SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
27. Juni 1763
Tannensee
Lindental, Mystria
Owen rieb sich das unrasierte Kinn. »Ungelogen?«
»Es war mein Vater. Sein Gesicht, es war erfroren, aber ich ’abe ihn erkannt.« Der junge Mann ließ den Kopf hängen. »Und doch, wisst Ihr, es war nicht mein Vater.«
»Soll heißen?«
Etienne kniff die Augen fest zusammen. »Seine Augen. Ich ’abe noch etwas von ihm darin gesehen, aber es war sehr wenig. Eine Andeutung von ihm. Er war nur ein Echo, ein leiser Nachhall in seinem eigenen Körper. Er hat sich bewegt, oui, aber eigentlich war er es nicht mehr.«
Jean schaute auf, und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Das ist nicht möglich, non? Man kann nicht aus dem Grab zurückkehren.«
»Schätze, der Herr hat es getan.«
»Ja, aber wenn man daran glaubt, Nathaniel, dann war er der Sohn Gottes. Ein einfacher Mensch kann das nicht.«
Friedensreich spuckte aus. »Das stimmt so nicht. In der Bibel weckt Elischa Tote auf. Einer erwacht wieder zum Leben, nur weil er Elischas Gebeine berührt hat. Und der Heilige Paulus hat einen Jungen wiedererweckt, der aus dem Fenster gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte. Und Petrus hat die Heilige Tabita auferweckt.«
Etienne öffnete die Augen wieder. »Aber der Mann aus Tharyngia, er ist kein Heiliger.«
»Du Malphias.«
Beide Ryngen schauten zu Owen hoch. Etienne zitterte. Jean schüttelte den Kopf. »Er ist der Teufel in Person.«
Nathaniel gluckste. »Un’ ich hab immer gedacht, Ihr seid nicht gläubig, Jean.«
»Er reicht, mich zu bekehren, Nathaniel. Götter, Dämonen, böse Gedanken in seinem Kopf, ich weiß es nicht, aber ich habe gesehen, was er getan hat.«
Owen hob die Hand. »Was der Knabe über einen Nachhall sagte. Ich entsinne mich an Männer mit Kopfwunden. Sie starben nicht daran, zumindest nicht sogleich. Sie fühlten keinen Schmerz. Sie erinnerten sich an manches. Sie waren beinahe wie Kinder.«
Etienne nickte. »Ja, so war es, ein wenig, aber mein Vater, er war nicht am Kopf verwundet.«
Nathaniel stand auf. »Frage mich, Owen, warum Ihr Euch so dagegen sträubt, was sie uns erzählen. Habt doch selbst gesagt, dass dieser du Malphias drüben auf ’m Kontinent Gräber geplündert hat. Was ist denn, wenn er einen Weg gefunden hat, die Toten aufzuwecken?« Er deutete auf die Ryngen. »Wie viele so wie Pierre habt Ihr gesehen?«
Jean zuckte die Achseln. »Ein Dutzend. Zwei.«
»Essen sie viel?«
»Ich habe nie einen etwas essen sehen. Aber wenn sie kaputt waren, hat der Teufel sie repariert.« Jean blickte zu Kamiskwa. »Die Pasmortes, er ’at sie benutzt, um den Ungarakii Angst einzujagen. «
Der Altashie nickte. »Wendigo. Sehr schlimm.«
Owen bekam eine Gänsehaut. »Wo ist er?«
Jeans Miene wurde ernst. »Ihr geht in den Tod. Nathaniel, Friedensreich, Ihr kennt den Amboss-See. Wo der Grüne Fluss aus ihm zum Lac Verleau fließt, auf den nördlichen ’öhen, er baut eine Festung. Er hat Kanonen und Soldaten. Sie ist uneinnehmbar. «
»Der Amboss-See? Wie weit ist das?«
»Eine Woche genau nach Westen.« Nathaniel kratzte sich am Kinn. »Der Amboss kriegt sein Wasser im Süden vom Tosenden Fluss und fließt südlich vom Langsee in den Misaawa. Und nach Osten in den Oberlauf vom Tillie.«
»Er schneidet uns vom Landesinnern ab und bedroht Lindental. « Owen senkte seine Muskete. »Wie weit ist der Bau seiner Festung fortgeschritten?«
Etienne breitete die Arme aus. »Sie ist riesig. Seine Arbeiter kennen keine Müdigkeit. Sie schleppen Steine, sie ’auen ’olz.«
»Könnt Ihr mir ein Bild von ihr zeichnen?«
Jean schüttelte den Kopf. »Es würde nichts nützen. Er baut sie in Stücken, reißt Teile ab, baut Teile auf. Und er baut nach unten, mon ami. Tief nach unten. Die Pasmortes gehen in die Tiefen. Aus den Eingeweiden der Erde ist Pierre gekommen.«
Owen kaute auf seiner Unterlippe. »Wie zuverlässig sind diese beiden?«
»Zuverlässig? Nicht sehr.«
»Kann man ihnen eine Nachricht anvertrauen?«
Jean lachte. »Wenn mich die Nachricht weit fort von du Malphias bringt, mon ami, werdet Ihr keinen besseren Kurier finden.«
»Ihr verdient Euch ein Pfund, ein Goldpfund, wenn ihr sie nach Port Maßvoll bringt.«
Jean nickte begeistert, sein Partner missmutig.
»Und ein Pfund Blei, wenn nicht«, knurrte Friedensreich hinter ihnen.
»Beru’igt Euch, mon ami Friedensreich. Ich bin Euer ’öchst ergebener Diener.« Jean lächelte. »Ich lebe, um zu dienen, und indem ich Euch diene, bleibe ich am Leben.«
Owen verfasste erneut zwei Botschaften, die eine verschlüsselt für den Prinzen, die andere ein Begleitbrief an Dr. Frost. Er versiegelte den ersten und versiegelte ihn danach im zweiten. Anschließend teilten die vier die Nachtwachen ein und behielten die beiden Ryngen bis zum Morgengrauen im Auge. Schließlich halfen sie den beiden, ihre Kanus zu beladen, und schickten sie los.
Als die Kanus schon ein Dutzend Schritt weit waren, kehrte Etienne zurück, das nasse Paddel über den Knien. »Mon Sieur Wald, ’abt Ihr meinen Vater gesehen?«
»Ja. Ham ihn erschossen. Seinen Kopf verbrannt. Gibt kein’ Grund mehr, Alpträume zu haben.«
»Ah. Ich verstehe. Merci.« Er drehte um und trieb das Kanu mit kräftigen Zügen an.
Friedensreich spuckte den davongleitenden Booten hinterher. »Gott gebe, dass der Knabe etwas daraus gelernt hat.«
»Schätze, eher wachsen Lindwürmern Flügel.« Nathaniel kratzte sich im Nacken. »Eine Woche bis zum Amboss. Noch ’ne Woche, um auf die andere Seite zu paddeln, mehr oder weniger. Es gibt ein paar Inseln, wo wir landen können, oder?«
Friedensreich Bein ging in die Hocke und zeichnete eine grobe Karte in den Sand. Die Umrisse erinnerten an einen von Nord nach Süd orientierten Amboss, dessen spitzes Ende gen Norden zeigte. Zum Osten wurde der See schmaler, dann wurde er am Fuß des Amboss wieder breiter. Der Grüne Fluss strömte im Südwesten in den See, und der Tosende Fluss verließ ihn nicht weit entfernt. Der abfließende Tillie teilte die Ostküste in zwei Hälften.
»Ein paar kleine Inseln in der Nähe von der Festung. Nicht viel mehr als Felsen. Zwei große, eine im Norden, eine genau im Osten von der Festung. Von der im Norden aus sehen wir gar nichts. Von der im Osten hätten wir gute Sicht, aber der Kerl wär ein rechter Trottel, wenn er da keine Soldaten postiert hätte.«
»Warum können wir von der nördlichen Insel aus nichts sehen?«
Der Hüne zog einen breiten Finger durch den Sand. »Jean hat’s die Höhen genannt. Jede Menge Berge.«
»Kämen wir in den Bergen näher heran, als die Inseln es sind?«
»Wir könnten auch einfach reinmarschieren, aber ich glaube kaum, dass der Kerl uns wieder rauslässt.«
Owen nickte. »Ich verstehe, Meister Bein. Aber ich muss diese Festung erkunden. Ich muss Karten zeichnen. Einfach daran vorbeizutreiben und das Weite zu suchen, wird nicht reichen. Ich weiß, dies ist eine äußerst gefahrvolle Unternehmung. Ihr seid alle mutige Männer, doch kein Geld der Welt könnte Euch für dieses Risiko entschädigen. Ich befreie Euch ausdrücklich von jedweder Verpflichtung. Ich werde dem Prinzen eine Nachricht schreiben und würde Euch bitten, sie ihm zu überbringen. Mir bleibt keine Wahl, als nach der Festung aufzubrechen, doch verlange ich nichts dergleichen von Euch.«
Nathaniels Augen wurden zu Schlitzen. »Wenn es nicht Geld genug gibt, um irgendwen dafür zu bezahlen, dass er sich das anguckt, warum geht Ihr dann?«
»Ich bin Offizier in der Armee Ihrer Majestät. Ich habe einen Treueschwur geleistet, und meine Order lautet, die tharyngischen Stellungen in Mystria zu erkunden.«
»Würde keiner wissen, wenn Ihr nicht geht. Ihr wärt nicht der Erste, der sich einen neuen Namen und ein neues Leben zulegt.«
»Mag sein, Meister Wald, doch ich wüsste es.« Er schob das Kinn vor. »Ich bin nicht bereit, ein ehrloses Leben zu führen.«
»Scheint mir, Ihr glaubt, wir schon.«
»Nein, keineswegs.« Owen öffnete die Hände. »Sobald wir vom Ostufer ablegen, betreten wir Gebiet, das nach dem Vertrag von Mastrick von 1760 Tharyngia gehört. Gekleidet wie ich bin, wird man mich als Spion behandeln und erschießen. Ihr werdet mein Schicksal teilen. Und falls nur ein Bruchteil dessen, was wir vermuten, der Wahrheit entspricht, könnte uns ein Schicksal noch weit schlimmer als der Tod erwarten.«
Der Waldläufer zog eine Augenbraue hoch. »Es geht Euch nicht darum, edel und norillisch und all das zu sein?«
Owen schüttelte traurig den Kopf. »Ich betrachte Euch als Freunde. Eure Leben sind mir zu wertvoll, um sie in so offenkundige Gefahr zu bringen. Ich weiß alles zu schätzen, was Ihr für mich getan habt. Ich hoffe nur, ich habe genug von Euch gelernt, um meine Mission zu Ende bringen. Mir bleibt keine andere Wahl.«
Nathaniel reckte sich. »Na ja, schätze, ich kann nur für mich selber reden, aber ich denke, mir bleibt auch keine Wahl. Wisst Ihr, als all die Astens und Fassens oder wie sie heißen gewettet haben, wie lange Ihr hier draußen durchhaltet, hab ich ihre Wetten angenommen. Un’ ich hab sie noch verdoppelt und gewettet, dass Ihr lebend zurückkommt. Ich muss mich hinter meinen Einsatz stellen.«
Kamiskwa nickte. »Meine Schwester erwartet, dass Ihr ihre Puppe zurückbringt. Ich komme mit.«
Friedensreich stand auf und klopfte sich den Sand von den Händen. »Ich warte schon die ganze Zeit auf das, wofür der Gute Hirte mich gerettet hat. Ich müsst schon ein verdammter Narr sein, zu glauben, das hier ist es nicht. Außerdem, als ich das letzte Mal nachgesehen hab, war Ryngen umbringen mehr ’ne Tugend als ’n Laster.«
Owen nickte ernst. »Da ist noch ein Punkt, den Ihr besser verstehen solltet. Wir werden in feindliches Gebiet eindringen. Wir ziehen in den Krieg. Ich kenne mich im Krieg so aus wie Ihr in der Wildnis. Von nun an führe ich das Kommando. Gebe ich einen Befehl, so führt Ihr ihn aus. Ist das klar?«
Die drei anderen schauten einander an, dann nickten sie. Nathaniel vollführte etwas, das entfernt einem Salutieren ähnelte. »Geht voran, Kapteyn Radband. In den Schlund der Hölle und wieder zurück.«
Aus Vorsicht wurden sie langsamer, so dass sie den Amboss-See erst eine Woche später zu Mittag erreichten. Sie brauchten bis zum Nachmittag, um zwei Kanus zu finden und zu reparieren. Friedensreich gelang es mit Rinde, etwas Pech und Gebeten, es Kamiskwa gleichzutun. Sein Flicken hielt ebenso gut, auch wenn er nicht nahtlos in den Rest des Rumpfes überging. Als sie die Boote ins Wasser ließen, hielt Owen Ausschau nach eindringendem Wasser, aber das Kanu war dicht.
Um kein unnötiges Risiko einzugehen, hielten sie sich ans Nordufer und bewegten sich nur nachts. Sie glitten vorsichtig über den See, zu keiner Zeit weiter als zwanzig Schritt vom Ufer entfernt. Das bot ihnen einen gewissen Schutz gegen den Nordwind, aber vor allem waren sie so von der Festung aus schwerer zu entdecken.
Als sie sich der Insel näherten, sammelte Owen seine Gedanken und notierte seine Überlegungen im Journal der Expedition. Der Weg vom Tannensee zum Amboss-See hatte ihm klargemacht, wie schwierig es tatsächlich sein würde, eine Armee heranzuführen, um die Festung anzugreifen. Es war möglich, die Truppen mit Transportschiffen bis nach Hutmacherburg zu bringen, aber von dort aus mussten die Soldaten marschieren. Sie würden eine Straße durch den Urwald schlagen müssen, ein Unternehmen, dass mindestens einen Monat Zeit beanspruchte, und selbst das nur bei gutem Wetter und solange keine ryngischen Truppen sie behinderten.
Am Amboss-See würden sie eine kleine Flotille von Booten bauen müssen, da eine Straße bis ans Südufer noch einmal fünfzig zusätzliche Meilen länger geworden wäre. Der Wald bot reichlich Rohmaterial für den Bau dieser Flotte, allerdings war an eine Überraschung danach nicht mehr zu denken. Das hieß, um die Festung einzunehmen, würde man sie belagern müssen, was noch mehr Männer und Nachschub erforderlich machte.
Die klügste Strategie der Norillier würde darin bestehen, am Zufluss des Tillie eine eigene Festung zu bauen. Dann wären die Ryngen gezwungen, zuerst diese Festung zu schleifen, bevor sie flussabwärts vorrücken konnten. Und Norisle hätte sich dadurch genügend Zeit erkauft, andere Verteidigungsstellungen auszubauen.
Owen formulierte solide Argumente für diesen Plan. Jemand wie Lhord Rivendell würde die Weisheit darin zwar niemals erkennen, aber Owens Oheim schon. Er würde den Plan übernehmen und als seine eigene Idee ausgeben. Der Gedanke ließ Wut in Owen aufsteigen, doch er erstickte sie.
Schließlich erreichten sie die nördliche Insel. Das rechteckige Stück Erde und Fels ragte zwanzig Schritt hoch aus dem Wasser, mit einer tiefen Senke in seiner Mitte. Ursprünglich war es nicht mehr als eine Ansammlung von Felsen gewesen, aber im Laufe der Zeit waren diese so von Moos, Sträuchern, Blumen und sogar Bäumen überwuchert worden, dass man sie gar nicht mehr sah. Die vier zogen die Kanus bis hinauf ins Innere der Insel und verzichteten auf ein Feuer. Sie hielten abwechselnd Wache, aber abgesehen von kreischenden Seetauchern und einem Elch, der sich den Weg über die Insel abkürzte, sahen oder hörten sie nichts allzu Bemerkenswertes.
Für die Erkundungsmission bereitete jeder der vier Männer einen Beutel mit vierundzwanzig Schuss Munition vor und wechselte den Feuerstein seiner Waffe aus. Sie gingen aus gutem Grund davon aus, dass sie so gut wie tot oder schlimmer waren, falls es ihnen nicht gelang, mögliche Verfolger abzuschütteln, bevor sie diesen Munitionsvorrat verbraucht hatten.
Owen ließ seine Tagebücher, die Pistole und die Schreibfedern auf der Insel. Zwei Bleistifte und ›DIE BERUFUNG EINES KONTINENTS‹ nahm er mit. Er konnte sich kurze Notizen in dem Bändchen machen, um sie später für den Bericht auszuführen. Auch die anderen verzichteten auf alles nicht zwingend Notwendige. Falls alles glattlief, würden sie einen kurzen Ausflug ans Westufer machen, sich umschauen, zurückkehren, um ihre Ausrüstung zu holen, und wieder nach Osten aufbrechen.
Früh am Morgen nutzten sie tief über dem Wasser hängenden Nebel aus und machten sich auf den Weg. Sie glitten einen Bach am Westufer hinauf und versteckten die Kanus an dessen Nordufer. Kamiskwa zeigte ihnen mehrere andere am Ufer verstaute Kanus und trat ein Ungarakii-Boot leck. Dann überquerten sie den Bach und machten sich auf den Weg nach Süden. Kamiskwa fand einen Wildwechsel, der sie zu einem Stück Marschland zwischen den Bergen brachte. Sie umgingen den Sumpf auf der Seeseite und stiegen einen bewaldeten Hang hinauf.
Knapp unter der Bergkuppe grinste Nathaniel. »Noch ein Berg, dann sehen wir, was nötig ist.«
Friedensreich, der ihnen ein Stück voraus war und bereits die Bergkuppe erreicht hatte, drehte sich um. Sein Gesicht war aschfahl. »Gott erbarme sich unserer Seelen.«
Owen hastete zu ihm hoch und warf sich flach auf den Bauch.
Im Süden, wo sie einen waldbedeckten Berg erwartet hatten, sah er eine rotbraune Narbe in der Landschaft. Der Berg am Seeufer war zur Hälfte abgetragen worden, Holz, Steine, alles.
Und hinter ihm ragte düster und kantig das Bauwerk auf, das schon bald als die Festung des Todes in die Annalen eingehen sollte.