ZWEIUNDSECHZIGSTES KAPITEL

31. Juli 1764
Fort Cuivre
Lac Verleau, Neu-Tharyngia

 

 

 

Nathaniel tauchte das Paddel lautlos in das stille Wasser des Sees und zog das Kanu langsam vorwärts. Es war ein Kriegskanu, eines der vier, die sie vor dem Morgengrauen zu Wasser gelassen hatten und die jetzt durch den Morgennebel auf Fort Cuivre zu trieben. Kamiskwa kniete hinter ihm, den Bogen in der Hand, einen Pfeil angelegt.

Der Mystrianer hielt den Atem an. Im Osten hellte die Sonne den Himmel auf, aber noch lag ihr Weg im tiefen Schatten der Bäume. Sie hielten sich dicht am Ufer, in der Hoffnung, dass das Platschen der nach Fliegen springenden Forellen ihre Annäherung überdeckte. Falls die Ryngen bemerkten, dass sie kamen, würden die Kanonen der Korvette und die Schwenkgeschütze der Festung sie versenken, noch bevor sie einen Schuss abgeben konnten.

Major Forst hatte die Kais als die Schwachstelle des Forts erkannt. Die niedrige Steinmauer mit den Schießscharten war eine ausgezeichnete Verteidigung gegen Shedashie-Überfälle. Der ryngische Kommandeur unterhielt eine ständige Wache aus sechs Mann an der Anlegestelle und hatte je sechs Mann auf beiden Korvetten. Mehr konnte er wahrscheinlich nicht erübrigen.

Nathaniel kniff die Augen zusammen und versuchte, durch den Nebel etwas zu erkennen. Die Strömung genügte, sie zum Fluss zu bringen; er brauchte nur zu steuern. In der Dunkelheit dräute die kantige Silhouette des Forts, ein drohender Schatten vor dem Sternenhimmel. Die dünne Mondsichel warf ihr schwaches Licht in einem langen Band auf den See, ein gutes Stück von ihnen entfernt.

Er drehte sich zu Kamiskwa um. »Nur noch ein kurzer Pfad.«

Der Altashie nickte und hob die gekrümmte Hand an den Mund. Er stieß einen leisen Eistaucherruf aus. Hinter ihnen platschte etwas: Das Sommerland-Kanu, das sich auf den Weg zum Schiff machte. Die drei anderen Boote hielten auf den Kai zu, um die Nordlandschärler abzusetzen.

Major Forst hatte einen hübschen kleinen Feldzug organisiert, der auf diesen Moment hinauslief. Sie hatten die Garnison des Turms gefangen genommen und danach alle Trupps abgefangen, die das Fort verlassen hatten, um auf Jagd zu gehen, Brennholz zu schlagen oder nach ihnen zu suchen. Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang hatten die Scharfschützen sich auf die Lauer gelegt, so pünktlich jeden Tag, dass die Tharyngen sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Am ersten Tag war der Blutzoll furchtbar gewesen, aber seitdem hatten die Mystrianer nur noch die selbstmörderisch Wagemutigen und ausgemachten Dummköpfe erwischt.

Nathaniel hatte seinen Teil beigetragen. Soweit er feststellen konnte, hatte er einen Soldaten getötet und zwei verwundet. Er hatte es nicht darauf angelegt, überhaupt einen zu erschießen, aber ein Mann war von der Mauer gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Der Waldläufer wusste nicht so recht, was er darüber denken sollte. Bisher hatte es ihm noch keinen Schlaf geraubt, er war sich allerdings nicht sicher, ob das auch so bleiben würde.

Die Korvette ragte aus dem Nebel, und das Kanu der Sommerland-Jungs glitt an ihr vorbei. Sie waren auf dem Weg ans Heck des Schiffes, um es von der anderen, der Steuerbordseite, zu entern. Nathaniel nickte und hielt die Augen offen. Er lauschte auf jedes Geräusch, das eine Wache hätte alarmieren können.

Hinter ihm spannte sich mit leisem Knirschen der Bogen.

In der Mitte des Schiffsdecks war ein Posten stehen geblieben. Der wabernde Nebel verbarg seine Umrisse halb. Nathaniel konnte nicht erkennen, wie weit er von der Backbordreling entfernt war, aber das spielte auch keine Rolle. Der Mann zog die Muskete von der Schulter.

Kamiskwas Bogen brummte. Der Pfeil sauste durch die Luft. Der Rynge riss die Hände an den Hals und versuchte, das spritzende Blut aufzuhalten. Der Pfeil hatte seinen Hals glatt durchschlagen, und er war bereits tot, doch statt umzufallen, stolperte er ein paar Schritte vorwärts, bis er im Sturz gegen die Schiffsglocke fiel.

Ein einzelner klarer Glockenton hallte durch die Morgenluft.

Nathaniel stieß das Paddel ins Wasser. Alle Männer ruderten wie wild mit Paddeln und Flintenkolben. Das Kanu schoss über den See, auf die Anlegestelle zu. Nathaniel sprang an Land, sobald es den Kai berührte. Er riss das Paddel herum und erwischte einen heranstürmenden Ryngen im Gesicht. Der Mann ging zu Boden, konnte aber noch laut brüllen, bevor der Waldläufer ihn mit einem Tritt ins Wasser beförderte.

Schärler schwärmten auf den Kai und rannten zum Fort. Sie sagten kein Wort, und ihre Gesichter waren grimmig entschlossen. Dass sie das Überraschungsmoment verloren hatten, war jedem von ihnen klar. Als sie sich freiwillig für dieses Unternehmen gemeldet hatten, war allen bewusst gewesen, dass es sich ohne Überraschungsmoment um ein Selbstmordkommando handelte. Ihre einzige Überlebenschance bestand darin, eine ihnen zahlenmäßig vierfach überlegene Garnison zu besiegen und das Fort in ihre Hand zu bringen.

Kamiskwa reichte Nathaniel sein Gewehr. »Gute Jagd, Zauberfalke. «

Ryngische Stimmen riefen in fragendem Ton. Zu Beginn klangen sie ängstlich, dann wütend, schließlich wurden sie panisch, als niemand antwortete. Ein tharyngischer Posten feuerte blindlings in Richtung Korvette. Das Mündungsfeuer seiner Muskete machte die Angreifer sichtbar. Ein zweiter Posten feuerte, und einer der Schärler ging zu Boden, beide Hände auf den Bauch gepresst.

Nathaniel kniete sich neben ihn, dann hob er das Gewehr. Er sah durch eine der Schießscharten eine Bewegung und ließ den Daumen auf den Feuerstein fallen. Das Gewehr krachte, spie Feuer und Blei. Heißer Rauch und winzige Schwefelpartikel schlugen ihm ins Gesicht und brannten in den Augen. Schwefelgestank stieg ihm in die Nase und legte sich über die Mundschleimhäute.

Friedensreich Bein hielt zwei Musketen, eine in jeder Hand. In seinen gewaltigen Pranken wirkten sie wie langläufige Pistolen. Er feuerte beide auf die Schießscharten ab, ohne langsamer zu werden. Männer schrien, andere schossen, und Friedensreich stürmte geradeaus.

Laut brüllend warf er sich mit der Schulter gegen das hölzerne Tor. Die Lederscharniere rissen, und es flog nach innen. Der Riese rollte sich in die Dunkelheit dahinter ab, die Schärler folgten ihm. Musketenfeuer leuchtete auf.

Nathaniel lief zwei Schritte hinter Kamiskwa durch das Tor. Er deutete zu den Wehrgängen hoch. »Loberecht, bring deine Jungs da rauf. Drang, auf die and’re Seite. Caleb, deine Jungs säubern den Hof! Bewegung!«

Mündungsfeuer zuckte wie Blitze und riss scheinbar in der Bewegung erstarrte Gestalten aus der Dunkelheit. Der Erste Trupp unter Calebs Befehl ging in die Hocke und schoss auf alles, was sich auf dem Gelände bewegte. Der Zweite und Dritte Trupp bog unter dem Befehl der Bein-Brüder nach links und rechts ab, hoch auf die Zinnen. Der Vierte und Fünfte Trupp rückte schrittweise vor, immer auf Deckung hinter Lagerschuppen und einem zur Reparatur aufgebockten Boot bedacht.

Von der Korvette ertönten Schüsse. Ein Querschläger von einem der Torpfosten pfiff knapp über Nathaniels Kopf, als er sich duckte, um nachzuladen. Die Ryngen erwiderten das Feuer sporadisch vom entfernten Ende des Forts, wo sie auf den morgendlichen Scharfschützenbeschuss gewartet hatten.

Und auf genau den wollten wir auch warten. So viel zum Ablenkungsmanöver des Majors. Nathaniel klappte das Gewehr zu. Schätze, jetzt sind wir das Ablenkungsmanöver.

Im Zentralgebäude der Festung öffnete sich eine Tür. Eine Silhouette zeichnete sich vor Laternenlicht aus dem Inneren ab. Nathaniel bewegte sich etwas nach rechts, hob das Gewehr und schoss. Der Qualm blendete ihn, und bis er durch die Tränen wieder etwas sah, war außer dem durch ein Loch in der Tür fallenden Licht nichts mehr auszumachen.

Nathaniel lud wieder nach, dann tippte er einem Bücherwurm auf die Schulter. »Wär’ nett, wenn Ihr den Sommerland-Jungs sagen könntet, dass wir Ihnen mächtig dankbar wären, falls sie uns mit den Kanonen ein bisschen bei den Kasernen aushelfen könnten.«

Der Mann nickte. »Bei welcher?«

»Is’ mir erst mal gleich. Los.«

Die Ryngen hatten die Truppenunterkünfte an der Nord- und Südwand errichtet. Das Zentralgebäude teilte den Komplex in zwei Hälften. Der Prinz hätte ihm vermutlich die Mathematik erklären können, die sie bei der Planung benutzt hatten, aber ganz gleich, wie die Zahlen aussahen, es machte die Sache für die Schärler unbehaglich. Schon hatten die ersten Ryngen Schießscharten in die Kasernenwände geschlagen und erwiderten das Feuer. Und Nathaniel ging davon aus, dass sie sich auf der anderen Seite des Forts zu einem Sturmangriff formierten, der die Schärler zurück ins Wasser treiben sollte.

Sein Puls hämmerte. Jeden Moment konnten die Ryngen mit blitzenden Bajonetten um die Ecke biegen. Sie würden vielleicht eine Salve abfeuern. Falls sie sich diese Mühe überhaupt machten. Fünfundzwanzig Schritt, dann würden sie über die Schärler kommen wie Katzen über die Mäuse.

Was mach’ ich jetzt? Falls die Mystrianer blieben, wo sie waren, würden die Tharyngen sie abschlachten. Falls sie die Flucht ergriffen, würde man sie abknallen. Er schaute zu Caleb und sah nicht den Soldaten, zu dem er geworden war, sondern den Knaben, der er vorher gewesen war. Was für ein Irrsinn, so ein Krieg.

Nathaniel zog das Beil aus dem Gürtel und legte es neben sein Knie. »Bajonette aufstecken, Jungs. Gebt Ihnen eine Salve auf mein Zeichen. Zielt flach.«

Musketen schepperten, als die Männer die Bajonette über den Lauf schoben, bis sie einhakten. Auf der anderen Seite der Festung ertönte eine Trillerpfeife. Eine ryngische Stimme brüllte Befehle. Stiefel trommelten im Gleichschritt – das harte Knallen verschluckte das gelegentliche Donnern einer Muskete. Wieder ertönte die Pfeife.

Fünfundzwanzig Schritt voraus stürmte mit wütendem Gebrüll die Zweite Kompanie des Siliziumregiments um ihr Hauptquartier, das Bajonett im Anschlag.

Nathaniel stand auf. »Wartet, Jungs. Wartet! Feuer!«

Die Schärler feuerten, aber gegen sechzig Mann richteten dreißig Musketen nicht viel aus. Hier und da ging ein Rynge zu Boden, aber seine Kameraden stürmten über ihn hinweg. Ein paar Schärler starrten ihnen schreckerfüllt entgegen. Ein paar andere ergriffen die Flucht. Wieder andere schauten sich um, und ihr Trotz löste sich beim Anblick der heranstürmenden Soldaten in Angst auf.

Nathaniel feuerte schnell, zertrümmerte die Trillerpfeife mitsamt dem Gesicht des Offiziers, der sie geblasen hatte. Dann lud er nach, so schnell er konnte, aber er wusste selbst, dass die Zeit nicht reichte. Das Donnern der heranstürmenden Stiefel bestätigte es. Die Kugel fiel ihm aus der Hand, aber er fing sie wieder auf, bevor sie auf den Boden schlug. Er stieß sie in die Kammer und hebelte diese zu.

Zu spät!

Die Ryngen waren so nahe heran, dass er das Weiße ihrer Augen und das Blitzen der Bajonette sah.

Plötzlich riss ihn jemand nach hinten, und Friedensreich Bein brüllte: »Runter!«

Friedensreich schwenkte eines der drehbaren Geschütze herum und schlug die Handfläche auf den eiergroßen Feuerstein. Er fletschte weiße Zähne in einer rußgeschwärzten Grimasse. Einen Augenblick später krachte das kleine Geschütz.

Im Vergleich zu den Kanonen der Korvette stellten die Schwenkgeschütze kaum eine Bedrohung dar. Sie konnten nur eine kleine Kanonenkugel von zwei Pfund Gewicht abfeuern, die von einem Schiffsrumpf harmlos abgeprallt wäre. Aber Menschen sind nicht aus Eichenholz, und diese Schwenkgeschütze waren mit Kartätschenmunition geladen, zwölf Kugeln pro Pfund, zwei Pfund pro Ladung.

Die Ryngen waren nur noch zehn Schritt vom Kai entfernt, als Friedensreich feuerte.

Glühende Metallkugeln spritzten in einer Eruption von Schwefel aus dem Lauf. Sie zerfledderten die vorderste Reihe. Stürmende Soldaten verwandelten sich innerhalb eines Augenblicks in kreischende Haufen blutigen Fleisches, zertrümmerter Knochen und glimmender Uniformen. Männer wurden nach hinten geschleudert, auf die Bajonette ihrer Kameraden. Die Kugeln bohrten sich durch die vordersten Soldaten und in die Männer hinter ihnen, zerfetzten Gedärme und rissen Beine am Knie ab. Hohe Schüsse ließen Schädel zu Schrapnell zerplatzen, das in die Leiber anderer Soldaten drang.

Und immer noch stürmten die Ryngen nach vorn. Manche rutschten in Blutlachen aus. Andere stolperten über schreiende Kameraden. Teile ihrer Mitsoldaten bedeckten ihre Uniformen, aber immer noch griffen sie an, stießen, aus vollem Leib brüllend, das Bajonett in die Reihen der Schärler.

Nathaniel feuerte, streckte einen Mann nieder, dann parierte er mit dem Gewehr einen Bajonettstoß. Der vor Wut blinde Rynge stürmte weiter auf ihn ein. Er erwischte Nathaniel mit der Schulter und warf ihn zurück.

Der Waldläufer schlug mit dem Hinterkopf auf die Steinmauer. Sterne explodierten hinter seinen Augen. Als er zu Boden fiel, flog das Gewehr davon. Der Rynge stand breitbeinig über ihm und hob die Flinte zum Todesstoß.

Kamiskwas Kriegskeule pfiff durch die Luft. Knochen barsten und Zähne flogen umher. Der Rynge taumelte davon und brach zu einem formlosen Haufen zusammen. Kamiskwa duckte sich aus dem Weg eines Bajonettstoßes und zertrümmerte mit einem Hieb die Schulter des Angreifers. Dann stieß der Altashie ihn zurück gegen einen dritten Soldaten, bevor er ihn mit einem Hieb zu Boden streckte, der ihn einmal um die eigene Achse drehte.

Nathaniel packte eine Muskete und stieß die anderthalb Fuß lange Klinge durch eine Soldatenbrust. Der Mann, der Caleb zu Boden geschlagen und durch den Oberschenkel gestochen hatte, riss den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ein Blutschwall erstickte seine Worte.

Mit einem kräftigen Zug befreite Nathaniel das Bajonett.

Er ließ sich neben Caleb auf ein Knie nieder und zog dem toten Ryngen die Schärpe ab. »Bindet das Bein ab, Lieftenant Frost. Ihr werdet mir nicht wegsterben.«

Calebs Antwort hörte Nathaniel nicht mehr.

Die Kanonen der Korvette donnerten. Schwere Eisenkugeln krachten durch das Dach des Hauptquartiers und zertrümmerten den Hauptbalken. Das Dach stürzte ein, aber die Kugeln setzten ihren Weg in die Osthälfte des Forts fort. Vom Zerschmettern der Dachziegel kaum gebremst, flogen sie als Querschläger durch den Innenhof. Männer schrien auf, und ein halbes Dutzend stürzte, als eine Kugel die Streben eines Wehrgangs zerschlug.

Im Osten krachte eine Musketensalve. Weitere Ryngen stürzten ins Innere des Forts. Nathaniel holte sich sein Gewehr und lief los. Die Bein-Brüder führten ihre Trupps die Wehrgänge entlang. Kamiskwa lief voraus, die Kriegskeule zum Schlag erhoben.

Als sie das Hauptgebäude erreichten, hatten die ersten der Südkolonienschärler die Außenmauern erreicht. Mit Sturmleitern, die sie aus Baumstämmen gehauen hatten, kletterten sie hoch. Die Tharyngen sahen sich von zwei Seiten angegriffen, legten hastig die Waffen nieder und öffneten Major Forst die Tore.

Der tharyngische Kommandant, Koronel Pierre Boucher, übergab Major Forst sein Schwert. Forst reichte das Schwert entsprechend auropäischer Sitte gegen das Versprechen, keinerlei weiteren Widerstand zu leisten, zurück. Der Koronel erklärte sich einverstanden, und mit Major Forsts Erlaubnis bildeten die Tharyngen auf seinen Befehl Gruppen, die ihre Verletzten einsammelten und ihre Toten bestatteten.

Nathaniel schob das Gewehr wieder in die Wildlederhülle. »Schätze, Major, wir ha’n Euch ein wenig überrascht.«

»Ich habe gelernt, im Krieg von keiner Wendung überrascht zu sein, Kapteyn Wald. Es läuft niemals so wie geplant, und leider ist zum Schluss immer eine Blutrechnung zu begleichen.« Der ältere Mann schaute sich um, und seine Miene wurde starr. »Caleb?«

»Hat sich ’ne Narbe und ’ne dazugehörige Geschichte eingehandelt. « Er nickte. »Hat seine Jungs gut geführt.«

»Gut. Ich danke Euch.«

»Und ich Euch, Sire, für die Rettungsaktion.« Nathaniel seufzte. Sein Hinterkopf schmerzte. »Schätze, es wird Zeit, die Rechnung aufzustellen. Mit Erlaubnis, Sire, mach ich mich dran.«

Zwei der Sommerland-Jungs waren bei der Eroberung der Korvette gefallen und zwei schwer verletzt worden. Einer der Toten war ein Lanatashie. Die Nordlandschärler hatten insgesamt fünfzehn Tote und fünf Verletzte zu beklagen. Ein Drittel der Toten waren Bücherwürmer. Es hätten sechs sein können, doch einem von ihnen hatte ein Exemplar von ›DIE BERUFUNG EINES KONTINENTS‹ das Leben gerettet, indem es eine Kugel auf Seite zweiundfünfzig aufhielt. Die Südkolonienschärler hatten niemanden verloren. Ihr einziger Verletzter war von der Sturmleiter gefallen und hatte sich das Bein gebrochen.

Major Forst brachte die Ryngen wieder mit den Gefangenen zusammen, dann musste jeder von ihnen unterschreiben, dass er als Bedingung für die Freilassung nicht mehr gegen Mystrianer kämpfen werde. Danach halfen die Schärler ihnen, Flöße und Kanus zu bauen, mit denen sie über den Fluss nach Kebeton aufbrachen.

Eigentlich hätte Friedensreich zu den Verletzten gezählt werden müssen, doch davon wollte er nichts hören. Er hatte noch nie eine Kanone abgefeuert gehabt und angenommen, sie würde wie eine große Muskete bedient. Folglich hatte er die Magie gewirkt, und der große Feuerstein hatte ihm mehr abgezogen als erwartet. Sein ganzer Unterarm war schwarz und blau. Er sagte jedem, es sei halb so wild, aber er wurde spürbar ruhiger und las Ryngen, die sein Schuss verletzt hatte, aus der Bibel vor.

Nathaniel fand Major Forst auf der Mauer über dem Osttor, als er ihm Meldung erstatten wollte. »Caleb erholt sich wieder. Haben die Wunde mit Mogiqua vollgestopft und fest verbunden. Ist nur eine Fleischwunde, nichts Ernstes.«

Forst nickte. »Ich werde den Familien der Gefallenen schreiben. «

Nathaniel runzelte die Stirn. »Schätze, ich werd’ auch ein paar Buchstaben lernen müssen, um das zu könn’.«

»Es ist keine angenehme Aufgabe.«

»Ist mir schon klar. Muss aber getan werden.« Er seufzte. »Gehört zu meiner Verantwortung für meine Männer.«

»Eure Männer?« Frost schmunzelte. »Brat mir einer ’nen Storch, ich hätte nie geglaubt, Euch das einmal sagen zu hören.«

»Will nicht behaupten, es fiele mir leicht, aber ich schätze, das wisst Ihr selbst. Und Ihr habt gewusst, dass es so kommt, als Ihr einen Offizier aus mir gemacht habt.«

»Mag schon sein.« Der Major legte Nathaniel die gesunde Hand auf die Schulter. »Ich wusste, Ihr hattet das Zeug zu einem guten Offizier.«

»Bin mir nicht sicher, ob ich das Vertrauen verdiene.« Er schaute zurück zum Kai. »Der Wahrheit die Ehre, als sie im Sturmlauf auf uns zukamen, hatte ich gewaltige Angst. Hätte weglaufen mögen.«

»Aber Ihr habt es nicht getan.«

»Nein, Sire.«

»Wisst Ihr, warum nicht?«

»Bin mir nicht sicher, ob ich zu verdammt stur war oder einfach ein verdammter Narr.«

Forst lachte, ein Klang, der gar nicht in das verwüstete Fort passen wollte, aber deswegen um nichts weniger willkommen war. »Ihr seid nicht weggelaufen, weil Eure Männer, hättet Ihr es getan, auch die Flucht ergriffen hätten und gestorben wären. Ihre einzige Chance bestand darin, sich dem Kampf zu stellen. Und das taten sie für Euch, weil sie Euch vertrauen. Ihr habt dieses Vertrauen nicht enttäuscht. Das dürft Ihr als Offizier niemals. Es würde Eure Männer umbringen, und selbst wenn Ihr überlebt, wärt Ihr danach innerlich tot.«

Nathaniel senkte den Blick. »Schätze, darüber muss ich noch eine Weile nachdenken, aber danke, Sire.«

»Mehr als gern geschehen, Kapteyn.« Forst nickte ernst. »Und Ihr habt guten Grund, Euch zu freuen. Die Mystrianischen Schärler haben eine größere Streitmacht besiegt und die Berichte über Villerupt Lügen gestraft.«

»Schätze mal, das stimmt.« Er gestattete sich ein kurzes Lächeln, dann zog er die Augenbrauen zusammen. »Fällt mir gerade auf, dass uns keiner gesagt hat, was wir mit dem Fort anstellen sollen, nachdem wir es erobert haben.«

»Das liegt daran, dass wir es gar nicht einnehmen sollten.« Forsts Augen wurden schmal. »Koronel Boucher hat mir gesagt, er habe aus Kebeton Nachricht erhalten, dass eine Einheit von einhundertfünfzig Mann im Anmarsch sei, um seine Festung einzunehmen. Er weigerte sich, die Meldung zu glauben, weil er sie für völlig absurd hielt. Ich vermute, er wartet immer noch darauf, dass der Rest unserer Einheit am Waldrand erscheint. «

»Schätze, die Warnung bedeutet, Todeskamm wollte uns in den Tod schicken.«

»Oder Rivendell, oder beider Gegner.« Forst schüttelte den Kopf. »Und möglicherweise ging es gar nicht darum, uns umzubringen, man wollte uns nur aus dem Weg schaffen.«

»Und das sind wir hier oben, oder?«

»Das sind wir allerdings.« Der Major starrte nach Osten. »Wenn wir den Wald ein Stück zurückschneiden und diesem Bau mit dem Holz eine Rückwand bauen, können wir es hier eine ziemliche Weile aushalten. Und ohne anderen Befehl halte ich das für einen annehmbaren Plan.«

Krieg der Drachen - Roman
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