VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Anderswann
Der sich windende Weg
Nach nur einem Schritt auf den sich windenden Weg verwandelte sich die Welt. Das Flüstern des Windes verwandelte sich in das endlose Klirren zerspringenden Glases. Bei jedem Schritt zischte und knackte der Schnee wie Kohlen im Feuer. Wo der Himmel durch die Baumwipfel sichtbar wurde, war er von einem leuchtenden Grau, wie Owen es erst einmal zuvor gesehen hatte, auf der Überfahrt nach Mystria. Die Seeleute hatten zum Horizont gezeigt, waren leichenblaß geworden und hatten angefangen zu beten.
Owen presste den linken Arm fest auf das Loch in seiner Seite. Den rechten legte er über Quarante-neufs linke Schulter. Der Pasmorte stützte ihn mit einem Arm. Owen erinnerte sich an Nathaniel Walds Ermahnung und schloss das linke Auge. »Benutzt nur Euer rechtes Auge.«
Die Stimme des Pasmorte klang lustlos. »Es spielt keine Rolle. Ihre Magie wirkt nicht auf mich.«
Hinter ihnen ertönten Stimmen, gefolgt von zwei weiteren Schüssen. Einer traf Quarante-neuf tief im Rücken. Er grunzte, mehr als Folge des Schlages denn aus Schmerz, drehte sich und schob sich zwischen die tharyngischen Soldaten und Owen Radband. Der lugte an ihm vorbei, während er weiter den sich windenden Weg entlangschlurfte.
Die Tharyngen verteilten sich. Ihre Mienen waren ernst. Ein Offizier bellte Befehle. Die beiden Männer, die gefeuert hatten, luden ihre Musketen mit schnellen, effizienten Bewegungen nach. Doch als sie die Ladestöcke zurück unter den Lauf schieben wollten, wurden sie langsamer. Ihre Entschlossenheit ließ nach, die Angriffslust zerfloss zu Staunen. Sie öffneten die Hände, ließen die Musketen fallen, hatten sie offenbar schon vergessen.
Owen wagte nicht, das linke Auge zu öffnen, um nicht ebenso verführt zu werden wie die Ryngen. Kleine Kreaturen mit dürren Gliedern, aus Zweigen gewoben und mit Moos und Pilzen bewachsen, spielten keck Verstecken mit ihnen. Sie lugten hinter Baumstämmen hervor, und ihr helles Kichern erfüllte die Luft. Die Männer lachten und stürzten stolpernd vorwärts, fielen zu Boden. Sie kamen mit schneebedeckten Gesichtern wieder hoch und lachten noch lauter, in dem speziellen Tonfall, den Männer dafür reservieren, ihre eigene Dummheit vor Frauen einzugestehen, nach denen sie verlangen.
Jede militärische Disziplin war vergessen. Der Offizier verbeugte sich, zog mit weiter Geste den Hut und richtete sich wieder auf. Er bot einer knorrigen Dryade die behandschuhte Hand, dann nahm er das Wesen in den Arm wie eine Herzogin auf einem festlichen Ball in Feris. Sie tanzten, er bemerkenswert gut, wenn man bedachte, dass er Schneeschuhe trug. Seine Männer verteilten sich bei der Verfolgung ihrer eigenen Phantomgeliebten.
»Wir müssen fort von ihnen.« Owen drehte sich wieder nach Süden um und blieb stehen.
Eine weitere Kreatur war aufgetaucht. Während die anderen aus Geäst bestanden, hatte diese einen ausgewachsenen Baumstamm als Körper und kräftige Schößlinge als Gliedmaßen. Wo man Äste erwartet hätte, formten hölzerne Dornen eine Krone. Das Geschöpf saß mit angezogenen Knien vor ihnen, die Arme ausgebreitet. Obwohl es keine Augen hatte, konnte doch kein Zweifel daran bestehen, dass es sie beobachtete.
Worte formten sich aus leisem Murmeln und schienen aus dem Boden zu steigen. »Ihr kennt die Gefahren und trotzdem kommt ihr. Ihr seht gar nicht dumm aus.«
Owen zog seinen Arm von Quarante-neufs Schulter zurück und richtete sich so gerade wie möglich auf. »Außerhalb des Weges gibt es Dinge, die schlimmer sind als jedes Schicksal, das mich hier erwarten kann.«
»Die Abscheulichkeit.«
Die Kreatur bezog sich auf du Malphias’ Festung, und nach kurzer Überlegung verstand Owen auch, warum. Ihre Wände bestanden aus den Knochen dieses Wesens, und ihr Bau fraß sich in sein Reich. Die gedankenlos Befehle ausführenden Pasmortes hatten sich vermutlich bis an Orte vorgegraben, um die Menschen instinktiv einen Bogen geschlagen hätten.
»Der Schöpfer der Abscheulichkeit ist mein eingeschworener Feind.« Owen wählte seine Worte überlegt. Er wusste nicht, wie Quarante-neuf reagieren würde. Er fragte sich, ob du Malphias’ Magie auch auf dem sich windenden Weg effektiv war, aber die Anwesenheit des Pasmorte und die Andeutung von Schmerzen in Owens Beinen waren eine deutliche Antwort auf diese Frage. Oder nicht? Er spürte die Schusswunde und das Stechen der Nägel deutlicher als die stechenden Schmerzen, die bisher jeden Schritt begleitet hatten.
»Du bist in mein Reich gekommen. Was willst du von mir?«
»Wir wollen nichts.«
Bassnoten schwangen in Owens ganzem Körper. War das Gelächter?
»Menschen wollen immer etwas.«
»Ich will nur heim.«
»Natürlich willst du das.« Das Wesen erhob sich auf ein Knie und ragte hoch über ihnen auf. »Du hast meinen Kindern etwas zum Spielen gebracht.«
Owen schaute sich um, aber außer dem tanzenden Offizier sah er keinen Soldaten mehr. Vom Berghang klang Lachen herüber, und er bereitete sich innerlich auf Schreie des Entsetzens vor.
»Was wird aus ihnen?«
»Kümmert dich das?«
»Es sind Menschen wie ich. Natürlich ist es mir wichtig.«
Wieder brachte dunkles Gelächter Owens ganzen Leib zum Schwingen. »Das sagst du, weil du es für deine Pflicht hältst. Du hältst dich für überlegen, weil du dich über die anderen Tiere erhoben hast. Obwohl diese Menschen versucht haben, dich zu töten, glaubst du, ihr Schicksal muss dir etwas bedeuten, weil sie deinesgleichen sind. Aber in Wahrheit kümmert es dich nicht. Mit ihrem Tod wird auch deine Angst sterben. Gib es zu.«
Owen nickte. »Und sie tun mir leid.«
»Du redest dir ein, es sei Mitleid, Menschling, aber du verschleierst nur den wahren Grund. Schuld. Und das ist es, was euch von den Tieren trennt, euer Schuldgefühl. Eure sinnloseste Emotion, sauer und bitter, und doch habt ihr es euch anerzogen, sie für unausweichlich zu halten.«
Owen verspürte tatsächlich Schuldgefühle. Was die Tharyngen auch immer an Leid und Entsetzen erwartete, sie würden es erfahren, weil er sie auf den sich windenden Weg gelockt hatte. Dabei hatte er sie nicht gezwungen, ihm zu folgen. Sie waren vernunftbegabte Personen, die sich aus freien Stücken entschieden hatten, ihm zu folgen. Sie waren voll verantwortlich für ihr Handeln, und die daraus entstehenden Konsequenzen hatten sie selbst zu tragen.
Das Wesen lehnte sich vor. »Du bist wirklich schlau. Du hast es erfasst.«
Owen schüttelte den Kopf. »Schuld ist nicht nutzlos. Ohne sie würden wir immer wieder furchtbare Dinge tun. Wir hätten kein Gesetz.«
»Ihr wäret wild, wie ihr es einmal wart, und es stünde euch frei, die Welt zu besitzen. Frei, wieder unsere Lieblingsschoßtiere zu sein statt einer Plage, die ausgerottet gehört.«
»Ich verstehe nicht.«
»Nein, du weigerst dich, ein Verstehen zuzulassen.« Das Wesen setzte sich wieder zurück. »Ihr glaubt, das Wesen der Dinge zu verstehen, zu wissen, welche Absicht hinter ihnen steht. In euren Schöpfungsgeschichten weiß der Mensch, dass der Wald, der Garten, schon existierte, bevor er in die Welt trat. Er stellt sich über ihn, um zu verstecken, dass er ihn fürchtet. Es spielt keine Rolle.« Die Arme des Wesens öffneten sich. »Sie werden die größten Freuden und danach die schlimmsten Ängste erleben. Sie werden allein sein, verängstigt, und nachdem wir ihnen alle Gefühle ausgesaugt haben, werden sie sterben. Ihr Fleisch und Blut wird Nahrung für unsere Körper werden, so wie ihre Gefühle es für unsere Seelen sind.«
Owen betrachtete den tharyngischen Offizier und las die reine Freude auf seinen Zügen. Er wendete sich wieder ab. »Es wird nicht schnell gehen, oder?«
»Gnadenlos langsam.«
»Und wir?«
Das riesige Wesen stand auf. »Ich sehe mich in eurer Schuld. Nicht tief genug, um euch freizulassen, aber falls ihr mir einen Dienst erweist …«
»Welchen? Noch weitere anlocken?«
»Das werdet ihr, und noch mehr.« Das Wesen fegte mit einer Geästhand über den Boden und entfernte den Schnee ebenso wie eine Schicht nassen Laubes. Darunter wurde eine ovale Eisschicht sichtbar. »Ich benötige einen Tropfen Blut und deinen Blick in dieses gefrorene Glas.«
Owen nickte.
Das Wesen streckte einen Ast aus und stach ihn auf nicht gerade sanfte Weise in seine Wunde. Owen zuckte zusammen. Das Wesen bot ihm keine Entschuldigung an und ließ einen Blutstropfen auf das Eis fallen. Das restliche Blut wurde, soweit Owen es feststellen konnte, vom Holz aufgesogen, und eine grüne Knospe wuchs an der Stelle.
»Schau hin, Menschling.«
Owen kniete sich neben das durchscheinende Eis und starrte hinab. Es verwandelte sich in einen Spiegel. Einen Pulsschlag lang sah er sich selbst. Struppiger Bart, zerzaustes Haar, tief in den Höhlen liegende Augen. Die Gefangenschaft hatte ihn gezeichnet. Dann wurde das Eis klar. Er sah seine Frau Katherine vor sich stehen und ihn anschauen, mit hasserfülltem Blick.
»Nein, Katherine!« Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren, aber seine Finger trafen nur Eis. Es wurde wieder durchscheinend weiß, und der Blutstropfen war verschwunden.
Owen schaute auf. »Sie hasst mich nicht.«
»Du hast nicht gesehen, was ist, sondern was sein wird, aufgrund der Entscheidungen, die du triffst.« Wieder wogte Gelächter durch den Boden. »Ihre Liebe verdorrt, aber du wirst nichts davon bemerken, bis es zu spät ist.«
Owens Eingeweide verkrampften sich. Er hämmerte mit der Faust auf das Eis, versuchte es zu zertrümmern. Weder die Eisplatte noch seine Hand brach, aber beides wäre ihm recht gewesen. Er wollte diese Zukunft unbedingt zerstören, und wenn er sich dabei verletzte, umso besser.
Denn als das Bild sich geformt hatte und er das Gesicht einer Frau hatte sich aus den Schatten schälen sehen, hatte er für einen Pulsschlag, nur einen Pulsschlag, gefürchtet, es könnte Bethany sein. Und als es sich als seine Frau herausstellte, hatte er einen einzigen Pulsschlag lang Erleichterung verspürt.
Quarante-neuf zog ihn wieder auf die Beine, dann drehte er sich zu dem Wesen um. »Wollt Ihr von mir dasselbe?«
»Nein.« Das Wesen streckte den Arm aus und berührte seine Stirn mit der grünen Knospe. Innerhalb von drei Pulsschlägen erblühte die Knospe. Riesige grüne Blätter trieben aus, färbten sich rot und gold und fielen ab.
Quarante-neuf wankte und sank auf die Knie. »Ich verstehe.«
Owen drehte sich um. Die Miene des Pasmorte war zu einer reglosen Maske erstarrt. »Was habt Ihr mit ihm getan?«
»Ich habe einen Prozess beschleunigt, der bereits begonnen hatte.« Das Wesen trat zurück. Ein Weg öffnete sich nach Osten. »Ich kenne euch beide. Ich weiß, eure Leben werden voller Leid sein. Das wird mir gefallen, deswegen lasse ich euch weiterleben. «
Owen half Quarante-neuf auf. »Ihr habt gesagt, was ich sah, sei die Zukunft. Gibt es eine Möglichkeit, sie zu ändern?«
»Ein paar Möglichkeiten, falls du deine Entscheidungen mit Vorsicht triffst. Falls du dich daran erinnerst, was du wirklich bist. Aber das wirst du nicht. Es ist diese Reibung zwischen dem, was du bist, und dem, was du zu sein glaubst, die dir all das Leid bescheren wird.« Lachen stieg aus dem Boden und dem Schnee. »Ihr foltert euch mit solchem Können.«
Das Wesen deutete den Weg hinab. »Geht. Ihr werdet eure Welt anders, aber weitgehend gleich vorfinden. Geht, Söhne Mystrias, in dem Wissen, dass eure Zukunft euch die Freiheit erkauft hat.«
Owen legte den Arm um Quarante-neufs Taille und führte den Pasmorte den Weg entlang. Er sah keine weiteren Dryaden zwischen den Bäumen lauern und machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Er wusste, das Wesen wäre verschwunden und mit ihm alle Spuren der Tharyngen. Alles, was ihm vom sich windenden Weg blieb, war die Wahrheit – Leiden –, nicht die Illusion des Friedens.
»Was hat es Euch getan, Quarante-neuf? Was habt Ihr gesehen? «
»Es betrifft Euch nicht, Kapteyn. Wie es selbst sagte, es hat nur beschleunigt, was ohnehin geschah.«
»Sterbt Ihr?«
Quarante-neuf stieß ein kurzes Lachen aus. »Das ist keine Aufgabe, die man zwei Mal erledigen muss. Nein, meine Lebenskraft versiegt nicht.«
»Gut.« Owen blieb stehen und kippte vornüber. »Ich befürchte nämlich, die meine tut es.«
Der Pasmorte richtete sich auf. »Ich trage Euch.«
»Nein, mein Freund, lasst mich nur kurz rasten. Ein paar Schritte noch. Sobald wir über diese Kuppe dort sind, ruhe ich mich aus.«
Quarante-neuf legte den linken Arm um Owen und warf sich dessen rechten Arm wieder über die Schultern. Die Schritte des Pasmorte blieben kräftig, er hielt Owen problemlos aufrecht. Tatsächlich schien er mit jedem Schritt stärker zu werden. Er zeigte keine Spuren von Müdigkeit oder einer Verletzung durch die Schusswunden.
Dann musste Owen lachen. Das erscheint mir so, weil ich schwächer werde.
Sie kamen über den Hügel, und wieder veränderte sich die Welt. Ein kräftiger Ostwind schlug ihnen ins Gesicht und brachte eine Ladung nassen Schnees mit. Owen stolperte einen Schritt zurück, in der Hoffnung, sich auf den sich windenden Weg zu retten, doch der existierte nicht mehr. Statt auf einem Hügel standen sie mitten auf einer Wiese.
»Das verstehe ich nicht.« Owen hielt sich die Hand vors Gesicht. Er musste brüllen, um sich gegen den tosenden Wind verständlich zu machen. »Das kann nicht sein.«
Quarante-neuf lachte. »Wo wir gerade waren, kann nicht sein, Kapteyn. Dieser Ort ist. Und glücklicherweise weiß ich, wo wir sind. Kommt.«
Sie gingen weiter. Zumindest ging Quarante-neuf. Er schleppte Owen durch Schneewehen und zwang ihn, in Bewegung zu bleiben, wenn er anhalten wollte. »Das geht nicht, Kapteyn. Ihr werdet erfrieren. Wenn ihr euch nicht bewegt, sterbt Ihr.«
»Das ist ein besseres Schicksal als das, welches ich gesehen. Dass meine Gattin mich hasst.«
»Habt Ihr das wirklich gesehen?«
»Der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Meine Schuld.«
»Aber Ihr könnt es ändern. Das hat er gesagt.«
Owen brach zusammen und rollte sich ein. »Ich schaffe keinen Schritt mehr.«
»Und ich kann Euch nicht zu Schaden kommen lassen.«
Owen klopfte dem Pasmorte aufs Bein. »Da spricht nur du Malphias’ Magie aus Euch. Rettet Euch selbst. Wenn Ihr mich rettet, bringe ich ihn um.«
Quarante-neuf kniete nieder und hob Owen in seine Arme. »Was ich fühle, ist nicht seine Magie. Es ist die Magie der Freundschaft.«
Wie lange Quarante-neuf ihn so trug, wusste Owen nicht mehr zu sagen. Der Schneesturm verwandelte die Welt in einen zeitlosen, silbergrauen Tunnel. Mit Einbruch der Nacht wurde es kälter. Ohne die Körperwärme des Pasmorte wäre er erfroren.
Endlich setzte Quarante-neuf ihn ab. Owen öffnete die Augen und stellte fest, dass die Umgebung ihm vage vertraut erschien. Dieser Ort. Das ist das Frost-Haus. »Woher wisst Ihr?«
Quarante-neuf antwortete nicht. Er stand über Owen und hämmerte an die Tür. Wartete kurz und hämmerte noch einmal. Dann zog er sich die Treppe hinab zurück.
Owen streckte sich nach ihm aus, als er Schritte von der anderen Seite der Türe hörte. »Nein, Ihr könnt nicht gehen.«
Der Pasmorte schüttelte den Kopf. »Ich bin tot, aber ich erinnere mich. Deshalb muss ich gehen.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und gelbes Licht fiel hinaus in den Sturm. Quarante-neuf war nur noch ein vager Umriss, der im Schneegestöber verschwand. Schnee füllte seine Fußstapfen, und bis die Frosts Owen ausgezogen, verbunden und zu Bett gebracht hatten, würde nichts mehr darauf hinweisen, dass er jemals dort gewesen war.