FÜNFUNDVIERZIG

Nur wenige Stunden zuvor hatte Emily sich darüber gefreut, ins Finale gelangt zu sein. Da sie wusste, dass die anderen vier Finalteilnehmer ebenfalls schon vorher ausgewählt worden waren, hatte sich ihr schlechtes Gewissen, dass sie es so weit geschafft hatte, in Grenzen gehalten. Sie hatte Johnny Cash, Kurt Cobain, Otis Redding und sogar James Brown ein wenig näher kennengelernt. Aber da die ersten drei tot waren und der vierte, James Brown, höchstwahrscheinlich ihre Ermordung veranlasst hatte, hatte sie sich auf einige neue Finalisten einstellen müssen. Freddie Mercury und Janis Joplin waren freundlich und entgegenkommend gewesen und sie hatte sich auf Anhieb mit ihnen gut verstanden. Sie war außerdem ziemlich zuversichtlich, dass sie sie besiegen konnte.

Die beiden neuen Finalisten, denen man sie noch nicht vorgestellt hatte, waren Elvis und der Blues Brother. Zurzeit befand Elvis sich auf der Bühne und sang auf Teufel komm raus. Da sie sich der Notwendigkeit bewusst war, sich tunlichst ständig in der Nähe anderer Leute aufzuhalten für den Fall, dass der Killer es auch auf sie abgesehen hatte, nutzte Emily die Gelegenheit, um sich mit dem Blues Brother bekannt zu machen. Sie hatte eine oder zwei Minuten zuvor beobachtet, wie er hinter die Bühne ging, daher machte sie sich auf den Weg dorthin, um ihn zu suchen.

Als sie ihn fand, war er alleine und saß in einem der Polstersessel in einer Ecke und aß einige Hähnchenflügel von einem Pappteller auf seinem Schoß. Vor ihm standen ein niedriger Tisch und ein weiterer gemütlicher Sessel auf der anderen Seite. Da der Sessel frei war, ging Emily hinüber, um sich vorzustellen, obgleich sie gewisse Hemmungen hatte. Er trug noch immer seine Sonnenbrille, daher war nicht zu erkennen, ob sie ihm willkommen war oder nicht.

»Hi, ich bin Emily«, sagte sie lächelnd und streckte ihm eine Hand entgegen.

Der Blues Brother hatte den Mund voller Hähnchenfleisch und schluckte hastig die letzten Stücke hinunter. »Hi, ich bin Jacko«, sagte er freundlich. »Ich gebe dir lieber nicht die Hand. Meine Finger sind ganz fettig.«

»Das ist okay«, sagte Emily und zog ihre Hand zurück. »Was dagegen, wenn ich mich setze?« Sie deutete auf den Sessel ihm gegenüber.

»Überhaupt nicht.« Jacko stellte den Teller, der nun bis auf ein paar abgenagte Knochen leer war, auf den Couchtisch zwischen ihnen und griff nach einer Papierserviette, um sich die Hände abzuwischen.

Emily ließ sich nieder. »Bist du nervös?«

Jacko zuckte die Achseln. »Nicht wirklich. Und du?«

»Ein wenig.« Sie wünschte sich, dass sie seine Augen sehen könnte. »Du hast deine Sache vorhin wirklich gut gemacht.«

»Danke. Du aber auch. Du singst sicherlich schon lange, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe damit angefangen, weil ich als Kind meine Mutter immer in Nachtclubs auftreten sah.«

Jacko lächelte flüchtig. »Man vergisst niemals den Geruch, den man in der Nase hat, wenn man jemanden, der wirklich gut ist, in einem Club auftreten sieht, nicht wahr? Wenn sie einen verzaubern, dann hat man ständig den Drang, es selbst zu versuchen, um ihn wieder einzuatmen, diesen speziellen Geruch des Clubs, der einen an den denkwürdigen Auftritt erinnert, hm?«

»Genau das ist es.«

»Ja, ich weiß. Es ist eine Schande, dass Leute wie Nigel Powell das niemals begreifen werden. Er ist bloß ein Anzugträger, der versucht, diese Atmosphäre immer wieder aufs Neue zu erzeugen und damit Geld zu machen. Diese Show hat diesen magischen Geruch ganz sicher nicht. Dafür riecht es hier wie in einer Kloake.«

»Ja, kann schon sein. Aber es wäre trotzdem toll, wenn man gewinnt, oder etwa nicht?«

»Glaubst du?«

»Nun, ja. Du nicht?«

»Hey, es ist immer schön, wenn man gewinnt. Aber wenn man verliert, geht davon die Welt nicht unter.«

Emily konnte diesen Typen überhaupt nicht einschätzen. »Na schön, was ist denn mit dem Geld? Das wäre doch auch ganz schön, oder?«

Jacko beendete die Säuberung seiner Hände und legte die Serviette auf den Couchtisch. »Bist du nur deshalb hier? Wegen des Geldes?«

»Na ja, nein. Nicht nur wegen des Geldes.«

»Es geht dir auch um Ruhm, hm?« In der Art, wie er sprach, lag nichts Aggressives. Er drückte es nur so aus, dass es sich anhörte, als sei Emilys Streben nach Ruhm und Reichtum eine ziemlich oberflächliche Motivation.

»Versteh mich bitte nicht falsch«, sagte sie, als wollte sie sich verteidigen. »Die Aufmerksamkeit, die einem zuteilwird, ist sehr schön, aber das Geld ist wichtig. Es ist für meine Mutter bestimmt. Sie ist schwer krank, und das Geld würde ihr wirklich helfen.«

Jacko nickte lächelnd. »Klar. Ich weiß, was du meinst. Die Familie ist alles. Man muss sich um sie kümmern und für sie sorgen, selbst wenn man damit gegen seine eigenen Prinzipien verstößt, stimmt’s?«

»Was meinst du damit, dass ich gegen meine eigenen Prinzipien verstoße?« Sie spürte, wie ihr eine heiße Röte in die Wangen stieg.

Jacko wedelte mit der Hand in der Luft herum und deutete damit an, dass er den gesamten Zuschauerraum mit allem und jedem darin einschloss. »Ist dies wirklich der Grund, weshalb du mit dem Singen begonnen hast?«, fragte er. »Damit du irgendwann in einer Talentshow den Sieg erringst und viel Geld verdienst?«

»Bist du immer so direkt?«

»Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich frage mich nur, ob dies hier der Grund ist, weshalb du mit der Musik angefangen hast.«

»Nun, entweder schaffe ich es hier oder ich klappre weiterhin die Bars und die Clubs ab, wo ich gerade genug verdiene, um halbwegs über die Runden zu kommen.«

Jacko nahm die Brille ab. »Es ist eine durch und durch ehrenwerte Methode, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten«, sagte er lächelnd.

»Ja, das ist es wohl. Aber es macht einen nicht reich, nicht wahr?«

»Also geht es am Ende doch nur um schnöden Mammon, oder?«

Emily schüttelte lächelnd den Kopf. Dieser Jacko war ein wahrer Plagegeist. »Manchmal sieht es tatsächlich so aus«, gab sie leise zu. »Aber ganz ehrlich, ich liebe es, vor einem Publikum aufzutreten. Und was ist deine Begründung? Weshalb singst du?«

Jacko schaute zur Decke. »Ich habe mich selbst verloren. Habe total vergessen, weshalb ich eigentlich zur Musik gekommen bin. Dies hier, diese Show, ist nur ein schneller Weg zu Geld und Bewunderung. Man erspart sich damit die Ochsentour, nicht wahr?«

»Man verschleudert sein Talent und verkauft sich unter Wert, oder?«, meinte Emily trocken.

»Genauso ist es.«

»Demnach trittst du lieber in der Clubszene auf.«

Jacko seufzte. »Ja. Ich würde liebend gerne wieder in die Clubszene zurückkehren. Verrauchte Bars, das ist es, wo die magischen Momente stattfinden. Wo man auftritt, um seine nächste Mahlzeit zu bezahlen, und wo man genau weiß, dass das Publikum es einen sofort spüren lässt, wenn man versagt hat.« Er deutete in Richtung des Zuschauerraums. »Das Publikum da draußen würde auch noch einen Affen mit einem Banjo bejubeln, wenn er nur eine traurige Geschichte zu erzählen hat. In Clubs zu singen, das ist das wahre Leben.«

Er hatte Recht und Emily wusste es. »Ich stimme dir zu«, sagte sie. »Die glücklichsten Momente meines Lebens hatte ich in der Clubszene. Dorthin möchte ich irgendwann wieder zurück und meine eigenen Sachen singen, weißt du. Nicht jemand anderen imitieren. Das wäre einfach toll. Vielleicht kriege ich ja die Chance dazu, wenn ich hier gut abschneide. Im Augenblick wollen die Leute mich jedoch lieber als Judy Garland sehen.«

»Demnach verkaufst du dich unter Wert.«

»Tun wir das letztlich nicht alle?«

»Ja, das tun wir. Aber man kann sein Familiengold nur einmal verscherbeln.«

»Wie das?«

»Wenn man einmal seine Prinzipien verraten hat, gibt es kein zurück mehr. Man kann sich seine Glaubwürdigkeit nicht zurückholen, wenn man sie niemals besessen hat.«

»Ich habe mein Lehrgeld in den Clubs gezahlt«, verteidigte Emily sich.

»Ich auch, aber sieh uns doch mal an. Wir treten unter anderen Namen auf. So habe ich mir meine Karriere nicht vorgestellt. Ich meine, sieh mich an. Ich bin der absolute Versager. Die Blues Brothers waren kaum mehr als selbst eine Tribute-Band, und ich imitiere einen Tribute-Act, bin also die Kopie einer Kopie. Viel tiefer kann man eigentlich nicht mehr sinken, oder?«

Er schien aufrichtig zu bedauern, wie sich die Dinge für ihn entwickelt hatten. Zum ersten Mal wurde Emily bewusst, dass sie ihren Traum, eine eigenständige Sängerin zu sein, begraben hatte, um als Judy-Garland-Imitatorin den Dollars nachzujagen. Sollte sie diesen Wettbewerb gewinnen, wäre sie für immer abgestempelt. Als Star einer Realityshow würde sie niemals als etwas anderes glaubwürdig sein. Man würde sie stets nur als die Frau kennen, die sang wie Judy Garland. Aber das war der Preis, den sie für den ersehnten Erfolg zahlen müsste. Es hatte keinen Sinn, sich deswegen Vorwürfe zu machen.

»Ganz so schlimm ist es doch gar nicht, Jacko«, sagte sie und versuchte zuversichtlich zu klingen. »Wenn du gewinnst, kannst du all deine Träume wahr machen. Du kannst in die Clubszene zurückkehren und hättest keine Geldsorgen mehr.«

Jacko setzte seine Sonnenbrille wieder auf. »Weißt du, Emily, Träume werden wahr«, sagte er und stand auf. »Aber man muss dafür bezahlen.« Er lächelte sie an und fügte hinzu. »Ich muss mich jetzt frischmachen, denn ich bin einer Minute an der Reihe. Es war nett, mit dir zu reden.«

Emily dachte an ihre frühere Unterhaltung mit dem Bourbon Kid. Er hatte davon gesprochen, dass der Sieger dieses Wettbewerbs seine Seele an den Teufel verkaufen würde. Nun verstand sie, was er damit meinte. Es hatte offensichtlich eine rein metaphorische Bedeutung.

Oder etwa nicht?

Anonymus & Michael Kubiak - Das Buch Ohne Gnade
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