sagte er mit rauer Stimme.
»Ja, äh – hi«, erwiderte Boris. Irgendetwas an dem Mann machte ihn nervös.
»Ich habe dich schon gesucht.«
»Mich? Warum?«
»Der Typ oben im Tonstudio will dich sprechen.«
»Weswegen?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
»Na ja, ich soll gleich bei der Show spielen.«
»Es geht um die verdammte Show, Mann. Der Typ will, dass du ein langes Solo oder so etwas Ähnliches spielst.«
Boris’ Augen leuchteten auf. »Tatsächlich?« Aber seine anfängliche Freude verwandelte sich schnell in Misstrauen. Das war höchstwahrscheinlich nur ein schlechter Scherz. »Sie meinten gerade, Sie wüssten nicht, um was es geht«, sagte er wachsam.
»Es sollte eine Überraschung sein. Ich wollte sie dir nicht verderben.«
»Ach so. Gut. Was soll das für ein Solo sein?«
»Hey, Mann, ich habe schon viel zu viel gesagt. Es geht dort hinauf.« Er deutete auf eine Treppe, die auf der rechten Seite vom Korridor abzweigte und an der Boris soeben vorbeigegangen war. Damit seine Orchester-Kollegen ihn nicht vergaßen, rief er etwas hinter ihnen her.
»Ich komme gleich nach, Leute, okay?«
Falls einer der Musiker ihn gehört haben sollte, verriet er es durch keinerlei Reaktion. Sie alle setzten ihren Weg fort, ehe sie nach rechts durch eine Tür verschwanden, die zum unteren Teil des Konzertsaals führte, wo sich der Orchestergraben befand.
Boris folgte dem Mann mit der Kapuze die Treppe hinauf. Der Fremde bedeutete ihm mit einer Geste vorzugehen. Die Treppe bestand aus nicht mehr als zehn Stufen, doch sie war nicht beleuchtet, sodass nicht genau zu erkennen war, wohin sie führte. Als er oben ankam, stand er am Anfang eines weiteren Korridors, in den er zögernd hineinging. Auf halbem Weg befand sich auf der linken Seite eine Tür mit einem Schild, auf dem das Wort »TONTECHNIK« zu lesen war. Während Boris sich der Tür näherte, drängte der Kapuzenmann sich an ihm vorbei.
»Dort hinein«, knurrte er und stieß die Tür auf.
Boris ging durch die Tür, die der Mann für ihn aufhielt. Vor einem großen Glasfenster mit Blick auf den Zuschauerraum darunter saß der DJ der Show an einem Mischpult. Er war ein kleiner, fetter Weißer mit Halbglatze in einem blauen Trainingsanzug mit weißen Längsstreifen an den Ärmeln und Beinen. Seine Ohren waren mit professionell aussehenden Kopfhörern bedeckt, die wahrscheinlich erklärten, weshalb er die beiden Männer offensichtlich nicht hatte hereinkommen hören. Boris versuchte sich bei ihm bemerkbar zu machen und rief: »Heh, Harry! Du wolltest mich sprechen?«
Aufgeschreckt fuhr Harry herum und sah ihn an. Er schob die Kopfhörer von seinen Ohren, während sein fleckiges rotes Gesicht einen verwirrten Ausdruck annahm. Er schüttelte den Kopf.
»Boris? Nein. Ich ganz sicher nicht. Solltest du nicht unten im Orchestergraben sitzen und spielen?«
Boris wandte sich zwecks einer Erklärung zu dem Kapuzenmann um und sah gerade noch, wie eine Faust direkt auf sein Gesicht zuraste. Instinktiv schloss er die Augen, während der Boxhieb mit voller Wucht seine Nase traf. Das Letzte, was er hörte, war ein grässliches knirschendes Geräusch, als sein Nasenbein zertrümmert wurde.
Der Bourbon Kid hob Boris’ Füße hoch und schleifte den bewusstlosen Körper in eine Nische des Tonstudios. Er hob die Gitarre auf, die der junge Mann fallen gelassen hatte, und betrachtete sie eingehend. Sie befand sich offenbar in einem hinreichend guten Zustand. An ihr waren keine Kratzer zu erkennen, und von der gebrochenen Nase ihres Eigentümers war kein Tropfen Blut auf das Instrument gespritzt. Der DJ, der sich nicht aus seinem Sessel gerührt hatte, wartete auf eine Erklärung.
»Hey, Mann, was geht hier vor?«, fragte er.
»Ich brauchte eine Gitarre.«
»Hätten Sie ihn nicht einfach fragen können, ob er sie Ihnen leiht?«
»Das hätte ich.«
»Aber Sie wollten es nicht.«
»Genau. Ich will auch etwas von Ihnen.«
»Und was wäre?«
»Eine Blues-Brothers-CD. Haben Sie eine?«
»Ja.«
»Geben Sie sie mir.«
»Kriege ich sie zurück?«
»Nein.«
Harry konnte den enttäuschten Ausdruck in seinem Gesicht nicht kaschieren. Aber er schien auch messerscharf zu begreifen, was mit ihm geschehen würde, wenn er der Bitte des Kid nicht nachkäme. Er beugte sich nach unten und begann in einem großen Kasten voller CDs, der neben seinem rechten Fuß auf dem Boden stand, herumzukramen. Nach ein paar Sekunden angelte er ein Blues-Brothers-Album heraus und reicht es dem Kid.
»Da haben Sie die Scheibe. Gibt es sonst noch etwas?«
»Ja. Sind Sie für die Begleitmusik der Finalisten zuständig?«
»Für ein paar Titel, ja. Die Hausband spielt zwei der Songs. Die Musik für die anderen vier Teilnehmer lege ich auf.«
»Dann spielen Sie keinen Titel für den Blues Brother, wenn er dran ist.«
Harry war sichtlich verwirrt. »Hä? Mir wurde gesagt, ich solle ›Mustang Sally‹ auflegen, damit er dazu singen kann. Ich habe das Stück extra aus dem Internet runtergeladen.«
Der Kid lehnte seine neu erworbene Gitarre gegen die Wand neben der Tür, griff in seine Jacke und holte eine dunkelgraue Pistole hervor. Er zeigte sie Harry von allen Seiten. »Wenn Sie für ihn diesen Titel auflegen, schieße ich Ihnen mit dieser Kanone ins Gesicht.«
Harry traf seine Entscheidung in Windeseile. »Okay. Aber damit vermindern sich seine Siegchancen beträchtlich.«
»Lassen Sie das mein Problem sein.«
Harry zuckte die Achseln. »Okay. Wie Sie wollen. Ist das alles?«
»Nein. Ich bin in fünf Minuten zurück. Und ich will Ihren Platz.«
»Super. Ich freu mich schon darauf.«
»Tatsächlich?« Der Anflug eines Lächelns erschien auf dem Gesicht unter der Kapuze. Harry schreckte vor dem Anblick zurück.
Der Kid verstaute die Pistole in der Jacke, griff wieder nach der Gitarre und machte Anstalten, das Tonstudio zu verlassen. In diesem Moment schaltete Harry den CD-Player auf seinem Mischpult ein. Der Song »That’s Not My Name« von den Ting Tangs drang aus den Lautsprechern.
Der Kid blieb auf dem Weg zur Tür stehen.
»Suchen Sie auch die Musik aus?«, erkundigte er sich.
»Ja. Ein cooler Song, nicht wahr? Der reinste Ohrwurm.«
»Nehmen Sie auch Wünsche entgegen?«
Harry schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein, mein Freund. Ich halte mich an eine feste Playlist.«
»Kann ich etwas bestellen?«
»Äh – an was hatten Sie gedacht?«
»›Live and Let Die.‹ Das bringt mich für später in die richtige Stimmung.«
»Ich werde jemanden töten.«
Harry atmete zischend ein und wurde für jemanden, der normalerweise ein ziemlich rotes Gesicht hatte, totenblass. Er war jedoch vernünftig genug, den Kid nicht zu lange warten zu lassen. Er drehte sich in seinem Sessel und bückte sich mit dem Tempo von jemandem, der keine Lust hatte, als zukünftiges Mordopfer zu enden, zu dem CD-Kasten auf dem Fußboden hinunter und begann die Scheiben hektisch durchzublättern.
Als er endlich die Paul-McCartney-CD fand, war der Bourbon Kid längst hinausgegangen.