EINS

Scheiiiiiße! Es stimmte schon, es ging nichts über einen anständigen Hubraum. Die Maschine in diesem Schlitten hatte wirklich Power …

Für Johnny Parks ging endlich ein lebenslanger Traum in Erfüllung. Am frühen Morgen mit über hundertsechzig Sachen einen verlassenen Highway hinunterzurasen war aufregend. Dass er in einem Streifenwagen saß und einen berüchtigten Serienmörder in einem schwarzen Pontiac Firebird verfolgte, gab dem Ganzen einen zusätzlichen Kick.

Das Funkgerät erwachte knisternd und die Stimme des Chiefs erklang zum dritten Mal laut und deutlich während der letzten zwei Minuten.

»Ich wiederhole, alle Einheiten bleiben zurück. Der Flüchtige wird nicht bis auf den Devil’s Graveyard verfolgt! Ich erwarte Bestätigung – das ist ein verdammter Befehl!«

Johnnys Partner auf dem Beifahrersitz, Neil Silverman, griff nach unten und drehte am Lautstärkeknopf des Funkgeräts, bis nacheinander die Stimmen der anderen Beamten, die den Empfang der Meldung bestätigten, verstummten. Die beiden Cops grinsten und nickten. Währenddessen jagten sie an der riesigen Tafel am Straßenrand vorbei. Dort war zu lesen:

Willkommen auf Devil’s Graveyard

Johnny beobachtete im Rückspiegel, wie die Kette der anderen sieben Streifenwagen hinter ihm stoppte, kehrtmachte und sich entfernte. Feige Bande. Das war seine Stunde – nun ja, seine und Neils, dachte er. Normalerweise wäre keiner von ihnen beiden an einer solchen hochkarätigen Verfolgungsjagd beteiligt gewesen, aber an diesem Morgen waren so viele Beamte getötet worden, dass sie den Einsatzbefehl erhielten. Beide Männer waren Anfang zwanzig und hatten erst vor einem halben Jahr die Polizeiakademie absolviert. Neil war der beste Pistolenschütze seines Jahrgangs und hatte eine glänzende Karriere in der Truppe vor sich. Was Johnny betraf, so fand er es einfach nur aufregend, den Meisterschützen über den Highway zu fahren. Wenn überhaupt jemand den Fahrer des Firebird zur Strecke bringen würde, dann war es sein Kumpel Neil – was der Grund dafür war, dass Johnny so erpicht darauf war, die Jagd noch ein wenig fortzusetzen, obgleich es bedeutete, den Befehl des Chiefs zu missachten.

Während ihn die Wüstensonne mit ihrem grellen Licht blendete, bemühte sich Johnny, den Wagen unter Kontrolle zu behalten, während sie allmählich zu dem Firebird aufholten. Über den Highway mit seinen Sandverwehungen und Geröllpassagen zu navigieren, während er gleichzeitig versuchte, einen Wahnsinnigen aufzuhalten, der mindestens drei andere Fahrzeuge von der Straße gerammt hatte, erforderte sein ganzes Können.

Wenn Neil der beste Schütze in der Truppe war, dann betrachtete Johnny sich als den besten Fahrer. Als Teenager war er ein fanatischer Stockcar-Fahrer gewesen, hatte stundenlang auf einer eigens dafür angelegten Sandpiste auf der Farm seines Vaters trainiert und zahlreiche Rennen auf dem örtlichen Rundkurs gewonnen. Es waren seine Fahrkünste, die ihn bei seiner Verlobten Carrie-Anne, der Anführerin der Cheerleader-Truppe an seiner Highschool, hatten landen lassen. Sie erwarteten jeden Tag die Geburt ihres ersten Kindes. Wenn Johnny den Ruhm und die Vorteile einheimste, die ihm zuteilwürden, weil er Teil des Duos war, das den Bourbon Kid zur Strecke brachte, hätte sein zukünftiges Kind einen Vater, auf den es stolz sein konnte.

»Komm schon, Johnny! Ich kann von hier keinen genauen Schuss anbringen!«, brüllte Neil und zielte mit dem Revolver aus dem offenen Fenster. »Bring uns näher ran!«

Johnny rammte den Fuß aufs Gaspedal und versuchte, die Front ihres Streifenwagens auf gleiche Höhe mit dem Heck des Firebird zu bringen.

»Zielst du auf die Reifen?«, rief er über den Lärm des Motors und des Windes, der durch die offenen Fenster pfiff.

»Nee. Auf den Fahrer.«

»Solltest du nicht die Reifen aufs Korn nehmen?«

Neil löste den Blick von dem schwarzen Wagen vor ihnen und schaute kurz zu Johnny.

»Hör mal, wenn ich diesen Kerl erledige, dann sind wir verdammte Helden, Johnny. Stell dir doch nur mal vor – irgendwann kannst du deinem Jungen erzählen, dass du den schlimmsten Massenmörder der Geschichte zur Strecke gebracht hast!«

Während er mit einem Auge auf die Straße achtete, erwiderte Johnny das Grinsen seines Partners. »Yeah. Das wäre obercool.«

»Ich kann’s mir richtig vorstellen. Wir eröffnen Supermärkte, machen Werbung für Aftershave, das volle Programm.«

»Ich könnte ein neues Aftershave brauchen.«

»Nun, sieh du nur zu, dass du den Wagen ruhig hältst, dann sorge ich schon dafür.«

»Kannst du ihn nicht nur verwunden? Ginge das? Hä?«

Neil schüttelte ungehalten den Kopf. »So’n Scheiß, was erwartest du von mir? Soll ich ihm die Scheißnase wegblasen? Ich bin gut, aber so gut bin ich auch nicht. Das ist niemand.« Er lehnte sich weiter aus dem Fenster und fügte hinzu: »Vergiss nicht, dass diese Sau heute Morgen mindestens zehn von unseren Leuten gekillt hat. Gute Männer. Männer mit Familien. Fröhliches Halloween, der Boogeyman ist in der Stadt!«

Dass Halloween war, hatte Johnny nicht vergessen. Die Bewohner – das heißt, die wenigen, die es noch gab – setzten niemals einen Fuß auf Devil’s Graveyard, erst recht nicht an Halloween. In den Bars und Imbissrestaurants wurde ständig über das gemunkelt, was da draußen an jedem einunddreißigsten Oktober geschah. Es hieß, dass ganze Busladungen unschuldiger Trottel jedes Jahr reingefahren und nie wieder gesehen wurden. Die meisten Leute glaubten das. Das war das schmutzige kleine Geheimnis der Stadt. Johnny hatte bereits das Schild passiert, das anzeigte, dass sie sich auf tödlichem Territorium befanden. Es war schon dämlich genug, mit einem Streifenwagen hinter dem Serienmörder, den alle nur als Bourbon Kid kannten, herzurasen, aber diese Jagd bis auf Devil’s Graveyard fortzusetzen und das an Halloween … nun, das war in etwa genauso Idiotisch wie ein Bungeesprung ohne Seil.

»Okay, Neil, hab schon verstanden. Beeil dich nur, diesen Hurensohn zu erwischen. Und dann lass uns verdammt noch mal schnellstens von hier verschwinden.«

»Du sagst es, Kumpel.«

Die Straße dehnte sich vor ihnen endlos bis zum Horizont und schimmerte in der frühmorgendlichen Sonnenhitze wie eine Fata Morgana. So weit das Auge reichte, gab es keine Gebäude, keinen weiteren Verkehr. Abermals lehnte Neil sich aus seinem Fenster und zielte mit der Pistole auf das dunkel getönte Heckfenster des Firebird. Der Fahrtwind ließ sein normalerweise adrett gekämmtes blondes Haar wild um seinen Kopf flattern.

»Komm zu Daddy, du Schweinebacke«, flüsterte er.

Eine Millisekunde, bevor Neil feuerte, trat der Fahrer des Firebird auf die Bremse und brachte beide Wagen auf gleiche Höhe. Neil hatte bereits abgedrückt. Die Kugel verfehlte ihr Ziel und sirrte an der Front des anderen Wagens vorbei. Johnny bremste ebenfalls scharf, aber ehe er begriff, was geschah, senkte sich das Seitenfenster auf der Fahrerseite des Firebird. Die Zwillingsmündung einer Schrotflinte mit abgesägten Läufen erschien in der Öffnung. Sie zielten auf sie. Johnny riss den Mund auf, um Neil zuzurufen, er solle sich ducken, aber –

BOOM!

Es geschah so schnell, dass Johnny kaum Zeit hatte zu blinzeln, geschweige ein Wort über die Lippen zu bringen, um seinen Partner zu warnen. Die massive Schrotladung blies den größten Teil von Neils Kopf weg und spritzte ihn auf Johnnys Gesichtshälfte. Blut, Haare und Gehirnfetzen flogen ihm in den offenen Mund, und er quiekte ein gequältes »Oh, Scheiße!«. Der Schock ließ ihn die Kontrolle über den Wagen verlieren. Der Firebird schwenkte zu ihm herüber, und sein vorderer Kotflügel erwischte den Streifenwagen bei vollem Tempo. Johnny trat abermals auf die Bremse, aber es war viel zu spät. Seinen Händen war das Lenkrad bereits entglitten und drehte sich wild. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Firebird drei- oder viermal hin und her schlingerte, während sein Fahrer darum kämpfte, das Schleudern in den Griff zu kriegen, sich fing und den Highway hinunterraste. Mit kreischenden Reifen schlitterte der Streifenwagen von der Straße und auf das mit Steinen übersäte Wüstengelände daneben. Er prallte auf einen großen Felsklotz, drehte sich in der Luft und schleuderte dabei Neils leblosen Körper aus seinem Sitz.

Johnny fand sich kopfüber mitten in der Luft. Instinktiv krümmte er sich zur Seite und griff nach der Basis seines Sitzes und zog sich mit aller Kraft nach unten. Ihm war beigebracht worden, dass dies das Erste sei, das er tun solle, wenn sich sein Wagen während eines Rennens überschlug. Wenn das Dach des Wagens auf dem Boden aufschlug, müsste Johnny sich vor dem Aufprall schützen, indem er sich mit aller Kraft, komme was wolle, an seinem Sitz festhielt. Er hörte das Dach knirschen und knacken, als es auf dem Wüstenboden landete. Die Beulen im Blech verfehlten seinen Kopf nur um Zentimeter. Drei weitere Male drehte der Wagen sich um seine Längsachse und raubte Johnny jegliche Orientierung. Schließlich landete er auf der Seite, sodass Johnny gegen das Seitenfenster gepresst wurde und auf den sandigen Boden starrte. Der Wagen schaukelte noch ein paar Mal, ehe er endlich zur Ruhe kam.

Was von Neil übrig war, kippte auf ihn. Das verbliebene Auge seines toten Freundes starrte ihn leer an, und Blut tropfte auf ihn herab wie die Vorboten eines Regenschauers. Er hörte das Ticken des abkühlenden Metalls und nahm den beißenden Geruch ausströmenden Benzins wahr.

Eine Sekunde, ehe er das Bewusstsein verlor, nahm Johnny sich vor, den Polizeidienst zu quittieren.

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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