DREIUNDSECHZIGSTES KAPITEL

1. August 1764
Amboss-See, Neu-Tharyngia

 

 

 

Prinz Vladimir las Rivendells kurze Notiz noch einmal, dann musterte er den Lieftenant, der sie überbracht hatte. »Lhord Rivendell befindet sich in einer Besprechung und wünscht, nicht gestört zu werden? Aber meinen Koronel Zauder hat er zu dieser Besprechung geladen?«

Der Lieftenant, ein schlanker junger Mann, dessen Gesicht und Körper noch keine der Kanten eines Erwachsenen besaß, schüttelte den Kopf. »Ich kenne den Inhalt der Nachricht nicht, Hoheit. Ich hatte Order, sie zu überbringen und mich sofort zurückzumelden. «

»Ihr werdet hier warten.« Vladimir stampfte aus dem Zelt. »Graf von Metternin! Kapteyn Radband! Sofort zu mir!«

Der Prinz knirschte mit den Zähnen. Rivendell hatte sich von Anfang an wie ein Trottel benommen, aber sein Verhalten in den letzten achtundvierzig Stunden ging entschieden zu weit. Am 30. Juli hatte er dem Laureaten eine Einladung zu einem Diner zu Ehren des tharyngischen Befreiungstages in seinem Hauptquartier geschickt. Er hatte die Schwarzforst-Kapelle sogar angewiesen, die tharyngische Hymne einzustudieren.

Du Malphias hatte mit Bedauern abgelehnt und zur Begründung erklärt, die Feier mit seinen Männern begehen zu müssen. Er hatte jedoch die Offiziere, die an dem ersten Essen teilgenommen hatten, eingeladen, ihn in der Festung zu besuchen. Rivendell und sein Stab hatten die Einladung angenommen. Binsen hatte abgelehnt. Prinz Vladimir hatte angeboten, Graf von Metternin als Vertretung zu schicken, doch das hatte du Malphias’ Bote höflich zurückgewiesen.

Ich habe sofort gewusst, dass aus diesem Diner nichts Gutes erwachsen kann. Halb hatte er gehofft, du Malphias würde die Norillier vergiften. Dann hätte er den Befehl übernommen, sich zurückgezogen und Fort Hoffung zu einer soliden Festung ausgebaut. Er hätte kleinere Befestigungen auf den Bergen zu beiden Seiten errichtet und sich damit die Kontrolle über die erhöhten Stellungen gesichert.

Die Tharyngen hatten begeistert gefeiert und die Kanonen abgefeuert. Dem Schwefel beigemengte Chemikalien hatten für leuchtend rote und grüne Flammen gesorgt. Ryngische Mörser hatten Granaten abgefeuert, die mit glitzerndem Farbenspiel in der Luft explodierten. Zuvorkommend wie immer, hatten die Ryngen die Geschosse über den See gefeuert, damit kein Geschoss versehentlich auf die sie belagernde Armee stürzen konnte.

Vladimirs Männer hatten Tag und Nacht gearbeitet, um Gräben auszuheben und die Kanonen weiter voraus zu bewegen. Inzwischen waren sie auf achthundert Schritt an die Festung heran. Sie kontrollierten das Gelände, aber die Vorbauten hinderten sie daran, die Wände zu bombardieren. Dazu hätten sie noch zweihundert Schritt näher herangemusst. Der Prinz war sich ziemlich sicher, dass du Malphias das mit seinen Geschützen verhindern würde.

Owen erreichte ihn als Erster. »Ja, Hoheit?«

»Was wisst Ihr über Rivendells Handeln?«

Der jüngere Offizier schüttelte den Kopf. »Sehr wenig. Die Dinergäste haben gestern mit der Arbeit begonnen, sobald ihr Kater nachgelassen hatte. Niemand sonst erhält Zutritt. Warum, was hat er getan?«

»Uns alle ins Unglück gestürzt, darauf würde ich wetten.« Der Prinz nickte, als der Kesse ebenfalls hinzutrat. »Kommt, Sires, es ist höchste Zeit, Lhord Rivendell eine Visite abzustatten.«

Von Metternins Augen wurden schmal. »Rivendell hat an Malphias’ Köder angebissen?«

»Es sieht ganz danach aus.« Seit der Einladung schon hatte Vladimir eine Betrügerei befürchtet. Rivendells Verachtung für du Malphias machte ihn blind für die Täuschungsmanöver des Laureaten.

Der norillische Kommandeur hielt du Malphias für einen Ehrenmann von seinem Schlag. Da es für Rivendell undenkbar war, einen Gegner hinters Licht zu führen, betrachtete er es als gegeben, dass auch du Malphias keinerlei Hinterlist versuchte. Rivendell und sein Stab waren bereit, das Wort des Laureaten ungeprüft zu akzeptieren. Bei ihrem Besuch der Festung würden sie manches gesehen haben und sich für ihre Intelligenz und Aufmerksamkeit gratulieren, die es ihnen gestattet hatte, den Gegner auszuspionieren.

Auf den Gedanken, dass sie dort nur exakt das gesehen hatten, von dem du Malphias wünschte, dass sie es sahen, würden sie gar nicht kommen.

Auf dem Weg schaute Vladimir hinüber zur Festung. Kugeln und Granaten würden das weite Grün zwischen den Lagern schon sehr bald zerfetzen. Und die Männer, die es zu überqueren versuchten, ebenfalls. Er war zwar selbst noch nie Zeuge einer Kriegsführung in diesem Maßstab geworden, hatte aber genug darüber gelesen und mit genügend Männern gesprochen, die es überlebt hatten, um sich lebhaft ausmalen zu können, welches sinnlose Blutvergießen Rivendells Dummheit verursachen würde.

»Ich darf nicht zulassen, dass Rivendells Narrheit gute Männer ins Verderben treibt.« Der Prinz starrte den Soldaten an, der den Zelteingang blockierte. »Tretet beiseite, Soldat.«

Der Mann regte keinen Muskel. Stocksteif und mit steinerner Miene blieb er stehen, wo er war.

Owen trat einen Schritt zur Seite und schlitzte mit seinem Altashie-Obsidianmesser das Zelt auf. »Hier entlang, Hoheit.«

 

Owen hatte noch niemals eine solche Entschlossenheit auf dem Gesicht des Prinzen gesehen wie in diesem Moment, als er durch den Schlitz in der Zeltplane tat. Graf von Metternin folgte ihm, dann zwängte sich auch Owen hindurch. Das Zelt war in drei Abschnitte unterteilt, deren größter fast zwei Drittel der Fläche beanspruchte. Er diente Rivendell als Hauptquartier. Die beiden anderen Bereiche enthielten vor allem eine Koje und einen kleinen Esstisch.

Langford verließ den Kartentisch, um den sich Rivendell und die drei anderen Koronels versammelt hatten, um den Prinzen aufzuhalten. »Ihr dürftet nicht hier sein, Hoheit.«

Vladimir brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Stehen. »Genau deshalb muss ich es sein.«

Rivendell hob den Kopf. »Entfernt Euch, Hoheit. Ihr auch, Graf von Metternin. Koronel Langford, stellt Kapteyn Radband unter Arrest.«

»Welchen Irrsinn führt Ihr jetzt im Schilde, Johnny

»Dies ist eine militärische Angelegenheit, Hoheit. Ich befehle Euch, mein Hauptquartier zu verlassen.«

Der Prinz schlug mit der Faust auf den Tisch. Koronel Thornbury sprang mit einem Satz zurück und gestattete Owen, einen Blick auf die Karte zu werfen. Rivendell und seine Offiziere hatten Owens ursprüngliche Karte erheblich geändert. Sie hatten ein kleines Blatt Papier über die steinerne Zentralfestung gelegt, auf das sie Blumen und einen Baum gezeichnet hatten. Die Geschützstellungen waren noch an den korrekten Positionen, doch enthielten sie nur noch je zwei Kanonen statt vier. Neben den Kasernengebäuden hatten sie notiert, dass nur Bataillone der Platingarde dort einquartiert waren. Andere Anmerkungen führten einhundert Zivilisten als Arbeiter auf.

»Was ist das für ein Zerrbild?«

Rivendells Nasenlöcher weiteten sich. »Dies ist eine korrekte Karte der Fortresse du Morte. Man hat uns alles gezeigt. Sie ist jämmerlich unterbesetzt und verletzlich. Wir werden noch heute angreifen und du Malphias vernichten.«

Vladimir starrte ihn mit offenem Mund an. »Was hat er dort drinnen mit Euch angestellt?«

»Er hat uns brillante Konversation über militärische Strategie angeboten. Er versteht völlig, dass ein Verteidiger, will er Erfolg haben, über mindestens ein Drittel der Zahl angreifender Soldaten an eigenen Truppen verfügen muss. Er ist noch immer zuversichtlich, uns aufhalten zu können, doch ihm fehlen dazu die erforderlichen Mittel.«

Der Kesse betrachtete die Karte. »Ihr habt nur zwei Kanonen pro Batterie eingezeichnet.«

»So viele befinden sich dort, Sire, und nicht mehr.«

»Ihr zeigt aber zwei Geschütze in jeder Batterie, einschließlich denen an der seewärtigen Wand. Kann du Malphias diese Kanonen nicht einfach an die Nordseite verlegen?«

»Er verfügt nicht über das notwendige Personal, sie abzufeuern. Sechs Batterien zu vier Kanonen, mit jeweils vier Mann, um sie zu bedienen. Das würde eines seiner Bataillone komplett für die Geschütze abstellen und ihm nur noch zwei zum Schutz der Wände lassen. Und er muss eine breite Front von Wänden verteidigen.«

Der Kesse runzelte die Stirn. »Er wird Männer von den Wänden abziehen, die wir nicht angreifen.«

Rivendell schüttelte den Kopf. »Wir halten Thornburys Kavallerie in Reserve, damit sie eine sich öffnende Schwachstelle attackieren kann.«

Der Prinz beugte sich vor und tippte mit dem Finger auf die Truppenschätzungen. »Ihr habt die Ungarakii vergessen, die er zur Verfügung hat.«

»Es befinden sich keine Zwielichtvölker in der Festung.«

»Sie befinden sich sehr wohl dort.« Vladimir deutete zum See. »Meine Männer haben das Ufer bewacht. Wir haben die Ankunft von fast zweihundert Kriegern gezählt. Ich habe Euch entsprechende Berichte zukommen lassen.«

»Langford, habe ich derartige Meldungen erhalten?«

»Ja, Sire. Ihr habt sie als unzuverlässig und ohne Relevanz beurteilt.«

Rivendell lächelte. »Seid Ihr nun zufriedengestellt?«

»Was ist mit den Pasmortes? Ihr wisst, dass man sie nicht töten kann.«

Thornbury trat vom Tisch zurück. »Die Zivilisten in der Festung waren nur Frauen und Kinder, sowie ein paar alte Männer. Sie sind allesamt Nonkombattanten.«

Owen konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Diese Zivilisten haben Eure Kavallerie angegriffen!«

»Der Lindwurm hat die Leichen verschlungen. Daher wissen wir nicht, wer sie waren.«

Der Prinz rieb sich die Stirn. »Warum habt Ihr die zentrale Befestigung gestrichen?«

»Sie ist mit Bäumen und Blumen bepflanzt und ohne Bedeutung. «

Er klopfte auf eine andere Stelle der Karte, an der sich der Eingang zu den Kavernen hätte befinden müssen. »Und dieses Gebäude hier?«

»Ein Lagerschuppen.« Rivendell posierte selbstgefällig. »Ich habe verlangt, das Innere zu sehen, und in der Tat eine in den Berg gegrabene Kammer vorgefunden. Es war der Weinkeller des Laureaten. Ich werde mir von dort den angemessenen Tropfen holen, um unseren Triumph zu feiern.«

Der Prinz starrte ihn an. »Und Eure brillante Strategie besteht darin, mit unseren Männern auf die Festung zuzumarschieren und über die Palisaden zu stürmen?«

»So ist es. Wir verfügen über mehr als das Dreifache seiner Truppen.«

Graf von Metternin legte dem Prinzen die Hand auf die Schulter. »Lhord Rivendell, das Verhältnis von drei zu eins ist das allgemein akzeptierte Minimum, um einen befestigten Gegner besiegen zu können. Es garantiert jedoch keineswegs einen Sieg.«

»Mein lieber Lhord Graf, Ihr vergesst, dass wir von norillischen Truppen sprechen.«

Wieder hämmerte Vladimir auf den Tisch. »Nein, Ihr Narr, Ihr redet von Menschen. Von Männern, die du Malphias’ Kanonen in Stücke reißen werden, während sie vorwärtsmarschieren. Seine Kartätschenmunition wird die Sturmleitern hinwegfegen und die Grabenbrücken zertrümmern.«

Rivendell lachte. »Eben darum hat man den Befehl über diese Expedition einem Militär übertragen, Prinz Vladimir. Anthony, teilt ihm mit, was Ihr gesehen.«

Koronel Exeter setzte ein selbstgefälliges Schmunzeln auf. »Während ich eine der Batterien untersuchte, habe ich sowohl die Höhe der Lafette wie auch die Höhe der Schießscharte gemessen. Eine simple Frage der Geometrie. Es ist unmöglich, die Geschütze weit genug zu senken, um irgendetwas auf den Glacis zu beschießen.«

»Mein Gott, Mann, glaubt Ihr ernsthaft, das weiß er nicht?« Vladimir stieß den Zeigefinger in Richtung der Festung. »Glaubt Ihr, er besäße keine Äxte, um die Schießscharten zu vertiefen?«

Exeter kicherte. »Wir werden so schnell über ihn kommen, dass er keine Zeit dazu hat.«

Der Prinz stieß einen tiefen Seufzer aus. »Euer Feind ist kein Narr.«

Lhord Rivendell lächelte stolz. »Das bin ich auch nicht, Hoheit. Ich bin ein Genie. Nicht wahr, Langford, ist das nicht die reine Wahrheit?«

»Ja, Sire.«

»Und mein Genie wird triumphieren. Wir marschieren um ein Uhr.«

Vladimir schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht zulassen.«

»Ihr seid ein Zivilist. Ich habe den Befehl über Eure Leute. Koronel Zauder, Ihr werdet Eure Männer Sturmleitern und Grabenbrücken anfertigen lassen. Exeter, leiht ihm dafür eine Reihe Eurer Pioniere.«

Exeter salutierte zackig. »Ja, Sire.«

Owen sah die Miene des Prinzen versteinern. Eine Katastrophe stand bevor, daran war kein Zweifel möglich. Sein Magen verkrampfte sich. Er würgte seinen aufsteigenden Mageninhalt zurück. Ich muss etwas unternehmen. »Bitte um die Erlaubnis, mich Koronel Zauders Einheit anschließen zu dürfen, mein Lhord.«

Rivendells verächtliche Miene schnitt wie eine Klinge aus Eis durch Owens Eingeweide. »Abgelehnt. Ihr steht unter Arrest.«

Vladimir hob den Kopf. »Wie lautet die Anklage?«

»Insubordination. Einem Offizier gegenüber unwürdiges Verhalten. Zerstörung des Eigentums Ihrer Majestät.« Rivendell zog eine Taschenuhr, klappte den Deckel auf und schloss ihn wieder. »Ich sollte ein Kriegsgericht einberufen, doch ist die Zeit dafür zu knapp. Anthony, ein Trupp Eurer Vierten soll Kapteyn Radband in Verwahrung nehmen. Schlagt ihn vor meinem Zelt in Eisen. Er soll zuschauen und sich wünschen, er dürfte einen Platz auf dem Feld des Ruhmes beanspruchen.«

Der Prinz knurrte. »Das ist unerhört, Sire!«

»Es ist notwendig, Sire.« Rivendell ließ die Uhr zurück in die Westentasche gleiten. »Vielleicht werde ich mich in Siegerlaune großzügig erweisen. Ich glaube es kaum, doch das ist das Schöne daran, ein Genie zu sein. Ich bin unberechenbar. Ich wünsche noch einen angenehmen Tag, Hoheit.«

Der Prinz setzte an, etwas zu erwidern, aber der Graf packte seinen Arm und zog ihn durch den Schlitz zurück ins Freie. Er warf noch einen letzten Blick zurück auf Owen, aber der schüttelte den Kopf. »Macht Euch keine Sorgen um mich.«

»Der Gefangene hat zu schweigen!«

Owen blickte Rivendell ins Gesicht, und der Edelmann lächelte. »Ihr habt Eure Orders, Sires. Wir haben drei Stunden. Bitte sorgt dafür, dass alles bereit ist.«

Exeter, Thornbury und Zauder gingen. Langford warf Lhord Rivendell einen fragenden Blick zu. »Soll ich noch bleiben, Sire?«

»Nein, Koronel. Was ich Kapteyn Radband zu sagen habe, ist nur für seine Ohren bestimmt.«

Langford zog sich schnell zurück. Rivendell umkreiste Owen langsam. Es war offensichtlich dazu gedacht, ihn einzuschüchtern, wie ein Raubtier, das sich um seine Beute bewegt. Die Tatsache, dass er so immens stolz auf sich war und unfähig, sein Lächeln zu unterdrücken, nahm der Geste jedoch alles Bedrohliche. Er ging zwei Mal langsam und schweigend um Owen herum. Bei der dritten Umkreisung schließlich sprach er.

»Wisst Ihr, Kapteyn Radband, Ihr hättet an meiner Stelle sein können. Nun ja, eigentlich nicht so ganz, da Euch die Abstammung fehlt, doch Ihr hattet die Rückendeckung einer überaus mächtigen Familie. Hättet Ihr Euren Wert bewiesen, hättet Ihr Erfolg in der Armee gehabt. Ihr hättet es zum Major oder Koronel bringen können. Ihr hättet einer der Offiziere sein können, die dort draußen in die Annalen marschieren werden.«

Owen neigte den Kopf. »Gesprochen, als hättet Ihr vor, Euch an die Spitze Eurer Truppen zu setzen.«

»Oh, ich werde sie anführen, anführen werde ich sie. Ich bin schließlich ein Rivendell, nicht wahr?« Der Mann blieb vor Owen stehen. »Leute wie Ihr könnt jemanden wie mich nicht verstehen. Ihr seid unfähig, wahres Genie zu erfassen. Ihr fürchtet, was Ihr nicht versteht. Diese Furcht kennzeichnet Euch als Feigling.«

Rivendell ging zurück zum Tisch. »Nach dem Diner haben der Laureat und ich uns privat unterhalten. Über Euch. Er sagte mir, dass er Euch die Spionage vergeben hat und die volle Absicht hatte, Euch nach Port Maßvoll zurückzubringen, sobald Ihr genesen wart. Er war froh, zu erfahren, dass Ihr sicher zurückgekehrt seid und Ihr die Suchtrupps, die er Euch nachsandte, völlig missverstanden habt. Er war besorgt, dass Ihr in Eurem geschwächten Zustand einen Schneesturm nicht überleben würdet.«

Owen bekam eine Gänsehaut. Er wollte Rivendell fragen, ob er du Malphias ernsthaft glaubte, aber dessen Miene machte jede Frage überflüssig. Eine tiefe Müdigkeit überkam Owen. Er wollte sich einfach nur noch hinlegen und sterben.

Nein, ich muss stark sein. Für Katherine.

»Ihr solltet auch wissen, Kapteyn, dass ich Euch einen Platz in vorderster Reihe reserviert hatte, um Euch die Gelegenheit zu geben, Eure Ehre wiederzuerlangen, doch der Laureat persönlich bat mich, davon abzusehen. Er sagte mir, dass er Euch als Freund betrachtet. Er wollte nicht zum Werkzeug Eures Todes werden. Um diesen einen Gefallen bat er mich.«

»Selbstverständlich tat er das.«

»Ich habe Euch keine Erlaubnis erteilt zu antworten, Kapteyn. «

»Erlaubnis zu antworten, Sire.«

»Nein, Kapteyn, Ihr würdet die Gelegenheit nur dazu benutzen, die Ehre eines Mannes zu beflecken, der Euch maßlos überlegen ist.«

Owen begegnete Rivendells Blick und hielt ihn, bis dieser sich abwandte.

»Von mir aus, Kapteyn.«

»Mit dieser Bitte wollte du Malphias mir zeigen, dass er mein Leben noch immer kontrolliert. Falls ich sterbe, dann durch seine Hand, nicht durch das Schicksal auf dem Schlachtfeld. Er legt es darauf an, mich zu erniedrigen, und nachdem er Euch besiegt hat, wird er mich töten, wann und wie es ihm beliebt.«

»Das«, erwiderte Rivendell, »braucht weder Euch noch ihn umzutreiben. Heute Abend wird La Fortresse du Morte mein sein, und Eurer beider Namen werden dem Vergessen anheimfallen. «

Vladimir riss sich wütend los. »Ich bin kein Kind, mein Lhord!«

»Dann solltet Ihr Euch auch nicht wie eines aufführen, Hoheit«, erwiderte von Metternin.

Der Prinz schleuderte ihm einen giftigen Blick zu. »Ist es kindisch, darauf hinzuweisen, dass dieser Idiot mit seinen Plänen Hunderte meiner Männer umbringen wird? Du Malphias hat seine Höhlen mit Ungarakii, Pasmortes und dem Rest der Platingarde besetzt. Die Zentralfestung besteht unter den Blumen und Bäumen weiter. Ihr selbst habt darauf hingewiesen, dass die Kanonen umgesetzt werden können. Ist Euch nicht bewusst, welch ein Gemetzel uns bevorsteht? Oder berührt es Euch nicht, weil es nicht Eure Landsleute sind?«

Graf von Metternins Miene versteinerte, und Vladimir erkannte, dass er zu weit gegangen war. »Falls Ihr glaubt, Prinz Vladimir von Norisle, dass mich das Leben der Männer, mit denen ich die letzten eineinhalb Monate gemeinsam geschwitzt, gearbeitet, gelebt und gelacht habe, nicht berührt, seid Ihr ein jämmerlicher Menschenkenner und möglicherweise um nichts klüger als der Volltrottel, dessen Zelt wir soeben verlassen haben. «

Vladimir nickte. »Vergebt mir, mein Lhord. Möglicherweise handele ich wirklich kindisch. Doch was soll ich tun?«

»Für Euch gibt es hier nichts zu tun, mein Lhord.«

»Wie könnt Ihr das sagen?«

Von Metternin lachte gezwungen. »Wir saßen von dem Augenblick an in der Falle, als Euer Bericht nach Norisle abging, Hoheit. Das Parlament hat seine Entscheidungen aufgrund interner Grabenkämpfe getroffen, ohne sich dabei in irgendeiner Weise von Eurem Bericht beeinflussen zu lassen. Todeskamm und seine Fraktion waren bereit, Rivendell mit dieser Mission zu betrauen, weil sie wussten, dass er versagen wird. Und Rivendell gewinnt, solange er nicht im Kampfe fällt. Allein schon es hierher zu schaffen, ist ein Sieg. Man wird sein Versagen der Unfähigkeit der mystrianischen Truppen anlasten. Seine Karriere wird leiden, doch nicht die irgendeines seiner Unterstützer. Er ist ein Bauer, den beide Seiten nur zu gerne opfern.«

Die beiden Männer gingen den Hang hinauf zum Wurmstand. »Aber meine Männer, meine sehr realen Männer aus Fleisch und Blut, werden für dieses Schachspiel sterben.«

»Ihr müsst verstehen lernen, dass die Mächtigen die Dinge anders sehen als wir. Sie haben andere Begriffe von Gewinn und Verlust. Wenn sie hier einen edlen Spross verlieren, spielt das keine Rolle. Sein Tod wird ehrenvoll sein, und sie werden um ihn trauern, wie man es von ihnen erwartet. Was die einfachen Soldaten betrifft, die auf dem Schlachtfeld bleiben, die sind ihnen gänzlich gleichgültig. Die meisten stammen aus den unteren Klassen, sind Diebe und Trunkenbolde, die ohnehin keine Zukunft haben. Viele, und dies gilt für Eure Mystrianer, stammen nicht einmal aus Norisle. Wen kümmert es, ob ihr Blut vergossen wird?«

»Ihr wollt sagen, sie spielen ohne Einsatz.«

»Es ist noch weit schlimmer, mein Freund.« Der Graf blieb auf der Hügelkuppe stehen und schaute hinüber zur Festung des Todes. »Sie kennen das Ergebnis bereits. In gewisser Weise hat Norisle bereits gesiegt, weil Ihr die Straße hierher gebaut habt. Man wird sie im nächsten Jahr oder dem Jahr darauf benutzen, um diese Bedrohung doch zu eliminieren. Aber wenn die Schlacht hier verlorengeht und Mystrianer dabei fallen, haucht das zwei Mythen neues Leben ein. Der erste Mythos ist, dass Mystrianer nicht kämpfen können. Er wird auch hier Wurzeln schlagen und in Norisle noch sehr viel wilder wuchern. Die Nachricht von Major Forsts Scheitern bei dem Versuch, Fort Cuivre einzunehmen, wird das Ganze nur noch verschlimmern. Der zweite Mythos, und der für den Herzog Todeskamm sehr viel wichtigere, ist der von Mystrias Verwundbarkeit. Die Menschen hier werden die Bedrohung spüren und glauben, nur norillische Truppen könnten sie davor retten. Sie werden das Eintreffen zusätzlicher Truppen feiern, und die Anwesenheit dieser Truppen wird dem Herzog gestatten, jeden Anklang aufkommender Unabhängigkeitsgelüste zu ersticken. Er wird die Veröffentlichung von Büchern wie ›DIE BERUFUNG EINES KONTINENTS‹ verbieten, und jeder, der auch nur an Unabhängigkeit denkt, wird zum Sympathisanten du Malphias’ erklärt werden. Es ist ein höchst einfacher Prozess, der Mystrias Zukunft auslöschen wird.«

Vladimir schüttelte den Kopf. »Das hier ist nicht einmal ein Spiel, es sind nur die Vorbereitungen für das nächste Spiel?«

»Elegant ausgedrückt, Hoheit.«

Der Prinz schaute über das Schlachtfeld. Es fiel ihm nicht schwer, es sich als Karte in einem Buch vorzustellen. Aus Menschen würden Quadrate mit Einheitsbezeichnungen werden. Große Pfeile würden Angriffsrichtungen kennzeichnen. Gepunktete Linien würden Rückzugsbewegungen markieren. Irgendwo würde eine Tabelle Verlustzahlen aufführen. Er konnte einen Bericht verfassen, der die Umstände, die zu der Katastrophe geführt hatten, exakt aufführte, aber Rivendell würde ein neues Buch schreiben. Vladimirs Kritik würde als erneuter Versuch gelten, die mystrianische Unfähigkeit, effektiv Krieg zu führen, zu beschönigen.

»Die einzige Wahl, die mir noch bleibt, besteht also darin, zurückzugehen und Rivendell zu erschießen, oder hierzubleiben und meine Beobachtungsgabe dazu zu nutzen, eine vollständige und wahrheitsgetreue Chronik der Ereignisse zu verfassen?«

»Ich bin ebenso verärgert darüber wie Ihr, Hoheit. Möglicherweise noch mehr.« Von Metternins Augen wurden schmal. »Rivendell wird ein Desaster anrichten, jedoch könnte es einen Weg geben, die Katastrophe zu vermeiden. Wir kennen ihn schon die ganze Zeit.«

»Und der wäre?«

Der Kesse deutete zum höchsten Punkt der Festung. »Die Klippenfestung. Würden wir unsere Truppen zu einem direkten Angriff dort konzentrieren, könnte du Malphias nicht all seine Kanonen auf unsere Flanke richten. Wir brechen an einer Stelle durch, dringen in die Festung ein und nutzen diese Position zu einem Angriff abwärts in die Festung des Todes.«

»Wir sind also wieder bei unserem ursprünglichen Plan angelangt, nur diesmal ohne unsere Bergsteiger.« Vladimir seufzte. »Dafür hat Todeskamm gesorgt.«

»Was uns zurück zu unseren zwei Alternativen bringt, Hoheit. Möchtet Ihr, dass ich einen Tisch und Stühle hole, damit wir uns Notizen machen können, während wir das Desaster beobachten, oder soll ich eine Pistole laden und uns ein Alibi besorgen?«

 

Owen spießte Serjeant Unstone mit einem giftigen Blick auf. »Ich habe Euch mein Wort als Offizier und Ehrenmann gegeben, dass ich nicht fliehe.«

Der Unteroffizier hielt ihm die Handschellen hin. »Bitte, Sire. Es ist nicht als Respektlosigkeit gemeint.«

»Habt Ihr vergessen, was vor kurzem erst geschah? Wer hat Euch gesagt, wie man die Pasmortes umbringt? Wer hat Seite an Seite mit Euch gestanden?«

»Ihr, Sire.«

»Allerdings.« Owen zeigte dem Mann eines seiner Handgelenke. »Seht Ihr diese Narben, Unstone? Als ich in ebendieser Festung gefangen war, haben die Ryngen mich in Eisen geschlagen. Das haben sie getan, um mich zu erniedrigen. Und genau das will Rivendell mir nun antun.«

»Sire, ich habe Order.«

»Man wird Euch nicht der Befehlsverweigerung anklagen, Serjeant. Man wird mich der Flucht beschuldigen. Das werde ich seiner Lhordschaft deutlich machen. Ihr braucht es nur zu bestätigen, und alles ist gut.«

Der Serjeant, dessen Gesicht mehr als eine Narbe aufwies, schaute zu seinen Leuten, dann ließ er die Handschellen sinken. »Ich werde nicht lügen, Sire.«

»Ihr seid ein guter Mann, Serjeant.«

Owen legte die Hände auf den Rücken und schaute zu, wie sich die Truppen sammelten. Unwillkürlich schüttelte er sich beim Gedanken an das bevorstehende Desaster. Das Vierte formierte sich bataillonsweise, vier in der Frontlinie, eines in Reserve. Die Kavallerie hielt die rechte Flanke am Flussufer, aber ohne Pferde stellte sie gerade zwei Bataillone Fußtruppen. Da sie mit Karabinern bewaffnet waren, hatten sie zudem nur eine effektive Schussweite von dreißig Schritt, was sie zusätzlich schwächte. Und da sie keine Ausbildung in Infanterietaktik besaßen, reduzierte das ihren Wert noch weiter. Ein intelligenter Kommandeur hätte eines ihrer beiden Bataillone als Reserve zurückbehalten und mit dem anderen Lücken in der Schlachtreihe gestopft.

Auch die Mystrianer verfügten über vier Bataillone zu Fuß und eines in Reserve. Owen schüttelte den Kopf. Sie hatten keine echten Uniformen und wirkten mehr wie ein Schlägerhaufen denn wie eine Militäreinheit. Ihre Formation war krumm und schief, aber sie deckten vierhundert Schritt Frontlinie ab, ebenso wie die Vierte Infanterie.

Sechzehnhundert Seelen auf dem Marsch in die Hölle. Zwei Trupps pro Bataillon waren mit Sturmleitern und Grabenbrücken ausgerüstet. Diese Männer würde die Festung als Erste erreichen. Selbst wenn Rivendells Träumerei, die Kanonen könnten nicht weit genug abgesenkt werden, sich als wahr herausstellen sollte, würden eine Menge Soldaten sterben, lange bevor sie die Vorbauten erreichten.

Ein Stück weiter links trat Rivendell aus seinem Zelt. Er trug seine rote Satinuniform und wurde von Bischof Binsen begleitet. Exeter und Thornbury begrüßten ihn, salutierten und meldeten sich zu ihren Einheiten ab. Rivendell ging zu einem Trompeter hinüber und gab dem Mann einen Befehl.

Dieser blies ein Bereitschaftssignal, das die Trompeter entlang der Linie übernahmen. Trommler, Knaben die meisten von ihnen, setzten zu einem gleichmäßigen, rhythmischen Schlag an. Die Norillier rollten die Regimentsfahnen aus und stimmten ein Hurra an. Die Mystrianer hatten keine Regimentsfahnen, also jubelten sie nur und schwenkten die Hüte. Die Dudelsackspieler der Schwarzforst-Kapelle bliesen ihre Instrumente auf, und alle Mystrianer hielten sich ein wenig gerader.

Die Melodie der Trompeter änderte sich. Vorwärts! Der gellende Klang hallte von den Wänden der Festung des Todes wider. Auf dieses Signal setzten sich die Bataillone in Bewegung. Die norillische Artillerie feuerte eine Salve. Eisenkugeln flogen über das Feld, nur um an den Glacis-Vorbauten abzuprallen und in hohem Bogen über die Festungswände zu fliegen. Owen konnte nur hoffen, dass zumindest ein Teil von ihnen im Innern der Festung herunterkam und ein paar wartende Truppen erschlugen.

Die tharyngische Antwort schnitt durch die norillischen Linien, wo sich die Vierten Fußtruppen und die Kavallerie trafen. Die eisernen Kugeln schlugen durch die Reihen. Ein Dutzend Mann ging zu Boden. Die Glückspilze starben auf der Stelle, in zwei Stücke gerissen oder geköpft. Die Verwundeten krallten sich bei dem vergeblichen Versuch in den Boden, ihre abgerissenen Beine zu erreichen, oder saßen benommen herum, ohne zu begreifen, warum einer ihrer Uniformärmel plötzlich in nassen Fetzen am Ellbogen endete.

Selbst auf diese Entfernung bohrten sich die Schmerzensschreie in Owens Schädel.

Alle sechs tharyngischen Batterien konzentrierten ihr Feuer auf die Norillier. Du Malphias hatte sie alle mit zwei zusätzlichen Kanonen verstärkt und offenbar nicht die geringsten Probleme, sie zu bemannen. Die Auswahl der Ziele hätte Owen als Zeichen der Verachtung für die Mystrianer ausgelegt, wären die Vierten Fußtruppen nicht ohne jeden Zweifel die gefährlichste Streitmacht auf dem Schlachtfeld gewesen. Falls du Malphias das Feuer jetzt auf sie konzentrierte, konnte er die Mystrianer mit Kartätschenmunition niedermähen, sobald sie nahe genug heran waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die Festungswände nie erreichen.

Aber es waren nicht die Mystrianer, die als Erste der Mut verließ. Owen deutete auf die Kavallerie. Zwischen den beiden Bataillonen und der Infanterie klaffte eine Lücke. »Thornbury treibt seine Männer nicht vorwärts.«

Serjeant Unstone trat neben ihn. »So eine Lücke schadet nur, wenn die Tharyngen die Truppen haben, sie auszunutzen. Der Koronel meint …«

»Der Koronel glaubt nicht, dass du Malphias Truppen zur Verfügung hat. Falls er damit richtigliegt, ist die Lücke ohne Bedeutung. Falls er sich irrt, ist die Schlacht verloren.«

Plötzlich ertönten Schüsse im Wald westlich des Flusses, wo ein mystrianisches Bataillon die Flanke schützen sollte. Owen stellte sich auf die Zehenspitzen, um erkennen zu können, was geschah, sah aber nur Rauch zwischen den Bäumen aufsteigen. Ihr wart noch verschlagener, als wir befürchtet haben!

Owen drehte sich zu einem der Soldaten um. »Bringt Rivendell eine Nachricht. An der rechten Flanke ertönen Schüsse. Die Mystrianer im Wald werden angegriffen. Du Malphias hat Truppen dort, die auf Höhe der Fähre übersetzen wollen, um der Kavallerie in die Flanke zu fallen.«

Der Mann schaute zu seinem Serjeanten. Unstone schickte ihn mit einem kurzen Nicken auf den Weg.

Die Kavallerie reagierte bereits auf den Kampflärm am anderen Flussufer und drehte sich. Thornbury befahl seine Reserveeinheit an den Fluss. Die zum Angriff eingeteilte Einheit formierte sich neu und zog sich zurück, um als Reserve für die Soldaten am Flussufer zu fungieren. Das unbeholfen und völlig konfus durchgeführte Manöver entblößte die Flanke des Vierten Infanterieregiments komplett.

Der Soldat erreichte Rivendells Position, aber Langford hielt ihn auf, bevor er den Kommandeur ansprechen konnte. Er schickte den Soldaten wieder zurück und drehte sich zu Rivendell um. Die beiden Männer lachten, dann schauten sie weiter zu, wie die tharyngischen Kanonen die Männer unter ihrem Befehl zerfetzten.

 

Die Mystrianer waren tapfer den Hang zur Klippenfestung emporgestürmt, angespornt von den Schwarzforst-Musikern. Dann eröffnete die Geschützbatterie vor ihnen das Feuer. Kartätschenmunition forderte im Dritten Bataillon Opfer gleich in mehreren Gliedern, doch die Überlebenden stürmten weiter. Ein Mann am Rand der Formation brüllte Befehle, und das Dritte rannte weiter.

Die beiden anderen Bataillone zögerten und fielen zurück. Wieder krachten die Kanonen und nagten am Zweiten Bataillon. Ein Dutzend Mann ging zu Boden. Die hinteren Reihen drehten um und flohen. Das Erste und Vierte Bataillon wurden langsamer, dann blieben sie stehen.

Graf von Metternin schüttelte den Kopf. »Man kann es ihnen nicht verübeln.«

»Ich weiß.« Vladimir zerbrach einen Bleistift zwischen den Fingern. »Aber ich muss sie aufhalten.«

Der Kesse schaute ihn an. »Was könnt Ihr tun? Wenn Ihr dort hinuntergeht, werdet Ihr sterben.«

»Aber ich muss etwas unternehmen. Seht es Euch an.« Der Prinz stand auf und deutete in Richtung des Dritten Bataillons. »Der Hang, die Glacis. Die Kanonen vor ihnen können sie nicht erreichen. Aber die anderen werden sie niedermähen, sobald sie die Norillier vernichtet haben. Das Dritte sitzt in der Falle, und ich kann die Männer dort nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.«

Der Graf griff über den Tisch und packte Vladimirs Arm. »Ihr werdet eine Dummheit begehen und das Leben verlieren. Und ich muss es dann Prinzessin Gisella sagen.«

»Kommt mit.« Vladimir lächelte ihn zuversichtlich an. »Wenn Ihr einverstanden seid, es zu versuchen, kann es so dumm nicht sein.«

Der Graf stand auf. Die beiden Männer rannten zum Wurmstand, und der Graf keuchte: »Das ist Wahnsinn, kompletter Wahnsinn. Niemand hat …«

Entsprechend den Experimenten, die der Prinz im Frühjahr durchgeführt hatte, war vor den Sätteln ein Metallgerüst montiert worden. Es bestand aus einer anderthalb Fuß hohen Stahlstange, an der mit vier Sprossen parallel zum Boden eine zweite, halbrunde Stange befestigt war. In der Mitte des Bogens erhob sich ein sechs Zoll hoher Dorn.

Auf der senkrechten Stange war ein drehbarer Einpfünder montiert, gesichert mit einer wasserdichten Lederhülle und einem Korkstopfen. Der Ladestock war an einer drehbaren Führung befestigt, damit er in der Hitze des Gefechts nicht verlorengehen konnte. Der Mitteldorn verhinderte das Abfeuern der Kanone direkt nach vorn, so dass der hintere Schütze nicht den Reiter treffen konnte und der Reiter nicht Magwamps Kopf. Ölzeugsatteltaschen vor und hinter den Beinen der Reiter enthielten fertig vorbereitete Pulverladungen und Kugeln für die Waffen.

Der Prinz zog sich in den Sattel. »Bäcker, sucht Koronel Zauder. Er soll auf mein Zeichen die Klippenfestung stürmen.«

Der Wurmwart stierte zu ihm hoch. »Ein Zeichen, Hoheit?«

»Er wird es erkennen. Geht.«

Vladimir drehte sich im Sattel um und lachte von Metternin an. »Benutzt beim Nachladen den Mündungsdorn, um die Hüllen der Ladungen aufzuschlitzen. Es handelt sich um Kartätschenmunition, die speziell darauf ausgelegt ist, Pasmortes niederzustrecken. «

Von Metternin schüttelte lachend den Kopf. »Das ist nicht einfach dumm, Hoheit, das ist von spektakulärer Dummheit.«

»Nur, falls wir dabei sterben, mein Lhord.« Der Prinz grinste und schlug Magwamp den Absatz in die Seite. »Wir reiten nun los, die Mystrianer zu retten. Zum Teufel mit allen anderen!«

 

Als der Soldat zurück war, hatte sich die Situation bereits deutlich verschlimmert. Auf der linken Seite stockte der Vormarsch der Mystrianer. Ein Bataillon saß in der Nähe der Klippen in der Falle. Sobald ein Trupp vorzurücken versuchte, wurde er von den Kanonen zerfetzt. Die Überlebenden duckten sich und ahnten nicht, dass die tharyngischen Kanonen, die jetzt noch damit beschäftigt waren, die Vierten Fußtruppen zu vernichten, umschwenken und sie vom Hang fegen würden, sobald sie damit fertig waren und der Qualm sich weit genug verzogen hatte, um ihnen das Zielen zu gestatten.

Von rechts ertönten immer noch Schüsse, sporadisch, aber stetig. Owen konnte in dem Gefechtslärm keinen Sinn erkennen, und der vom Schlachtfeld herübertreibende Rauch machte es schwierig, irgendetwas zu erkennen.

In der Mitte der norillischen Linien hatte die Zweite Kompanie es tatsächlich bis zur Festungswand geschafft. Die Dritte schob sich nach rechts und löste sich von den Mystrianern, um der Zweiten durch den Wald aus Stacheln zu folgen. Brücken legten sich über die Gräben. Sturmleitern lehnten an der Wand. Soldaten machten sich an den Aufstieg, und dann erschien die Platingarde auf den Wehrgängen. Ihr Feuer war von tödlicher Präzision. Musketenkugeln fegten die Männer von den Leitern. Bajonette zuckten abwärts. Auch norillische Flinten feuerten und töteten Tharyngen. Mehrere Leichen hingen über den Palisaden, aber weit mehr Rotröcke fanden den Tod.

Dann sah Owen es. Auf der rechten Seite. »Dort. An der Ecke sammeln sich tharyngische Truppen.«

Unstone schaute hinüber zu Rivendell. »Seine Lhordschaft ist fort, Sire.«

»Was?« Owen drehte sich gerade rechtzeitig um, um Langford in Rivendells Zelt verschwinden zu sehen. »Serjeant, schickt einen Mann hinunter.«

»Das wird nichts nutzen, Sire. Der Qualm. Von dort sieht er nichts.«

Owen packte Unstone an den Aufschlägen. »Dann müssen wir uns selbst darum kümmern, Serjeant. Wir müssen das Reservebataillon dort hinüberbringen.«

»Sire, ich kann den Befehl dazu nicht erteilen.« Der Mann schüttelte entschieden den Kopf. »Dazu bin ich nicht befugt. Man wird mich aburteilen und erschießen.«

»Hört mir zu, Ihr alle.« Owen schaute von einem Mann zum nächsten. »Es sind Eure Kameraden, die sterben werden, und Ihr wisst sehr gut, dass es Rivendell nicht noch weniger interessieren könnte. Glaubt Ihr wirklich, sie haben eine Chance, wenn wir nichts unternehmen?«

Unstone schaute zu Boden. »Wenn wir etwas unternehmen, überleben wir es nicht.«

»Ich sterbe lieber bei dem Versuch, Kameraden zu retten, als zu überleben, während ich untätig zuschaue, wie sie sterben.« Owen stieß den Mann beiseite und lief den Hang hinab. »Erschießt mich auf der Flucht oder kommt mit und werdet Helden. Die Wahl liegt bei Euch. Ich gehe jetzt ein paar Ryngen töten.«

 

Magwamp stürmte aus dem Wurmstand, dann hielt er auf der Hügelkuppe kurz an. Er hob den Kopf, und seine Nüstern blähten sich. Er drehte den Hals und schaute den Prinzen an. Vladimir hätte schwören können, dass eine gewaltige Intelligenz in dem goldenen Auge leuchtete.

Er nickte. »Ja, es geht hinunter in dieses Inferno. Reichlich Pasmortes. So viel du fressen willst.«

Der Lindwurm blinzelte langsam, dann lief er unter dem Donnern der Kanonen hangabwärts. Sie ritten in eine dichte Wolke Pulverdampf, dann tauchten sie wie durch Zauberei unten im Tal auf. Soldaten, die auf dem Rückzug waren, hielten bei dem Anblick an. Magwamp holte mit seinem Schwanz noch ein paar mehr dazu.

Der Prinz schaute auf die erstaunten Gesichter hinab. »Was, schon fertig? Bei Gott, ich bin gerade erst eingetroffen.«

Die Mystrianer standen wie vom Blitz getroffen da und duckten sich nicht einmal, als eine Kanone donnerte. Ein Mann deutete hinter sich zum Hang. »Hoheit, Ihr könnt nicht dort oben hinauf! Das wär’ Euer Tod!«

»Ich lasse die Dritte nicht im Stich!« Vladimir zeigte auf die Festung. »Wir sehen uns oben!«

Der Mann starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren, aber ein anderer hob die Muskete und brüllte: »Nach oben! Nach oben!« Magwamp fauchte, und andere stimmten ein. »Nach oben! Nach oben!«

Prinz Vladimir stieß die Faust in die Höhe. »Nach oben!«

Die Männer drehten um und kehrten in die Schlacht zurück. Vladimir zog am linken Zügel. Der Lindwurm schaute sich um, als wollte er fragen: »Ist das Euer Ernst?«

»Wir treffen sie oben.«

Magwamp knurrte, dann lief er nach Osten, parallel zur Frontlinie. Er brach in einen Galopp und bewegte sich schneller und flüssiger, als Vladimir es je für möglich gehalten hätte. Der Prinz rief von Metternin zu: »Bei Gott, er weiß, dass es in den Krieg geht!«

»Dafür ist er ausgebildet worden.« Der Kesse lachte, als der Wind ihm den Hut vom Kopf riss.

Vladimir blieb nur ein Pulsschlag, um zu entscheiden, ob er an den Zügeln zerren wollte, als Magwamp das Seeufer erreichte. Der Lindwurm machte sich nicht die Mühe, das Ufer hinab zu rutschen, er sprang. Seine Beine, die vorderen wie die hinteren, zog er an den riesigen Leib. Der Prinz atmete tief ein und duckte sich, klammerte sich an das Schwenkgeschütz. Der Lindwurm tauchte tief ein. Das Wasser traf Vladimir wie eine Wand und hätte ihn fast aus dem Sattel gerissen. Das Rauschen der über ihm zusammenschlagenden Fluten war ohrenbetäubend.

Magwamp stieß noch tiefer hinab. Das zunächst noch warme Wasser wurde kalt, dann hob sich die Nase des Lindwurms. Sein Schwanz schlug einmal, und die Bewegung pflanzte sich durch den gesamten Echsenkörper fort. Sie schossen aus dem See. Wasser stürzte in einer gewaltigen Woge von ihren Leibern, als sie nahezu senkrecht emporstiegen und abrupt anhielten.

Magwamps Krallen bohrten sich in die Felswand. Steinbrocken krachten und stürzten hinab, aber der Griff des Lindwurms war sicher und fest. Ohne erkennbare Mühe kletterte er die steile Klippe hinauf, und so schnell, dass Vladimir kaum die Zeit blieb, den Stopfen aus der Mündung seiner Schwenkkanone zu ziehen. Magwamp sprang mit solcher Geschwindigkeit über den Klippenrand, dass er die Oberkante der Palisadenwand fasste und hängen blieb. Er betrachtete das Innere der Festung wie ein Hund, der über einen Gartenzaun lugte.

Vladimir zog die Lederhülle ab, schwenkte das Geschütz herum und kippte es aufwärts, um auf die Kanonen zu zielen, die auf seine Männer schossen. Er legte die rechte Hand auf den Feuerstein und fühlte die kalte Glätte unter der Haut. Es kitzelte, als er den Zauber beschwor, der das leichte Geschütz abfeuerte.

Die Ladung der Kanone hatte er selbst entwickelt. Sie bestand aus erbsengroßen Blei- und Eisenkugeln, gleichermaßen vernichtend gegen Lebende und Tote. Die Ladung breitete sich zu einer Schrotwolke aus und fegte über die Geschützmannschaften hinweg. Kugeln prallten mit hellem Geräusch von den Kanonenläufen ab. Makellose Uniformröcke zerrissen. Hüte flogen davon. Männer wurden fortgeschleudert, und ein Lader kippte nach hinten über die Wand, den Wachspapierzylinder voller Kartätschenmunition noch in der Hand.

Unter Magwamps Gewicht barst das Holz. Seine Pranken brachen noch mehr davon ab, und ein Teil der Palisadenwand stürzte ein. Die Stützen zweier kleiner Geschützplattformen zerbrachen, so dass Männer und Kanonen in den Festungshof stürzten. Der Lindwurm landete auf den Trümmern und warf sich vorwärts. Seine Krallen zerfetzen einen Soldaten.

Vladimir riss eine der Satteltaschen auf und zog einen an beiden Enden verknoteten Stoffzylinder heraus. Eine Musketenkugel prallte von Magwamps Kopfschuppen ab und pfiff dicht am Prinzen vorbei. Vladimir stellte die Waffe senkrecht, riss die untere Hälfte des Pakets an einem Dorn an der Mündung auf und ließ etwas Schwefel in den Lauf rieseln, bevor er die ganze Ladung in den Lauf stopfte. Der Ladestock hob und drehte sich und rammte alles weit hinunter. Er zog ihn wieder heraus, dann schwenkte er das Geschütz herum und richtete es erneut auf die Kanonenstellung.

Sein nächster Schuss war tiefer gezielt und riss den Soldaten die Beine weg. Die Salve zerschlug das Rad eines Kanonengestells. Das Geschütz sackte. Halterungen rissen aus dem zertrümmerten Holz. Die schwere Bronzekanone kam ins Rollen, zerquetschte den Kanonier und brach einem anderen Mann das Bein.

Die Hand des Prinzen schmerzte, als hätten ihn ein Dutzend Wespen gestochen. Die Fingerspitzen wurden taub, und die Haut verfärbte sich. Ich blute und sie bluten. Zwei Schuss hatten fast zwölf Mann ins Jenseits befördert. Geht töten so leicht?

Graf von Metternin feuerte nach links und fegte einen Platingarde-Trupp vom Wehrgang der Festung. Der Oberkörper eines der Soldaten fiel nach hinten über die Wand, während seine Beine in den Innenhof stürzten. Andere sackten nur zusammen, wie formlose, blutende Hautsäcke. Ein paar klammerten sich verzweifelt an die Palisaden, als könnten sie den Tod aufhalten, wenn sie sich nur aufrecht hielten.

Der Prinz lud und feuerte in die von den einschlagenden Kugeln in alle Himmelsrichtungen verstreuten Soldaten und überließ Magwamp ganz und gar sich selbst. Der Lindwurm rannte nach Norden und sprang auf die Krone der Steinmauer. Dann hob er den Kopf und brüllte wieder, geradeso, wie er es als Antwort auf den Befehl »Nach oben« getan hatte. Dann peitschte sein Schwanz und säbelte den oberen Teil von der Palisadenwand.

»Nach oben!«, erklang es vielstimmig unter ihnen. Wäre Prinz Vladimir nicht vollauf mit dem Nachladen beschäftigt gewesen, er hätte die Faust in die Höhe gestoßen. Er rammte Pulver und Kugeln in den Lauf, dann schaute er nach Westen und suchte das nächste Ziel.

Und er fand eines, ein großartiges Ziel, doch leider zu weit entfernt. Am Fluss preschten zwei Bataillone der Platingarde in die norillischen Linien. Und was es noch schlimmer machte: Eine Korvette unter ryngischer Fahne war auf dem Grünen Fluss erschienen und hatte die Geschütze feuerbereit gemacht.

 

Instinkt und Lebenserhaltungstrieb, alles in Owen drängte ihn, so viel Boden wie möglich zwischen sich und die Schlacht zu bringen. Direkt vor sich sah er durch einen Vorhang aus Pulverdampf zwei Platinbataillone sich formieren. Die Kavallerie war zurückgefallen und hatte sich zum Fluss gedreht, so dass sie den Tharyngen die ungeschützte Flanke präsentierte. Durch dieses Manöver boten sie den Ryngen einen Weg mitten ins Herz der norillischen Formation, noch breiter als die Straße, die du Malphias durch den Wald hatte schlagen lassen. Auf der Linken hatte die Vierte Infanterie keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebte. Falls die Ryngen ihre Kräfte teilten, konnten sie mit großer Wahrscheinlichkeit beide Einheiten aufrollen. Und falls sie sie konzentrierten …

Owen marschierte geradewegs zu dem Kapteyn mit Befehl über die Artillerie. »Lhord Rivendell sendet seine Grüße. Er lässt anfragen, ob es Euch sehr ungelegen käme, die Geschütze fünfundvierzig Grad nach Westen zu schwenken. Dort formieren sich ein paar Tharyngen.«

Der Artilleriekommandeur hob das Fernrohr, und seine Kinnlade klappte herunter. »Mein Gott, diese Lücke!«

»Füllt sie mit Feuer, Kapteyn, füllt sie mit Feuer.« Owen drehte sich um und hielt auf die Lücke zu.

»Wo, zur Hölle, wollt Ihr hin?«

Owen breitete weit die Arme aus und lachte. »Füllt Ihr die Lücke mit Feuer, Kapteyn. Ich fülle sie mit mir. Zielt recht hoch, Mann, dass ich sehen kann, wie Ihr sie niederwerft.«

Der Artillerieoffizier brüllte seine Mannschaften an. Owen wirbelte wieder herum, ließ sich auf ein Knie fallen und nahm einer Leiche eine Muskete und den Beutel mit Munition ab. Etwas weiter fand er eine zweite Muskete mit aufgesetztem Bajonett, die er sich über die Schulter hängte. Er wollte einem anderen Toten eine Patrone aus der Hand nehmen, aber der Mann klammerte sich daran fest.

Owen musterte den Mann. Kein Tropfen Blut. »Hoch mit Euch, Soldat!«

Der Mann, eigentlich war es noch ein Knabe, riss weit die Augen auf. »Ich will noch nicht sterben.«

»Keiner von uns legt es darauf an, Sohn. Wie heißt Ihr?«

»Soldat Hodge Dunsby, Sire.«

Owen zog ihn in eine sitzende Position hoch. »Ihr könnt hier sitzen bleiben und heulen, oder dem Tod ins Gesicht lachen und ihm Ryngen zu fressen geben. Lachen ist die bessere Wahl. Bewegt Euch.«

Der junge Bursche starrte zu ihm auf. »Aber, Sire.«

»Sohn, wenn Ihr Euch nicht bewegt, werden Eure Freunde sterben. Kommt mit, und vielleicht rettet Ihr ein paar.«

Einen Moment starrte Dunsby in unbestimmte Ferne, dann wischte er sich die Tränen ab und packte die Muskete. »Ihr habt Recht, Lachen ist besser. Geht voraus, Sire.«

Owen kam sich ziemlich lächerlich vor in seiner Altashie-Lederkluft, eine Muskete über der Schulter, die andere in der Rechten. Er legte den Daumen auf den Feuerstein und drehte ihn. Der Stein knirschte. Die Waffe war geladen, aber noch nicht ein Mal abgefeuert. Gefolgt von Hodge, marschierte Owen in die Lücke und hörte die ryngischen Trommler den Takt schlagen.

»Hodge, greift Euch noch zwei Musketen.« Owen bückte sich und griff sich ebenfalls eine dritte Waffe. »Sechzig, vierzig, zwanzig Schritt. Danach wird es Stahl auf Stahl.«

»Ja, Sire.«

Der bloße Anblick der Tharyngen bescherte Owen eine Gänsehaut. Der Feind hatte sich zu einer lückenlosen Wand aus blauen Röcken mit weißen Aufschlägen formiert, silbernen Knöpfen und hohen Bärenfellmützen mit silbernem Abzeichen. Als sie ihnen im Wald von Artennes gegenübergestanden waren, hatte er gewitzelt, das Abzeichen sei eine großartige Zielscheibe. Hier konnten sie sich das Zielen sparen. Auf diese Entfernung konnte ein Schuss nicht danebengehen, doch selbst wenn er mit jedem Schuss zwei erledigte, würde sie das nicht bremsen.

Die Trommeln gaben einen regelmäßigen Takt vor. Hinter ihm donnerten die Kanonen. Kugeln stürzten in die Formation und pflügten blutrote Schneisen. Die Platingardisten schlossen unbeeindruckt die Reihen und marschierten weiter, näher, immer näher, Schritt um Schritt. Ihr eiserner Wille und ihre Disziplin ließen keinen Zweifel daran, dass sie die Herren des Schlachtfelds waren. Ein Offizier brüllte einen Befehl, und der vorderste Rang senkte die Musketen auf Hüfthöhe und stieß sie nach vorn. Mit funkelnden Bajonetten rückten sie an. Die Bajonette der zweiten Reihe blitzten über ihren Schultern.

»Seid Ihr noch da, Hodge?«

»Ich habe noch zwei, Sire.«

Owen blickte zur Seite. Zwei weitere Soldaten, einer mit einer Schulterverletzung, der andere mit einer Oberschenkelwunde, hoben die Musketen. »Wenn Ihr einen Offizier seht, tötet ihn.«

Wieder hämmerten die Kanonen auf die Tharyngen ein, aber die norillischen Geschütze brauchten viel zu lange fürs Nachladen. Sie würden vielleicht noch eine Salve schaffen, bevor die Ryngen Owens Stellung überrannten. Wieder füllten sich die Lücken in den Reihen, und die Front der anrückenden Soldaten schloss sich nahtlos. Noch einhundert Schritt. Noch achtzig. Owen hob die Muskete. Siebzig. Sechzig.

Sein Daumen strich über den Feuerstein. Die Flinte spuckte Feuer. Eine Sekunde später schossen die drei anderen Soldaten. Drei Ryngen gingen zu Boden und wurden augenblicklich von der anrückenden Schlachtreihe verschluckt.

Dann wurden die Trommelschläge schneller, hämmernder.

Die Ryngen stürmten.

Owen hob die zweite Muskete an die Schulter. Er sah einen Mann mit Schwert, der Befehle brüllte, zog die Waffe nach rechts und zielte. Er visierte das Abzeichen der Bärenfellmütze an, dann beschwor er den Zauber. Pulverdampf nahm ihm die Sicht auf den Feind, aber er löste sich schnell wieder auf. Der Offizier war fort.

Die Wand aus Blauröcken stürmte heran, und Owen stählte sich für den Zusammenprall.

Dann krachte hinter ihm eine Salve, und die Ryngen gerieten ins Stocken. Unstone und das Dritte waren gekommen, um die Lücke zu schließen. Die beiden vordersten ryngischen Reihen fielen, doch der Rest der Platingarde stürmte weiter heran. Mit einem trotzigen Aufschrei warf sich Owen ihnen entgegen. Er parierte den ersten Stoß, dann trieb er das eigene Bajonett tief in den Leib des Mannes. Der Soldat spuckte Blut und sackte zusammen. Owen riss das Bajonett frei und schwang den Kolben der Muskete aufwärts, traf einen anderen Soldaten im Gesicht, zerschmetterte Knochen und Zähne.

Die erste Angriffswelle preschte an ihm vorbei, auf das Dritte zu. Die Ryngen schlossen hinter Owen die Lücke und ließen ihm freie Bahn zu den hinteren Rängen. Die Soldaten dort waren noch nicht darauf vorbereitet, im Meer aus Blauröcken vor ihnen plötzlich einen Feind zu sehen. Owens Lederkluft verschaffte ihm einen zusätzlichen Moment, bevor sie erkannten, dass er auch ohne leuchtend rote Uniform ein Feind war.

Ein Mann hechtete auf ihn zu. Owen schlug das Bajonett beiseite. Er riss den Musketenkolben zu einem Hieb aufwärts, der dem Tharyngen das Genick hätte brechen sollen, doch der Mann stolperte und fiel dadurch unter dem Hieb vorbei. Als Owen Schlag über seine Schulter sauste, riss der Soldat den Kolben seiner Muskete herum und erwischte Owen in der Magengrube. Owen verlor seine Waffe und stürzte.

Der Gardist erhob sich auf ein Knie und hob die Muskete zum Todesstoß.

Dann zuckte ein anderes Bajonett und traf ihn hoch in der Brust. Hodge! Der kleine Soldat brüllte wild, als er zustieß, und trieb den Gegner zurück. Er riss das Bajonett heraus, und ein Blutschwall schoss in die Höhe.

Owen wälzte sich herum und packte die Waffe des sterbenden Tharyngen. Er riss sie hoch, richtete sie auf einen anderen Platingardisten, berührte den Feuerstein. Die Waffe krachte. Der Soldat stürzte, seine Weste verfärbte sich dunkel. Noch ein Kolbenschlag, noch ein Stoß, und Hodge neben sich, brach Owen durch die letzte Reihe der ryngischen Formation.

Einen Pulsschlag lang fühlte er Erleichterung, dann warf er einen Blick hinter sich, und es war wie ein zweiter Hieb in die Magengrube.

Das Erste Kavalleriebataillon war zusammengebrochen. Seine Fahne war unter dem Ansturm der Blauröcke gefallen. Die kampfstärkste Einheit ganz Tharyngias hatte die Flanke der Norillier aufgerollt. Die Söhne des norillischen Adels liebten es, vor staunenden Zivilisten zu paradieren oder auf ihren Rössern flüchtende Infanterie niederzureiten. Der Krieg war für sie mehr Sport als ernsthafte Arbeit gewesen. Und nun hatten die Ryngen ihnen Blut und Feuer gebracht. Nie zuvor hatten sie einen derartigen Angriff erlebt. Nicht zum ersten Mal kam Owen der Gedanke, dass Kavalleristen zu Fuß auf den intelligenteren Teil der Einheit verzichten mussten. Die fliehenden Soldaten stürzten voller Panik geradewegs in das Zweite Bataillon und zerschlugen jede Hoffnung, gegen das ihnen nachsetzende Platinbataillon eine auch nur halbwegs effektive Verteidigung auf die Beine zu stellen.

Und um die Sache noch schlimmer zu machen, war auf dem Fluss eine ryngische Korvette erschienen und zog parallel zu den Stellungen der Reiterei. Die Schiffskanonen waren aus den Geschützluken gefahren.

Nichts konnte die norillische rechte Flanke noch retten, und sobald diese Truppen erst vom Schlachtfeld gefegt waren, war du Malphias’ Sieg nicht mehr zu verhindern.

Krieg der Drachen - Roman
cover.html
e9783641081133_cov01.html
e9783641081133_toc01.html
e9783641081133_ded01.html
e9783641081133_p01.html
e9783641081133_c01.html
e9783641081133_c02.html
e9783641081133_c03.html
e9783641081133_c04.html
e9783641081133_c05.html
e9783641081133_c06.html
e9783641081133_c07.html
e9783641081133_c08.html
e9783641081133_c09.html
e9783641081133_c10.html
e9783641081133_c11.html
e9783641081133_c12.html
e9783641081133_c13.html
e9783641081133_c14.html
e9783641081133_c15.html
e9783641081133_c16.html
e9783641081133_c17.html
e9783641081133_c18.html
e9783641081133_c19.html
e9783641081133_c20.html
e9783641081133_c21.html
e9783641081133_c22.html
e9783641081133_c23.html
e9783641081133_c24.html
e9783641081133_c25.html
e9783641081133_c26.html
e9783641081133_c27.html
e9783641081133_c28.html
e9783641081133_c29.html
e9783641081133_c30.html
e9783641081133_c31.html
e9783641081133_c32.html
e9783641081133_c33.html
e9783641081133_c34.html
e9783641081133_c35.html
e9783641081133_c36.html
e9783641081133_c37.html
e9783641081133_c38.html
e9783641081133_c39.html
e9783641081133_c40.html
e9783641081133_c41.html
e9783641081133_c42.html
e9783641081133_c43.html
e9783641081133_c44.html
e9783641081133_p02.html
e9783641081133_c45.html
e9783641081133_c46.html
e9783641081133_c47.html
e9783641081133_c48.html
e9783641081133_c49.html
e9783641081133_c50.html
e9783641081133_c51.html
e9783641081133_c52.html
e9783641081133_c53.html
e9783641081133_c54.html
e9783641081133_c55.html
e9783641081133_c56.html
e9783641081133_c57.html
e9783641081133_c58.html
e9783641081133_c59.html
e9783641081133_c60.html
e9783641081133_c61.html
e9783641081133_c62.html
e9783641081133_c63.html
e9783641081133_c64.html
e9783641081133_c65.html
e9783641081133_c66.html
e9783641081133_c67.html
e9783641081133_c68.html
e9783641081133_ack01.html
e9783641081133_cop01.html