DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
15. Mai 1763
Sankt Fortunas
Gottesgaben, Mystria
Owen schlief im Langhaus allein, aber unter einem Tannerfell und nahe genug am Herdfeuer, um nicht zu frieren. Während der Nacht wachte er zweimal aus Träumen auf, in denen er sich mit Bethany Frost unterhielt. Er erinnerte sich nicht daran, worüber sie redeten, doch in einem Traum schlenderten sie Hand in Hand am Flussufer in der Nähe des prinzlichen Wurmstands entlang.
Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Normalerweise hätte er die Träume als Unsinn abgetan. Er hatte schon zahllosen Soldaten, die am Vorabend der Schlacht unter Alpträumen litten, erklärt, dass sie nichts bedeuteten und noch weniger vorhersagten. Und als er das tat, war er davon auch fest überzeugt gewesen.
Doch all das war vor seiner Ankunft in Mystria gewesen. Allein die Erfahrung des sich windenden Weges hatte genügt, ihm bewusst zu machen, dass es mehr Magie auf der Welt gab, als er je für möglich gehalten hätte. Vielleicht lag es wirklich nur an diesem Land, in dem die Magie aus dem Boden quoll wie Wasser aus einer Quelle. Vielleicht war es gar nichts, nur eine Illusion, doch immer, wenn er das dachte, erinnerte er sich daran, wie Kamiskwa das Kanu repariert und andere Zauber von weit größerer Macht gewirkt hatte.
Zum letzten Mal wurde er kurz nach Sonnenaufgang wach und verzehrte ein Frühstück aus Maisbrei. Seine Gastgeber verwandelten den Brei in eine Delikatesse, indem sie zerriebenen Ahornhonig daruntermischten. Das kleine Mädchen saß neben ihm, aß so wie er, lächelte, wenn er es tat, und kicherte zufrieden und ohne erkennbaren Grund.
Im Licht des Herdfeuers schrieb er einen Brief an Prinz Vladimir. Er beschrieb die Umstände, unter denen sie den Ring und das Tagebuch gefunden hatten. Er teilte ihm seine Vermutung mit, dass die Kreise die Mondphasen darstellen sollten. Und er schloss Hintergrundmaterial über Pierre Ilsavont ein, so schwierig es auch war, den Namen an Hand der ›Berufung eines Kontinents‹ zu verschlüsseln.
Sobald er damit fertig war, verfasste er einen zweiten Brief an die Frosts. Da er niemanden erschrecken wollte, konzentrierte er sich auf die erstaunlichen Beobachtungen, die er gemacht hatte. Er beschrieb die Schönheit der Wasserfälle und die Freundlichkeit der Altashie. Mit Bemerkungen über Magie hielt er sich zurück. Da die Frosts Teil der Gemeinde Bischoff Binsens waren, war er sich nicht sicher, wie sie die Nachricht aufgenommen hätten, dass die Altashie zu so mächtiger Magie fähig waren. Bethany, nahm er an, wäre begeistert gewesen, doch der Rest ihrer Familie vielleicht nicht so.
Er kam weniger zum Schluss des Briefes, weil er nichts mehr zu schreiben gehabt hätte, sondern weil das Dorf erwachte und es Zeit wurde, seine Weiterreise vorzubereiten. Er bedankte sich bei Bethany für die Hilfe beim Kauf der Journalbände und Schreibfedern und bei ihrem Vater für ›DIE BERUFUNG EINES KONTINENTS‹. Dann faltete und versiegelte er den Brief. Er adressierte ihn an die Frosts und legte ihn in das ryngische Journal.
Als die drei Männer packten, stellte Owen fest, dass Msitazis Familie die Nacht durchgearbeitet hatte, um zwei Geschenke für ihn anzufertigen: Lederhüllen für seine Muskete und die Pistole. Beide hatten einen langen Gurt, der es ihm ermöglichte, sie über die Schulter zu hängen, und die Pistolenhülle verfügte über einen zusätzlichen Riemen, den er am Gürtel befestigen konnte, so dass sie nicht gegen seinen Leib schlug, wenn er lief.
Der Häuptling nahm ihn am Rand des Dorfes in die Arme, immer noch in die rote Uniformjacke gehüllt. »Mögen Eure Pfade mühelos sein und noch viele Ungarakii sterben, um Euren Ruhm zu mehren.«
Owen löste sich aus der Umarmung und salutierte. »Ich werde meiner Königin das Lob des Großen Häuptlings Msitazi von den Altashie singen.«
Owen vertraute das Journal, den Ring und die Briefe Msitazi an. »Ich werde Eure Nachrichten persönlich überbringen, Aodaga. « Der Häuptling nickte dem ältesten Sohn Nathaniels zu. »William wird mich begleiten. Es ist Zeit, dass er die Welt sieht.«
»Seid Ihr sicher, Msitazi?«
Der alte Mann lachte. »Jetzt klingt Ihr wie meine Kinder. Ich bin alt, nicht tot. Und es steckt noch viel Magie in mir.« Sein milchiges Auge funkelte, als sei es nicht wirklich erblindet. »Wir werden dem Prinzen Eure Nachrichten überbringen, und ich werde mich für seine Geschenke bedanken.«
Owen lüpfte eine Augenbraue. »Ihr wollt Euch Magwamp noch einmal anschauen.«
»Der große Krieger sieht über das Offensichtliche hinaus.« Msitazi schlug ihm auf den Arm. »Wenn Ihr das nächste Mal kommt, werden wir große Geschichten über Eure Abenteuer teilen.«
Anschließend verabschiedeten die drei sich von den Zurückleibenden. Nathaniel, der nicht im Langhaus übernachtet hatte, nahm mit Küssen und Umarmungen Abschied von seinen Kindern und ihren Müttern. Kamiskwa machte die Runde durch das Dorf.
Das kleine Mädchen kam zu Owen und bot ihm eine ihrer Puppen an, diejenige, die es ihm gegeben hatte, als er traurig gewesen war. Er wollte das Geschenk so höflich wie möglich ablehnen, aber sie ließ sich nicht abweisen.
Kamiskwa kam herüber und erklärte es ihm. »Sie gibt Euch die Puppe, damit sie Euch beschützt. Bei Eurer Rückkehr müsst ihr sie zurückgeben.«
Owen ging in die Hocke und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. »Danke, mein Schatz.«
Auch Kamiskwa hockte sich hin, nahm die Kleine in den Arm und gab ihr einen Kuss. Er sprach leise mit ihr. Sie lächelte, trat einen Schritt zurück und starrte Owen kurz an. Dann lief sie kichernd davon.
»Wer ist sie?«
Kamiskwa lächelte. »Agaskan, meine jüngste Schwester.«
Owen stopfte die Puppe in die Tasche, die seine Kleidung enthalten hatte, und musste ebenfalls lächeln. Doktorus Frost, Prinz Vladimir und nun dieses Altashie-Kind hatten ihm jeder ein Geschenk für eine gute Reise gemacht.
Und in Norisle hatte niemand auch nur so getan.
Kamiskwa, Nathaniel und Owen brachen am frühen Vormittag von Sankt Fortunas aus nach Hutmacherburg auf. Sie reisten leicht, mit wenig mehr Gepäck als ihren Waffen, Munition und Proviant. Die Altashie hatten ihnen Pemikan mit auf den Weg gegeben, mit Talg vermischtes und zu Fladen gepresstes Dörrfleisch. Sie trugen genug für den Anfang in einer eigenen Tasche, die auf dem Weg regelmäßig den Besitzer wechselte.
Die drei machten sich ruhigen Schritts auf den Weg. Kamiskwa bezeichnete ihre Geschwindigkeit als Jagdpfad. Für Owen war es ein Spaziergang, und er nutzte die Zeit, um Fragen zu stellen, Berechnungen anzustellen und sogar dazu, sich Notizen zu machen. Seine Begleiter zeigten ihm ein paar weitere nützliche Pflanzen. Sie machten halt, um saure rote Beeren zu pflücken, und genossen die Schönheit des Landes.
Die zunehmende Hitze des Tages sorgte dafür, dass sie ihre Hemden auszogen. Gegen Mittag bogen sie auf einen gut ausgetretenen Pfad ein und befreiten sich auch von den Beinlingen. Obwohl der Weg nicht annähernd breit genug für ein modernes Heer war, gestattete er ihnen ein schnelles Weiterkommen. Gegen Abend erreichten sie einen kleinen See.
Sie schlugen das Lager in einer Senke etwa hundert Schritt vom Ufer auf. Die Stelle war wohl schon häufiger zu diesem Zweck genutzt worden: Rußgeschwärzte Steine waren in der Mitte zu einem Kreis ausgelegt. Nathaniel kniete sich daneben. »Ryngen.«
Owen hob Walds Gewehr auf. »Woran seht Ihr das?«
Nathaniel deutete auf eine Vertiefung unter einem großen, zur Seite geneigten Stein. »Kaum Holz da. Wahrscheinlich liegen Knochen und Müll auf der anderen Seite vom Hang. Faule, unnütze Bastarde die ganze Bande. Wir sehen besser nach dem Kanu, Kamiskwa.«
»Dem Kanu?«
Nathaniel nickte. »Habt doch wohl nicht gedacht, wir marschieren bis Hutmacherburg, oder?«
»Ihr habt anscheinend überall Kanus verborgen.«
Nathaniel stand auf und winkte Owen, ihm zu folgen. Kamiskwa ging voraus nach Osten, über eine kleine Bodenwelle und hinunter in eine zugewachsene Schlucht. Zwei umgestürzte Bäume lagen über der Schlucht und bildeten eine Brücke für den, der den Balanceakt wagte, aber die drei Männer duckten sich unter ihnen hindurch. Dort, halb von Gebüsch und dem Schatten der Baumstämme verborgen, lag ein etwa zwölf Fuß langes Birkenkanu.
Kamiskwa bürstete etwas Laub von der Rinde. »Sieht in Ordnung aus.«
»Gut.« Nathaniel rieb sich die Nase. »Wir haben uns über Pierres Tod gefreut, weil eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, Kanus zu zertreten. Er war ein gemeiner Hund. Ein typischer Ilsavont.«
»Die Leute lassen ihre Kanus hier einfach liegen?«
»Sind nicht in Norisle hier. Wir sind nicht alles Diebe. Wir helfen einander. Hier am Ufer liegen Dutzende Kanus. Wer hier hochkommt, arbeitet. Baut eines. Damit rudert er über den See und verstaut es. Dann erzählt er jemand, wo es ist, denn am nächsten See oder am nächsten Fluss hat der eines, das du dafür benutzen darfst. Es gibt auch welche, von denen man die Finger lässt.«
Owen kletterte hinter Nathaniel wieder zurück nach oben. »Ja?«
»Die Ungarakii haben welche, die meisten am Ostufer.«
»Und sie bringen einen um, wenn man sie benutzt?«
»Nee.« In Nathaniels braunen Augen blitzte der Schalk. »Die bauen beschissene Kanus.«
Kamiskwa nickte. »Sie neigen zu Lecks.«
Owen blieb am Feuerkreis stehen. »Und könnte es sein, dass Ihr bei dieser Neigung etwas nachhelft?«
Nathaniel lachte. »Ist unsere Art, den Ungarakii beim Schwimmenlernen zu helfen.«
»Also hätten die Ungarakii uns auch gerne nur so erschlagen, selbst wenn wir den Toten nicht gefunden hätten?«
»Na ja. Hier draußen erschlägt keiner einen nur so. Heißt aber nicht, dass ihnen das Leute-um-die-Ecke-Bringen keinen Spaß macht. Den Ungarakii macht es sogar mächtig Spaß.«
Die beiläufige Gewissheit, mit der Nathaniel Wald das feststellte, ließ Owen einen Schauder den Rücken laufen. Er sagte nichts, sondern entschloss sich, Feuerholz zu sammeln. Das erste Bündel legte er neben den Ring, dann sammelte er weiter, um den Vorrat unter dem schrägen Felsen aufzufüllen.
Das Lagerfeuer bot ihnen Licht und Wärme. Die Männer nutzten die Gelegenheit, die Lendenschurze zu waschen und an Stöcken zum Trocknen aufzuhängen. Owen setzte sich ans Feuer und schrieb in sein Tagebuch. Hauptsächlich hielt er auffällige, als Wegmarkierungen geeignete Stellen und grundlegende Informationen fest. Was er im Verlauf des Tages an Informationen gesammelt hatte, bezog sich hauptsächlich auf Nathaniels Haltung den Ungarakii und Tharyngen gegenüber. Sie niederzuschreiben erschien ihm in gewisser Weise wie ein Vertrauensbruch.
Der Abscheu, mit dem Nathaniel auf die selbstsüchtige Benutzung der Lichtung durch die Tharyngen reagiert hatte, ähnelte seinen früheren Bemerkungen über die Landbesetzer, die sie auf dem Weg zum Gut des Prinzen gesehen hatten. Dass Leute verschwenderisch mit der Natur dieses Landes umgingen, war ihm fast ebenso zuwider wie die Kontrolle riesiger Gebiete durch abwesende Besitzer.
Owen schaute auf. »Falls Ihr gestattet, Meister Wald, hätte ich eine Frage. Wenn ihr über das Land schaut, wenn Ihr es durchquert, was seht Ihr?«
»Ihr meint, abgesehen von Bäumen und so?«
»Ja. Ich meine die Frage philosophisch.«
Nathaniel stöhnte. »Das heißt, Ihr wollt große Worte hören?«
»Das ist nicht notwendig. Ihr liebt das Land ganz offensichtlich. «
»Tja, schätze, vor allem mag ich es unverdorben.« Einen Moment saß er schweigend da und ließ das Knistern des Feuers und den fernen, traurigen Schrei eines Eistauchers die Stille durchdringen. »Ich weiß, die Menschen werden es kaputt machen. Die Bäume fällen, einen Bauernhof bauen, aber das ist nur, um leben zu können. Die Shedashie tun das auch irgendwie, aber sie tun es anders. Wenn sie Sankt Fortunas morgen abbrechen würden, wie lange würd’ es dauern, glaubt Ihr, bis das wieder Wildnis wäre?«
»Ein Jahr?«
»Eher eine Jahreszeit.« Nathaniels Augen wurden schmal. »Wie lange würd’ es brauchen, damit Port Maßvoll verschwunden ist?«
»Eine Generation?« Owen erinnerte sich, wie er in Tharyngia über ein Stück remische Heerstraße marschiert war. »Möglicherweise sehr viel länger.«
»Die Menschen sind arrogant. Da erzählt ihnen ihre Heilige Schrift, dass Gott sie aus Lehm geformt hat wie alles andere auch. Aber sie bilden sich ein, weil sie ihm nicht gehorcht haben und aus dem Paradies vertrieben worden sind, sie wären was Besseres als die Tiere, die Pflanzen und der Dreck.« Der Waldläufer schüttelte den Kopf. »Sie denken sich Regeln und Gesetze aus, die ihnen nutzen. Mit denen sie noch mehr kriegen. Und noch mehr behalten. Spielt keine Rolle, ob sie lügen und betrügen, um es zu kriegen.«
Owen runzelte die Stirn. »Ihr redet nicht nur vom Land, oder?«
»Tja, schätze, da habt Ihr Recht.« Nathaniel zögerte, dann grinste er. »Und ich schätze, ich will über die Sache jetzt nichts mehr sagen. Aber es ist so, dass die Menschen mit ihrer Gesellschaft häufig genug mehr Schaden anrichten als Nutzen. Deshalb halt ich lieber Abstand zu den meisten Leuten.«
»Ist das eine verbreitete Haltung unter Mystrianern?«
»Keinen Schimmer. Könnte sein, Euer kleines Buch kann Euch das verraten. Ist mir egal. Bin kein Mystrianer.« Nathaniel hob die Hand. »Ja, bin hier geboren. Werd’ vermutlich auch hier sterben, falls es einen Gott gibt, der halbwegs bei Verstand ist. Aber ich gehör nicht zu deren Gesellschaft. Will nichts damit zu tun haben.«
Owen machte ein skeptisches Gesicht. »Warum lebt Ihr dann nicht einfach bei den Altashie?«
»Gibt Zeiten, Kapteyn Radband, da kann ein Mensch nicht so, wie er’s gerne hätte. Keiner kann seiner Geschichte entkommen. «
Kamiskwa schnaubte. »Zumindest nicht ohne eine gewisse Anstrengung.«
»Schätze mal, der Prinz Kamiskwa hat seinen eigenen Rat in dieser Sache vergessen.«
Owen hatte nicht die geringste Ahnung, wovon seine Begleiter sprachen, und er war sich ebenso sicher, dass er von keinem der beiden eine Erklärung erwarten durfte. Nathaniel sprach grundsätzlich kaum über sich. Owen vermutete, dass die Sticheleien und Prüfungen, mit denen Wald ihn traktierte, teilweise damit zu tun hatten, dass der Waldläufer herausfinden wollte, wie weit er ihm trauen konnte. Offensichtlich hatte er bis jetzt noch keine endgültige Entscheidung darüber gefällt, und bis es so weit war, würden seine Geheimnisse, welcher Art sie auch waren, genau das bleiben.
Der Soldat konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er hielt sich nun schon zehn Tage in der Gesellschaft dieses Mannes auf, und alles, was er über ihn wusste, hätte auf einer Seite seines Tagebuches Platz gehabt. Katherine hätte ihm Vorwürfe gemacht, nicht mehr herausgefunden zu haben. Er hätte versucht, ihr zu erklären, dass Männer sich nicht auf dieselbe Weise austauschten wie Frauen, und sie hätte gekontert, er habe nur Angst zu fragen.
Dabei hatte Angst absolut nichts damit zu tun. Es war Respekt. Er respektierte Nathaniels Recht auf Privatsphäre. Wer er war und was er tat, all das hatte keinen Einfluss auf ihre Expedition. Wäre dem so gewesen – wäre Nathaniel zum Beispiel ein Trinker gewesen –, dann wäre es zu einer Aussprache gekommen.
Und was noch wichtiger war: Indem er darauf verzichtete, Fragen zu stellen, baute er Vertrauen auf. Owen vertraute darauf, dass Nathaniel ihm alles mitteilen würde, was notwendig war. Bisher hatte der Waldläufer diesen Teil der Vereinbarung erfüllt. Indem er keine persönlichen Fragen stellte, bewies er auf wortlose Weise sein Vertrauen in Nathaniel Wald, was seinerseits dessen Vertrauen in ihn nur stärken konnte.
Nathaniels Haltung ging vermutlich darauf zurück, wie die Gesellschaft auf ihn reagiert hatte. Schon die Tatsache, dass er Kinder von zwei Frauen hatte, mit denen er nicht verheiratet war, und Shedashie-Frauen noch dazu, dürfte genügt haben, für schiefe Blicke und Ablehnung zu sorgen. Für jemanden wie Bischof Binsen musste er wie der Teufel in Person erscheinen. Natürlich waren mit ziemlicher Sicherheit viele von denen Heuchler, die sich gegen ihn ereiferten. Owen hatte schon zahllose hohe Offiziere einfachen Soldaten Predigten über die Übel der Trunksucht und Hurerei halten hören, während sie selbst gerade angetrunken aus dem nächsten Bordell gekommen waren.
Mit diesen Gedanken schlief Owen ein und wachte völlig unerwartet erst zur letzten Wache auf. Als die aufgehende Sonne das Wasser des Sees golden färbte, aßen die Männer, verwischten alle Spuren ihres Lagers und stachen in See. Owen saß zwischen den beiden anderen, während sie das kleine Boot über das kristallklare Wasser paddelten.
»Ich kann auch rudern.«
»Macht Euch deswegen keinen Kopf. Behaltet Ihr das Ufer im Auge.«
»Wir sind zu weit entfernt für einen Schuss.«
»Schätze schon, aber ich will wissen, ob uns jemand beobachtet. «
Owen zog das Fernrohr aus der Tasche. Er suchte das Ufer ab, sah aber nichts weiter als einen im flachen Wasser grasenden Elch. Die stille Oberfläche spiegelte den blauen Himmel, außer in Ufernähe, wo das Spiegelbild des Waldrands das Wasser mit einem dunklen Rahmen begrenzte.
»Es sieht leer aus.«
Kamiskwa am vorderen Ende des Kanus, grunzte ein einzelnes Wort. »Tekskog.«
»Meinst du wirklich, Kamiskwa? Hier im See war noch nie einer.« Nathaniel lachte. »Würd’ auch nicht viel nutzen, wenn er einen sähe.«
Owen seufzte. »Soll ich nach etwas Bestimmtem Ausschau halten?«
»Tja, er möchte, dass Ihr nach einem Seeungeheuer sucht. Wie ’ne große Schlange, mit einem Pferdekopf und ’ner Menge Windungen. Der Prinz hat es vermutlich auf der Liste. Hält es für einen großen Otter. Ein verflucht großer. Würde meinen, da könnte man genug Röcke für Eure ganze Armee draus machen.«
»Ist das Euer Ernst?«
»Kann nicht ehrlich behaupten, jemals einen gesehen zu haben, aber ich hab viele Leute davon erzählen hören.«
Aus zwei Gründen verwarf Owen die Vorstellung nicht auf der Stelle. Zum einen hatte er selbst in Mystria bereits Geschöpfe entdeckt, die er nie zuvor gesehen hatte. Zum zweiten war das, was Wald beschrieben hatte – zugegebenermaßen bis auf das Fell –, ein Lindwurm in einem frühen Lebensabschnitt. Falls es hier Lindwürmer gibt, und wir können sie aufspüren, könnten wir sie aufziehen und abrichten. Das würde das Gleichgewicht der Macht in Auropa für alle Zeiten verschieben.
In den folgenden dreieinhalb Wochen überquerten sie zahllose Seen und Teiche und schlugen gelegentlich auf einer Insel ihr Lager auf, aber nur ein einziges Mal gelangten sie auf dem Wasserweg von einem zum anderen. Den Rest der Zeit verstauten sie ihr Kanu am Ufer und zogen über Land zum nächsten See, wo sie ein anderes Kanu fanden und ausliehen.
Die Reise erstaunte Owen ungemein. Jeder neue Tag führte sie in ein Gebiet ohne die geringste Spur menschlichen Lebens. Er wusste natürlich, dass sie nicht die ersten Menschen waren, die sich dort aufhielten, denn sie stießen überall auf Kanus und Lagerplätze, aber er sah keine Zäune, keine Häuser und keine Straßen. Nach Stellen, an denen jemand Bäume gefällt hatte, musste er suchen. Mehr als einmal hatte der Wald eine Rodung zurückerobert, die laut den Aussagen seiner Führer zwanzig oder dreißig Jahre zuvor angelegt worden war.
Unterwegs behielt Owen die Liste des Prinzen im Auge, doch die Tiere darauf erwiesen sich als äußerst scheu. Dass er keinen Geopahr sah, bedauerte er allerdings nicht übermäßig. Nachts heulten Wölfe und wetteiferten mit den Eistauchern um den Titel der lautesten Kreatur um den See. Anfangs beunruhigte ihn diese Geräuschkulisse, doch mit der Zeit wurde sie ihm vertraut und angenehm. Vor die Augen bekam er jedoch keinen einzigen Wolf.
Wenn es still wurde im Wald, horchten sie auf. Kamiskwa und Nathaniel suchten augenblicklich Deckung, vergewisserten sich, dass ihre Waffen geladen waren, warteten und beobachteten, was sich in der Nähe aufhielt. Mehr als einmal hörten sie ryngische Fallensteller durch das Unterholz brechen, ohne selbst bemerkt zu werden. Nachts notierte Owen die Anwesenheit der Eindringlinge in seinem Journal.
Schließlich überquerten sie einen flachen Kamm, der die Gottesgaben-Wasserscheide von der Lindentals trennte. Sie folgten einer Kette von Seen und Wasserläufen nordwärts, und gegen Mittag standen sie auf einer Bergkuppe und blickten hinunter ins Tal von Hutmacherburg. Der Ort lag am Zusammenfluss dreier Flüsse, von denen der größte der Tillie war. Von der anfänglichen Palisadenfestung auf erhöhtem Grund aus hatte sich der Ort langsam ausgebreitet. Die Siedler hatten den Wald gerodet, und rings um die Stadt lagen kleine Bauerngüter.
Nathaniel schlug Owen auf den Rücken. »Hutmacherburg. Die westlichste Zivilisation, die das Gesetz erlaubt.« Dann deutete er nach Osten. »Natürlich hat das Gesetz da hinten haltgemacht, um nach Luft zu schnappen, also passt besser auf. Ist kein Ort, an dem man begraben sein möchte.«