SECHZEHNTES KAPITEL
2. Mai 1763
Des Prinzen Zuflucht
Mäßigungsbucht, Mystria
An der Flussseite des Wurmstands zogen der Prinz und Kamiskwa ein Birkenrindenkanu aus dem Gebüsch. Es war etwa fünfzehn Fuß lang und lief an beiden Enden spitz zu. An der linken Seite klaffte ein Loch, groß genug, dass ein Kind hätte die Hand hindurchstecken können. Die beiden Männer drehten es und stellten es auf die unbeschädigte Seite.
Kamiskwa studierte das Loch eine Weile, dann ging er zu drei Birken hinüber, die am Flussufer standen. Er fand ein Stück Rinde, das sich teilweise vom Stamm gelöst hatte, und schnitt mit einem Messer, dessen Klinge glasartig wirkte, ein Stück ab, gerade groß genug, um das Loch damit zu flicken. Er hockte sich ans Ufer, legte es ins Wasser und beschwerte es mit einem Stein.
Im Innern des Wurmstands schnaufte und schnaubte Magwamp. In der Dunkelheit hinter dem durch einen Querbalken verriegelten Tor leuchtete ein goldenes Auge.
Nathaniel brachte den Prinz und Owen zwischen sich und die Öffnung.
Owen musste schmunzeln. »Ihr habt doch keine Angst vor dem Lindwurm, oder doch?«
Nathaniel verzog leicht das Gesicht und erwiderte trocken: »Halte es für keine schlechte Idee, Abstand von was zu halten, das groß wie ein Haus ist und mich mit einem Biss runterschlucken könnte.«
Kamiskwa trat wieder zu ihnen. »Bei den Shedashie gibt es Geschichten über diese Kreaturen – sehr viel größere, mit Flügeln. Es sind keine schönen Geschichten.«
»Im Kampf sind Lindwürmer wild, aber Magwamp ist friedlich. « Owen gab sich gelassen und legte es darauf an, Nathaniel mit seiner Unbekümmertheit ein wenig zu ärgern. »Im Kriegseinsatz wäre er allerdings ziemlich schlimm.«
»Genau der Punkt, Kapteyn.« Nathaniel schüttelte den Kopf. »Schätze, wir bekommen unsere ganze Ausrüstung in dieses Kanu und brauchen kein zweites zu schleppen.«
Kamiskwa grunzte, dann kehrte er ans Ufer zurück und holte den nassen Rindenstreifen. Er kniete sich neben das Kanu und legte den Flicken auf die Hülle. Die rosige innere Rinde glänzte durch das Loch. Dann legte er die rechte Hand über das Loch und drückte von außen mit der linken dagegen. Langsam rieb er die Hände vor und zurück, in einer kreisenden, ovalen Bewegung, deren Geschwindigkeit allmählich zunahm.
Und er sang mit leiser Stimme in seiner eigenen Sprache.
Owen wollte fragen, was er da tat, aber Nathaniel hob warnend den Finger. Owen bemerkte einen leichten Duft, den Duft von gespaltenem grünem Holz. Kaum wahrnehmbar veränderte er sich zum erdigen Aroma eines Waldes nach einem kräftigen Regen.
Nach rund einer Minute verstummte Kamiskwa und stand auf. Das Loch ist weg! Owen trat näher. Er fand keine Spur des Loches, keinen Saum, nicht einmal eine Verfärbung. Und selbst von außen gab es kein Anzeichen, dass das Kanu jemals repariert worden war.
Er schauderte. Gerüchteweise hatte er von Schneidern und Näherinnen in den Diensten des Hochadels gehört, die Kleidung ohne Nähte herstellen, doch bei jeder Gelegenheit, ihre Arbeit zu begutachten, hatte er jedes Mal Spuren von Nadel und Faden gefunden. Einer der Matrosen auf der Koronet hatte Segelflicken mit Magie verstärkt, doch trotzdem hatte er sie grundsätzlich vernäht. So gut er auch gearbeitet hatte, es war nie ein Problem gewesen, die Flicken zu erkennen.
Aber was Kamiskwa hier getan hatte, war schlichtweg unmöglich. Dazu hätte er mächtiger als jeder Magier in Norisle sein müssen – ein Spitzenmagier seiner Heimat wäre nach einer derartigen Aufgabe erschöpft gewesen, doch der Altashie zeigte nicht das geringste Anzeichen von Müdigkeit.
Der Prinz hingegen strahlte. »Ich muss jedes Mal wieder staunen, wenn ich das sehe.«
Nathaniel grinste. »Das scheint hier eine gefährliche Gegend für unsere Kanus zu sein.«
Vladimir spießte ihn mit einem bösen Blick auf. »Meister Wald, sollte ich eine Vorführung wünschen, so würde ich sie auf eine Weise vorbereiten, die mir ermöglichte, genauestens zu messen, was geschieht, um später selbst den Versuch zu unternehmen. Ich bin sicher, Prinz Kamiskwa wäre bereit, mir diesen Gefallen zu erweisen, würde ich ihn darum bitten.«
Kamiskwa nickte, schmunzelte aber ebenfalls.
Vladimir hob den Zeigefinger. »Dabei fällt mir etwas ein.« Er drehte sich um und verschwand im Wurmstand.
Wald legte seine Taschen im vorderen Teil des Kanus ab. »Gute Boote, das. Robust und nicht so zerbrechlich, wie man meinen könnte. Trotzdem muss man sich vorsehen. Wäre nicht gut, den Fuß oder das Paddel durch die Seite zu stoßen.«
Kamiskwa ging zurück ans Ufer, dorthin, wo das Kanu verstaut gewesen war, und kehrte mit drei blattförmigen Paddeln zurück. Eines reichte er Wald, Owen aber erhielt keines.
Er runzelte die Stirn. »Ich bin vielleicht nicht in der Marine, doch kann ich paddeln.«
»Das ist nur ein Ersatz für alle Fälle. Das Kanu braucht lediglich zwei. Wenn Ihr mitpaddelt, ist es schwerer zu steuern.« Wald deutete auf die Mitte des Bootes. »Ihr seid selbsttätige Fracht, Kapteyn.«
»Hier ist noch etwas Fracht, für Euren Vater, Kamiskwa.« Der Prinz kehrte mit einem Sackleinenbeutel zurück, aus dem er eine von Magwamps Schuppen zog. »Es sind insgesamt vier. Ich hoffe, er findet dafür eine Verwendung.«
Owen streckte die Hand aus, und der Prinz gab ihm die Schuppe. »Habt Ihr sie bemalen und lackieren lassen?«
»Nein. Ich habe einfach vier aus einem Stapel gezogen.«
Der Soldat fuhr mit dem Finger einen roten Streifen nach. »Lindwurmreiter bemalen und lackieren Schuppen wie diese. Doch selbst dann sind sie niemals so schön oder glänzend.«
Vladimir nahm ihm die Schuppe wieder ab und steckte sie in den Beutel. »Während Eurer Abwesenheit werde ich etwas experimentieren. Ich werde ein paar in die Sonne legen und schauen, ob sich eine Wirkung zeigt. Ein weiteres Mysterium, das es zu erforschen gilt. Ich werde die Ergebnisse bei Eurer Rückkehr gerne mit Euch teilen.«
Kamiskwa verbeugte sich, dann nahm er das Geschenk entgegen. »Erneut erweist sich der Prinz als guter Freund der Altashie.«
»Ich erwidere nur, was die Altashie mir Gutes erwiesen haben. «
Der Zwielichtner verstaute die Lindwurmschuppen bei der übrigen Ausrüstung, bevor er und Nathaniel das Kanu aufhoben und zum Fluss trugen. Sie ließen es ins Wasser gleiten und zogen es dann parallel zum Ufer.
Nathaniel musterte Owen von oben bis unten. »Ihr solltet Stiefel und Strümpfe ausziehen. Eure Füße werden nass werden, und so trocknen sie schneller. Wird auch beim Heilen helfen.«
Das klang vernünftig, und Owen befolgte den Rat des Waldläufers. Das kühle Wasser und der weiche Uferschlamm tat seinen Füßen gut. Im Innern des Kanus verhinderte ein kleines Deck aus einzeln platzierten Zedernplanken, dass er mit dem Fuß durch den Boden brach.
Er arrangierte seinen Tornister so, dass er die Rückseite als Schreibunterlage nutzen konnte, und schob die Muskete in Griffweite rechts daneben.
Prinz Vladimir hielt das Heck des Kanus fest, während die beiden anderen Männer einstiegen, dann stieß er es hinaus in die Strömung. Er winkte ihnen vom Ufer nach. »Viel Glück!«
Sie nahmen Kurs stromaufwärts. Der Benjamin wies keine sonderlich starke Strömung auf, doch Nathaniel und Kamiskwa paddelten trotzdem kräftig, um gut voranzukommen. Schon nach kurzer Zeit glänzte die Haut der beiden Männer vor Schweiß, aber sie beschwerten sich nicht.
»Schätze, Kapteyn, Ihr habt inzwischen gemerkt, dass die Flüsse unsere Straßen sind. Man kommt aufwärts gut voran, abwärts noch besser. Ein Kanu voller Felle macht einen Mann unten in Port Maßvoll reich.«
»Das sehe ich.« Owen studierte das Ufer. Zum größten Teil war es bewaldet, mit gelegentlichen Marschlandbereichen voller Rohrkolben, hoher Gräser und leuchtender Blumen. »Kennt Ihr die Geschwindigkeit der Strömung?«
Nathaniel schüttelte den Kopf. Er hatte sein Rehlederhemd ausgezogen und paddelte mit bloßem Oberkörper. Unter der sonnengebräunten Haut arbeiteten die Muskeln in geschmeidiger Bewegung.
Ein paar Narben zeichneten sich ab. Owen erkannte die wulstigen Spuren einer Peitsche, zwei Messerstiche und eine Schusswunde, stellte jedoch keine Fragen. Falls Nathaniel Wert darauf legte, sie zu erklären, würde er das von sich aus tun, und falls nicht, gingen sie ihn nichts an.
»Sie fließt, wie sie will.«
»Ich muss es wissen, um Truppenbewegungen berechnen zu können.«
»Meilen per Stunde, meint Ihr?«
»Ja, in der Art.«
»Das wird Euch hier nicht viel nutzen, Kapteyn.« Wald grinste ihn über die Schulter an. »Kommt letztlich nicht drauf an, wie schnell der Fluss ist, mehr, wie schnell man auf ihm vorwärtskommt. «
Owen zog die Stirn in Falten. »Und das soll heißen?«
»Nun ja, sagen wir mal, der Fluss hat fünf Meilen die Stunde. Wenn ein Mann von Morgen bis Abend unterwegs ist, kommt er ziemlich weit.«
»Sechzig Meilen. Mit diesem Wissen kann ich abschätzen, wie schnell du Malphias Truppen in Stellung bringen könnte, um Port Maßvoll zu bedrohen.«
»Aber wenn seine Leute alle in Kanus steigen und schnell paddeln, kommen sie weiter, und Eure Rechnung ist falsch.«
»Gut, schon, doch …«
Nathaniel hob das Paddel aus dem Wasser und drehte sich halb zu Owen um. »Die Altashie kümmern sich nicht um Meilen. Für sie ist alles ›Pfad‹. Ein mächtig feines System.«
Owen zog ein Gesicht. »Lasst es mich klar aussprechen. Ich benötige Entfernungen, um eine Karte zeichnen zu können.«
Kamiskwa räusperte sich. »Kapteyn Radband, wie lange braucht ein Mann, um eine Eurer Meilen zu gehen?«
Owen schaute sich zu dem Altashie um. »Auf ebener Straße bei guter Geschwindigkeit schafft er drei in einer Stunde.«
»Und im Regen, ohne Straße, schwer beladen durch den Wald?«
Owen lachte, als er sich an mehr als einen Marsch dieser Art in den Tiefen Landen erinnerte. »Eine am Tag.«
»Entfernungen sind ohne Bedeutung. Wichtig ist die Geschwindigkeit, mit der man sich bewegt.« Kamiskwa setzte eine gönnerhafte Miene auf. »Wir kennen viele Pfade. Eure ebene Straße wäre ein simpler Pfad, auch haben wir keine ebenen Straßen. Ein Jagdpfad wäre langsamer. Ein Garrahai – ein Kriegspfad – viel schneller. Dann gibt es trockene und nasse Pfade, leichte und schwere Pfade. Wir haben ein Wort für jeden davon.«
Owen wollte einwenden, dass dieses System äußerst unpraktisch war, doch dann besann er sich. Für ein Volk, das mit den Jahreszeiten wanderte, in einem Land ohne feste Straßen, funktionierte es. Und auch wenn es ihm persönlich unpraktisch erschien, passte es zu diesem Land. Er machte sich mit dem Gedanken vertraut, für seine Karten Entfernungen im Nachhinein ausrechnen zu müssen. Ohne Vermessungsgehilfen würden seine Angaben auf jeden Fall ungenau ausfallen. Sein Sextant gestattete ihm, den Breitengrad festzustellen, doch ohne zwei Zeitmesser war es unmöglich, den Längengrad zu ermitteln.
Er runzelte die Stirn. »Wie messt ihr eine Flussreise, wenn Ihr nur Pfade kennt?«
»Dieser Fluss ist eine zwei-drei: ein zweimal so schneller Pfad stromaufwärts gefahren, dreimal so schnell stromabwärts.« Kamiskwa tauchte das Paddel wieder ein. »Das System funktioniert seit Urzeiten.«
Owen nickte. »Und die Karten derer, die vor mir kamen? Was ist mit den Entfernungen, die sie darin einzeichneten?«
Nathaniel zuckte die Achseln. »Schätze, die meisten sind wohl erfunden. Bin außerhalb von Gottesgaben nie einem der Astwerks begegnet. Einzige Entfernung, die sie wirklich kennen, ist die zwischen Kneipe und Brennerei.«
Der Altashie kicherte. »Sie messen in Torkelpfaden.«
Owen schwieg und lauschte dem Geräusch der Paddel im Wasser. Eine Libelle sauste herüber, flog eine Weile neben ihnen her und setzte sich dann auf eine der Querplanken. Ihre bunten Flügel glitzerten im Sonnenlicht. Die mahagonibraune Körperfarbe des Insekts erinnerte ihn einen Augenblick an Katherines Augen, dann drängte sich abrupt Bethany Frost in seine Gedanken. Das Insekt hätte sie sicherlich fasziniert.
Katherine müsste ich davor retten.
Die Libelle flog wieder auf und sauste im Zickzackflug ans Ufer. Owen folgte ihr mit Blicken, dann schaute er auf und keuchte. »Mein Gott, was ist das?« Er griff nach der Muskete.
Nathaniel drehte sich um und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, die Waffe liegen zu lassen. Er senkte die Stimme. »Das ist ’n Tanner. Auf die Entfernung würde Eure Kugel nichts bringen.«
Owen starrte wie gebannt. Die Kreatur schien ein Elch, doch einer von gewaltigen Ausmaßen. Seine Schulterhöhe war größer als Owens Körpergröße, und er war sich sicher, er hätte sich auf den Schaufeln ausstrecken können und es wäre noch reichlich Platz über seinem Kopf und unter seinen Füßen geblieben. Das Tier graste friedlich und hob wiederkäuend den Kopf, um zu ihnen herüberzuschauen.
»Ein Tanner?« Das braune Fell mit der weißen Blässe gab keinen Hinweis, worauf sich dieser Name beziehen mochte. »Warum nennt ihr es so?«
»Einer der ersten Forscher, die hier durchkamen, Blackston hieß er wohl, hat ihn ›Titanelch‹ getauft. Umständlich, der Name.«
»Und aus Ti-tan wurde Tanner. Verstehe.« Owen warf Nathaniel einen schrägen Blick zu. »Und ich könnte ihn sehr wohl treffen von hier.«
»Sicher.« Wald machte eine Kopfbewegung zu dem Elch hinüber. »Aber treffen ist nicht dasselbe wie erlegen. Für ’nen Tanner braucht es mehr als eine Kugel. Verletzt würde er noch ein gehöriges Stück laufen. Wir wären den ganzen Tag beschäftigt, ihn zu finden. Und wenn er uns fände, dann würden wir die Füße in die Hand nehmen.« Der Waldläufer seufzte. »Wenn wir auf der Jagd wären oder so, dann wär ein Biest wie das die Munition wert. Von dem Fleisch könnte ein ganzes Dorf eine Woche lang futtern. Und das Fell würde sogar Ehrwürden Binsen passen. Wäre in Port Maßvoll schon ein Pfund oder drei wert.«
Owen suchte in seiner Jackentasche. »Vielleicht steht er auf des Prinzen Liste.«
Die beiden anderen lachten. »Werdet eine Menge auf der Liste finden. Die Hälfte davon gibt es nicht.«
»Aber der Prinz …«
»Ist ein kluger Mann, so viel ist sicher, aber ein Teil von der Klugheit kommt aus Büchern, die die Zeit nicht wert sind, sie aufzuklappen.«
Kamiskwa räusperte sich. »Mein Volk hat den frühen Forschern Geschichten erzählt, für die sie mit verschiedenen hübschen Klunkern bezahlt haben. Je fantastischer die Geschichte, desto mehr haben sie gezahlt.«
Owen nickte. »Woher weiß ich, was wahr ist und was erfunden? «
»Weiß nur, was ich sehe, und glaube nur, was ich anfassen kann.«
»In mir regt sich der Eindruck, Meister Wald, dass dies eine sehr lange Reise wird.«
Die beiden Einheimischen glucksten und paddelten weiter. Owen beobachtete den Elch, bis er hinter einer Flussbiegung verschwand. Die schiere Größe der Kreatur beeindruckte ihn noch immer. Nirgends in Norisle oder auf dem auropäischen Festland existierte ein ähnliches Geschöpf von derart riesenhaftem Wuchs. Ihre Erhabenheit zauberte ein Lächeln auf seine Züge. Doch da war noch etwas anderes. Der Tanner, und möglicherweise auch die Art, wie die Zwielichtvölker Entfernungen maßen, erschienen ihm so primitiv.
Wobei für Owen primitiv durchaus nicht dasselbe wie rückständig war, wie es für viele andere der Fall gewesen wäre. Mystria erschien ihm wie ein Land im Tiefschlaf, voller Jugend noch und Vitalität. Norisle und Tharyngia waren über lange Zeit gründlich bearbeitet worden. Er hätte in keinem von beiden Ländern auch nur einen Bruchteil der bereits zurückgelegten Distanz reisen können, ohne auf Menschen zu stoßen oder zumindest auf Hinweise, dass in der Nähe Menschen lebten.
Die ersten Siedler und Forscher hatten die Eingeborenen Zwielichtvölker getauft, weil sie dazu neigten, sich in den Schatten zu halten. Man bekam sie außer in der Dämmerung kaum zu Gesicht, und selbst dann nur als Schatten. Sie waren ein Teil dieses Landes, und ihr Widerwille, sich zu zeigen, war als Furcht vor den weißen Männern und ihrer Magie ausgelegt worden.
Owen vermutete ganz andere Gründe. Die Shedashie waren wirklich ein Teil dieses Landes. Sie lebten mit ihm und ernteten seine Gaben, statt es zu brechen und unter ihren Willen zu zwingen. Sie hatten beobachtet, wie sich die Siedler verhielten, und wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Vermutlich hatten sie die Neuankömmlinge für bösartig gehalten, oder zumindest für verrückt.
Und für sie ist Habgier gleichbedeutend mit Wahnsinn.
An jenem ersten Nachmittag, umgeben nur von den Klängen des Windes, des Wassers, der Vögel, Insekten und springenden Fische, erkannte Owen, wie fern Norisle war. Nicht nur in Meilen oder Pfaden, sondern im ganzen Wesen dieses Landes. Mystria war kein Land, das leicht in die Knie zu zwingen war, obwohl der Krieg dazu wohl fähig wäre.
Und es war sein Auftrag, das Fundament für diesen Krieg zu legen. Er würde seine Pflicht gegenüber der Krone erfüllen, letztlich hatte er keine Wahl. Vermutlich war der Krieg nicht aufzuhalten, erst recht mit du Malphias irgendwo voraus. Doch falls es irgendeine Möglichkeit gab, die Dinge im Rahmen zu halten, einen Weg, Mystria zu retten, wollte er auch danach suchen.
Hätte er es nicht getan, hätte sein Versagen ihn bis ans Sterbebett verfolgt.