SECHSUNDVIERZIG ♦
Elvis stand vor dem Jurorentisch und ließ den Blick von einem Juror zum nächsten wandern. Er hatte soeben seine beste Adaption des Titels »You’re The Devil In Disguise« abgeliefert und wartete auf ihre Reaktion. Er war vermutlich so nervös wie nie zuvor in seinem Leben, was bedeutete, dass er, gemessen an seinen Konkurrenten, praktisch immer noch die Ruhe selbst war.
Der Plan war gewesen, den Song zurückhaltend und dezent darzubieten, um Julius’ Chancen zu erhöhen, den Wettbewerb mit seiner James-Brown-Nummer zu gewinnen, aber als er an der Reihe war und es hart auf hart ging, hatte er gedacht, Scheiß auf Julius. Elvis kannte den Kerl noch nicht einmal. Warum sollte er Rücksicht auf ihn nehmen? Nur weil er angeblich der dreizehnte Apostel war und das Hotel von all den verdammten fleischfressenden Zombies befreien würde? Verdammt noch mal, die anderen Finalisten würden es ihm auch nicht leicht machen, also warum sollte ausgerechnet der King kleine Brötchen backen? Außerdem, falls die Untoten tatsächlich ins Hotel eindringen sollten, bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Elvis zu den wenigen gehörte, die es schaffen würden, unversehrt hinauszugelangen. Er war schon mit Vampiren, Werwölfen und jetzt mit Zombies aneinandergeraten und hatte sie alle überlebt. Immer noch in einem Stück und immer noch obercool.
Professionell wie er war, hatte Elvis bei seinem Auftritt alles gegeben. Der Gesang saß perfekt, die kreisenden Hüften hatten die Frauen im Publikum in hysterische Schreie ausbrechen lassen und das abfällige Grinsen – nun, das war sein eigenes und keine Kopie. Candy war die erste Jurorin, die einen Kommentar abgab. Sie beugte sich vor und presste die Brüste so fest zusammen, dass es fast zu einem Wettrennen kam, was zuerst ins Freie hüpfte: Elvis’ Augen oder ihre Brustwarzen.
»Elvis-Schätzchen, ich glaube, ich liebe dich. Das war einfach sensationell. Ich kann dir versichern, diese Tanzschritte haben so gut wie jeder Frau im Saal die Knie weich werden lassen. Glückwunsch. Ich glaube, du hast dich soeben mit Nachdruck in die Position gebracht, diesen Wettbewerb zu gewinnen!« Das Publikum applaudierte und johlte und wurde erst leiser, als Lucinda sich anschickte, ihr Urteil abzugeben.
Es fiel genauso enthusiastisch aus. »Du bist unser Mann, Elvis. Du bist unser Mann!«, kreischte sie, bewegte den Kopf rhythmisch hin und her und dirigierte mit beiden Händen das Publikum. Es stimmte in ihren Ruf ein und machte lautstark seiner Begeisterung Luft.
Wahrscheinlich war es unvermeidlich, dass die einzigen kritischen Bemerkungen von Nigel Powell kommen sollten, dem es recht überzeugend gelang, den ganz und gar nicht so Begeisterten zu mimen. »Nun, es war durchaus okay«, begann er und handelte sich einige Protestrufe aus dem Publikum ein. »Das war es wirklich. In der Nachtclub-Szene wimmelt es von Elvis-Imitatoren. Der Auftritt war gut, sicher, aber ich glaube nicht, dass er gut genug war, um den Sieg in diesem Wettbewerb zu rechtfertigen. Tatsache ist, dass du im Kreis der Finalisten eigentlich nichts zu suchen hast. Trotzdem viel Glück.«
Elvis ging mit seinem üblichen Elan zur Bühnenseite, winkte dem Publikum und schickte jeder hübscheren Frau, mit der er einen kurzen Blickkontakt herstellen konnte, Kusshändchen. Als er die Bühne hinter dem Vorhang an der Seite verließ, stellte er leicht überrascht, wenn nicht gar enttäuscht, fest, dass Sanchez verschwunden war. Hatte der fette Bastard ihn überhaupt singen hören? Oder hatte er sich davongeschlichen, um sich eine Enchilada zu gönnen?
Er beschloss, noch für einige Zeit hinter dem hohen roten Bühnenvorhang zu bleiben und auf Sanchez’ Rückkehr zu warten. Freddie Mercury wurde angesagt und er stürmte energiegeladen zu seinem Auftritt auf die Bühne. In diesem Moment schob sich das Judy-Garland-Double von der Seite an Elvis heran und tippte ihm auf den rechten Arm, um sich bei ihm bemerkbar zu machen.
»Hi, ich bin Emily. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich finde, dass Sie ganz toll waren«, schmeichelte sie ihm. »Der Gesang war klasse und Ihre Tanzschritte waren sooo super. Haben Sie die aus dem Stegreif gebracht? Oder haben Sie lange dafür geübt?«
Elvis zuckte lässig die Achseln. »Alles improvisiert«, sagte er.
»Nun, wissen Sie, wer Sie für richtig cool hält?«, fragte Emily und tippte ihm abermals auf den Arm.
»Wer?« Im Großen und Ganzen glaubte Elvis, dass ihn jeder für cool hielt. Im Großen und Ganzen hatte er damit auch Recht.
»Janis Joplin«, flüsterte sie.
»Hä?«
»Ich glaube, sie mag Sie.«
»Ja? Und wo ist sie?«
»Hinter der Bühne. Warum gehen Sie nicht mal hin und sagen Hallo?«
»Wollen Sie mich verarschen?«
Emily lachte. »Nein, aber sie hat irgendwie Hemmungen, Sie anzusprechen. Weil, nun ja, sie hat dieses Problem.«
»Was für ein Problem?«
»Das Tourette-Syndrom. Sie lernt nicht so leicht neue Leute kennen. Sie hat mir gegenüber sogar ein ziemlich –«, Emily errötete, »– undamenhaftes Wort benutzt, als ich sie zu ihrem Auftritt beglückwünscht habe.«
»Ach ja. Das. Eigentlich mag ich Frauen, die sich ein wenig deftig ausdrücken.« Hinter ihnen begann Freddy Mercury mit seiner eindrucksvollen Version des Queen-Songs »Who Wants To Live Forever?«.
»Cool«, sagte Emily. »Soll ich Sie miteinander bekannt machen?«
»Klar doch. Bringen Sie sie hierher.«
Emily verschwand hinter der Bühne, und Elvis hatte nichts anderes zu tun, als sich den Auftritt seines Konkurrenten anzusehen, der den lange verstorbenen Sänger der Rockformation Queen imitierte. Als er seinen Song beendet hatte und abwartend vor der Jury stand, kam Emily mit einer ziemlich nervös aussehenden Janis Joplin zurück. Elvis fand sofort Gefallen an Janis Joplin. Sie sah irgendwie verrückt aus, und obgleich sie ziemlich schüchtern wirkte, wusste er, dass sie, wenn sie erst einmal den Mund aufmachte, wahrscheinlich jede Menge Unflat von sich geben würde. Damit wäre sie genau sein Typ.
»Noch mal hi, Elvis«, sagte Emily lächelnd. »Wie ist eigentlich Ihr richtiger Name?«
»Elvis.«
»Wow. Das passt ja prima, nicht wahr?«
»Ich denke schon.« Kein zweifel: Dieser Mann war die Coolness in Person.
»Nun, ich möchte Ihnen meine Freundin vorstellen – Janis Joplin.«
Elvis konnte erkennen, dass Janis extrem nervös war. Aber da er sich wie mit allem anderen auch mit Frauen bestens auskannte, ergriff er ihre linke Hand. Er hob sie zu seinem Mund und hauchte einen Kuss auf ihre Finger.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Janis. Wie lautet dein richtiger Name?«
»FOTZE!«, schrie Janis.
Elvis runzelte die Stirn. »Das ist nicht so schön. Was haben sich deine Eltern gedacht, als sie dich so nannten?«
»Nein, nein, tut mir leid«, stammelte Janis. »Mein richtiger Name ist Janis. Ich wollte nicht den … den … Das wollte ich nicht. Es sind nur meine Nerven, die …«
»Nun, ich freue mich wirklich, dich kennenzulernen«, sagte Elvis und blickte ihr tief in die Augen.
»Ich freue mich auch, ARSCHGESICHT!«
Emily schaltete sich in die schüchtern aufblühende Romanze ein. »Pssst«, flüsterte sie. »Die Jury gibt gerade ihr Urteil über Freddie Mercury ab.«
Alle drei Juroren waren voll des Lobes. Powell ging sogar so weit, Freddie zu gestehen, dass er bisher der beste Interpret gewesen sei.
»Donnerwetter«, sagte Emily nachdenklich. »Er hat ihnen wirklich gefallen, nicht wahr?«
Elvis musterte sie. Ihm fiel auf, dass sie eine reizende, unschuldige und ungemein sympathische junge Frau war. Natürlich nicht sein Typ – Janis Joplin und ihr unflätiges Mundwerk waren mehr nach seinem Geschmack –, aber er konnte nicht umhin, froh zu sein, dass Emily es bis ins Finale geschafft hatte und nicht von Gabriel ermordet worden war. Noch nicht, jedenfalls.
»Wissen Sie was, Emily?«, sagte er. »Sie sind richtig in Ordnung.«
»Danke«, sagte sie und war über sein unvermitteltes Kompliment verwirrt.
»HURE!«, schrie Janis und hängte sofort ein zerknirschtes »Entschuldigung« an.
Elvis grinste. Janis war richtig amüsant. Genau sein Girl. Er hielt jedoch den Blick ein paar Sekunden länger auf Emily gerichtet, weil er nicht wollte, dass Janis mitbekam, dass er sich über ihr Gebrechen köstlich amüsierte. Abermals knipste er seinen legendären Charme an. »Nun, Emily, ich und Janis mögen ganz gut gewesen sein und unser guter alter Freddie Mercury hat seine Sache offensichtlich hervorragend gemacht, trotzdem glaube ich, dass Sie gewinnen. Wenn Sie wirklich so gut sind, wie alle sagen, dann schießen Sie am Ende den Vogel ab.«
Emily lächelte geschmeichelt. Dann massierte sie sich die Stirn. »Danke. Aber ich habe im Augenblick grässliche Kopfschmerzen.«
Janis streckte eine Hand aus und berührte die Stirn der anderen Frau. »Scheiße! Du hast da eine dicke Beule. Was ist passiert?«, fragte sie.
»Wenn du es unbedingt wissen willst, mir wurde der Kopf von einem Typen, der versucht hat, mich umzubringen, mehrmals auf den Fußboden geknallt.«
Elvis spürte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief. Hatte Gabriel demnach versucht, sie aus dem Weg zu räumen?
»Wie ist das passiert?«, wollte er wissen.
»Dieser große Motorradrocker mit dem rasierten Schädel wollte mich töten, aber ehe er dazu kam, erschien ein anderer Typ, um mich zu retten, und erschoss ihn. Um ganz ehrlich zu sein, ich bin immer noch ein wenig benommen – und nicht nur davon, dass mein Kopf so heftig malträtiert wurde.«
»Oh.« Elvis’ zurückhaltende Reaktion kaschierte seine Verwirrung über diese letzte Wende der Ereignisse. Demnach war Gabriel tot und Sanchez war verschwunden. Elvis musste nachdenken. Was ging hier vor? Und während er mit der Hand Janis Joplins Hintern tätschelte, kam ihm eine andere Frage in den Sinn. Konnte es sein, dass die gute alte Janis keinen Schlüpfer trug?
Während Elvis nach Antworten auf all diese wichtigen Fragen suchte, verließ Freddie Mercury die Bühne und kam zu ihnen herüber. Ein breites Lachen lag auf seinem Gesicht, da er die Freude über seinen Auftritt, die er mit ihnen teilen wollte, nicht verbergen konnte.
»Donnerwetter, habt ihr das gehört?«, fragte er sie. »Sie meinte, ich sei bis jetzt der Beste gewesen.«
»Schön für dich. Glückwunsch«, sagte Emily.
»MISTBOCK!«, schrie Janis.
»Sie findet dich auch gut«, sagte Elvis zu Janis’ Verteidigung.
»Danke«, sagte Freddie. »Wer ist überhaupt der Nächste?«
Elvis schaute sich suchend um. »Das sollte dieser Blues-Brother-Typ sein. Ich kann ihn aber nirgendwo sehen.«
Er fixierte Emily einige Sekunden lang nachdenklich, ehe er leise hinzufügte: »Vielleicht ist er ebenfalls verschwunden.«