NEUNZEHNTES KAPITEL
9. Mai 1763
Gottesgaben, Mystria
Owen stieß den Schädel vorsichtig mit dem Stock an. Das dreieckige Knochenfragment in der Nähe der Austrittswunde bewegte sich nicht. Obwohl die Bruchlinien im Knochen unübersehbar waren, war es wieder festgewachsen.
»Das ist einfach nicht möglich. Woher wusstet Ihr das, Kamiskwa? «
Der Altashie schüttelte den Kopf. »Es sind Spuren von Magie an ihm. Etwas Böses.«
Mit einer geschickten Drehung des Steckens zog Owen den Beutel unter der Leiche hervor. Dabei kam deren rechte Hand in Sicht, und er bemerkte einen Bronzering. »Meister Wald, könnt Ihr mir den Ring bringen?«
»Bin kein Grabräuber.«
»Das bin ich ebenfalls nicht, doch würde ich dieses Rätsel sehr gerne lösen.« Owen löste die Riemen des Beutels und öffnete ihn. Er zog ein Buch ganz ähnlich dem hervor, das er selbst im Gepäck hatte, sowie ein halbes Dutzend Bleistifte. »Sie sind rund. Keine norillische Ware. Wie werden sie hier hergestellt?«
Keiner seiner Begleiter wusste darauf eine Antwort. »Hab, glaube ich, schon mal runde in Neu-Tharyngia gesehen, aber ich behaupte nicht, dass es die nur da gibt.«
»Ich finde kein Messer, sie zu schärfen. Dieser hier ist angenagt. « Er öffnete das Tagebuch. Schriftzeichen und Zeichnungen füllten die Seiten. Der Text wirkte tharyngisch, ergab aber wenig Sinn. Zudem wurde er im Verlauf der Einträge immer schwerer lesbar. Die Buchstaben wurden zunehmend größer, und die Zeilen neigten sich der Unterkante der Seiten zu. Gelegentlich zogen sie sich von der linken über die Mitte auf die rechte Buchseite.
»Für mich ergibt das keinen Sinn, aber mir fällt etwas Erstaunliches auf. An keiner Stelle finde ich ein Datum. Andererseits sehe ich all diese schattierten Kreise. Ich vermute, sie stellen den Mond dar. Er wusste nicht, welcher Tag es war, daher zeichnete er jede Nacht die Mondphase ein.« Owen schloss das Buch. »Es ist jedoch eindeutig ryngisch. Schickt du Malphias seine eigenen Kundschafter aus?«
Nathaniel streckte die Hand aus und brach den Finger ab, um danach den Ring abzuziehen und etwas von der ledrigen Haut wegzuschnippen. »Maden sagen, er ist zwei Tage tot. Haut und Knochen: würde sagen, er ist schon sechs Monate tot. Das ist ’ne Weile, bevor Euer Mann hier ankam.«
Owen nahm den Ring und hob ihn ins Licht. Es war ein einfacher, in Bronze gegossener Siegelring. Auf der planen Front war ein ›P‹ eingraviert, darunter ›1/3‹. »Erste Kompanie, drittes Bataillon, Phosphor-Regiment. Diese Einheit wurde bei Villerupt vernichtet. Falls er dort war, ist er seit drei Jahren tot. Das ist unmöglich. Er muss früher bei ihr gedient haben und dann zu einem Neuanfang nach Mystria gekommen sein, wo er gestorben ist.«
Nathaniel nickte. »Ist eine ordentliche Erklärung.«
Owen stand auf und steckte Journal, Bleistifte und Ring in seine Tasche. »Der Prinz wird sein Tagebuch als interessantes Forschungsobjekt betrachten.«
Kamiskwa stimmte mit einem Nicken zu, und sie setzten ihren Weg fort. Sie liefen bis nach Sonnenuntergang und schlugen dann ein kaltes Lager auf. Die Nacht teilten sie in drei Schichten. Kamiskwa erklärte sich bereit, die letzte davon zu übernehmen und sie zu wecken, sobald es Zeit zum Aufbruch war. Nathaniel Wald hielt als erster Wache, so dass für Owen die tiefe Nacht blieb.
Ohne Feuer hatte er zu wenig Licht, um zu schreiben oder zu lesen. Trotzdem fischte er das Tagebuch des Toten aus seinem Gepäck und verglich die letzte Mondzeichnung mit der aktuellen Phase des Gestirns. Passend zu den Maden deutete auch die Zeichnung darauf hin, dass der letzte Eintrag drei, vielleicht vier Tage zuvor erfolgt war. Abgesehen von der Kopfwunde hatten sie keine deutlichen Verletzungen gesehen, so dass es ein Rätsel blieb, warum genau der Unbekannte ausgerechnet dort gestorben war. Und wie er trotz dieser Kopfwunde dorthin gelangte, war sogar noch mysteriöser.
Owen war weniger an den Todesumständen des Mannes interessiert als an dem Ort. Der Mann war bis dicht an den Punkt gelangt, an dem der Benjamin schiffbar wurde. Falls er für Guy du Malphias auf Kundschaft gewesen war, hatten sie damit möglicherweise durch puren Zufall die wahrscheinlichste Angriffsroute entdeckt. Ein enormer Glücksfall.
Der Soldat korrigierte sich. Du Malphias würde die Informationen in dem Tagebuch benötigen, das Owen an sich genommen hatte, um wirklich über den Benjamin anzugreifen. Es empfahl sich anzunehmen, dass der Rynge eine ganze Reihe von Kundschaftern ausgesandt hatte und zumindest ein Teil von ihnen mit Reisetagebüchern, die andere Möglichkeiten des Eindringens in die norillischen Kolonien beschrieben, den Weg zurück zu ihm finden würden. Das Buch in Owens Hand konnte möglicherweise zu du Malphias’ Festung führen, allerdings würde er ohne Zweifel Verteidigungsmaßnahmen für den Fall vorbereitet haben, dass einer seiner Kundschafter sein Journal verlor oder selbst in Gefangenschaft geriet.
Die Informationen in diesem Tagebuch sind äußerst wertvoll. Owen entschied, eine Notiz über den Fund zu schreiben und Kamiskwas Vater zu bitten, sie so schnell wie möglich Prinz Vladimir zu überbringen.
Er schmunzelte. »Immer vorausgesetzt natürlich, ich überlebe und komme dazu, die Notiz zu verfassen.«
Am nächsten Morgen setzten sie ihren Weg fort, allerdings langsamer als zuvor. Owen hielt Ausschau nach Gefahren, konnte sich aber trotzdem nicht der schieren Schönheit der Wälder entziehen. Das grüne Blätterdach leuchtete im Sonnenlicht. Immer wieder brach ein Lichtkegel hindurch, doch die grünen Schatten lösten die Ränder des Lichts auf und verliehen dem Land einen warmen Glanz. Er folgte den Wildwechseln, die Kamiskwa auswählte, doch bei jedem Blick durch die Bäume lockten zahllose andere Wege.
An einem Bach hielten sie an, und Owen starrte zu einem schattigen Trampelpfad einen nahen Hang hoch hinüber. Die Blätter bewegten sich so schwach im Wind, um die Schatten wandern zu lassen. Er glaubte, etwas zu sehen, und schob sich langsam näher. Es sah aus wie ein unter einem Baum hockendes Kind. Dann verschwand es. Etwas weiter tauchte ein junges Mädchen auf, dessen Gestalt ihn an seine Frau erinnerte, aber ihre Haut hatte die Farbe einer Shedashie. Und dann winkte ihm noch ein Stück weiter seine Mutter.
Eine Hand landete auf seiner Schulter, und er zuckte heftig zusammen. Er wirbelte herum. Nathaniel stand neben ihm. Kamiskwa stand sprungbereit am Bach, hundert Schritt entfernt. Das kann nicht sein. Wie kann ich mich so weit entfernt haben?
Er schaute zu Nathaniel hinüber und bemerkte, dass der Mann sich ein Auge zuhielt. »Was macht Ihr?«
»Seid Ihr Rechts- oder Linkshänder?«
»Rechts.«
»Schließt das linke Auge und schaut nochmal hin.«
Owen drehte sich wieder um und tat es, obwohl er nicht den geringsten Sinn darin erkennen konnte. Augenblicklich verwandelte sich der so einladend erscheinende Pfad. Noch immer tanzten grüne Lichter darüber, doch nun herrschten harte, schwarze Schatten vor. Die Gestalt, die er für seine Mutter angesehen hatte, verwandelte sich in eine krumme, kantige Figur, ein Alptraum aus verwachsenem Holz. Und dann zerstob sie wie von einem Windstoß zerblasen, einer Bö, die er weder fühlte noch sah, und die nichts anderes bewegte.
»Was …?«
»Pikwasahk. Der sich windende Weg.« Nathaniel legte ihm den Arm um die Schulter und steuerte ihn zurück zum Wasser. »Die Zwielichtvölker glauben, dass der Wald lebt. Es gibt Teile von ihm, die sind uralt. Und Wege in ihm, die sind genauso alt. Auf denen leben Dinge. Und sie haben Hunger.«
»Stimmt das?«
»Weiß ich nicht.« Wald zuckte die Schultern. »Hab den Ruf auch selbst schon gespürt. Gab Zeiten, da wollte ich in den Wald gehen, einfach nur gehen. Scheint so friedlich, dass man drin eintauchen möchte.«
»Und was ist diese Sache mit dem Schließen eines Auges?«
»Eure stärkere Hand ist die praktische Hand, sagen die Shedashie. Und das Auge auf der Seite das praktische Auge. Das andere ist das Seelenauge.«
»Und wenn man es verschließt, sieht man die Illusionen nicht mehr?«
»Scheint zu funktionieren.«
Sie kehrten zu Kamiskwa zurück, aber Owen hatte Mühe, das Gefühl von Frieden abzuschütteln. So viele seiner Bestandteile erkannte er wieder. Das Lächeln seiner Mutter. Katherine, die sich im Nachglanz der Leidenschaft an ihn klammerte. Bethanys Lächeln, selbst die rüde Kameradschaft der Soldaten im Feld. Allesamt Momente, in denen die Welt einfach verblasste, in denen er allein war und doch nicht allein, in der Gewissheit, dass alles gut war mit der Welt.
Seine Begleiter ließen ihm etwas Zeit, sich zu sammeln. Kamiskwa behielt ihn im Blick, als sie weitergingen, und einmal, als er einen Schritt neben den Pfad setzte, fasste er ihn an der Schulter.
»Warum geschieht das?«
Der Altashie schaute sich trotzig um. »Sie wollen Eure Kraft. Ihr besitzt starke Magie. Ihr habt weit entfernt gekämpft und Männer getötet, die sie nie geschmeckt haben. Ihr seid ein süßer Happen für sie. Ein frischer Geschmack. Sie hungern.«
»Warum haben Sie es nicht auf Euch abgesehen?«
Er lachte. »Das haben sie, aber mich bekommen sie nicht. Mich nicht, meine Kinder nicht, noch deren Kinder.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Als mein Vater jung war, verirrte sich seine Schwester auf dem sich windenden Weg. Alle hatten Angst. Der Herbst war angebrochen und versprach einen frühen Winter. Die Alten wollten Beute machen, bevor der Winter kam, bevor sie sich zurückzogen.«
»Zum Winterschlaf?«
Kamiskwa schüttelte den Kopf. »Um sich zu verstecken. Es gibt auch Dinge, die sie als Beute betrachten. Mein Vater hatte keine Angst. Er betrat den sich windenden Weg. Sie schickten viele Krieger, um ihn aufzuhalten, doch er besiegte sie alle. Er holte seine Schwester zurück. Und er nahm ihnen das Versprechen ab, für vier Generationen keine Jagd auf uns zu machen.«
Owens Augen wurden schmal. Er war nicht sicher, ob das, was er gerade gehört hatte, die Wahrheit war oder ein Märchen von der Sorte, wie sie Kundschafter und andere Offiziere auch schon gehört hatten, die vor ihm auf dieser Mission gewesen waren. Andererseits spürte er immer noch das Verlangen. Er fragte sich, ob die Sirenen in den alten hellenischen Sagen alte Geister hungrig nach Menschen gewesen waren.
»Aus Auropa sind solcherart Dinge längst verschwunden.«
»Wirklich?« Kamiskwa lächelte. »Oder haben sie sich nur eine andere Umgebung gesucht? Kann man sich in Euren Städten, Euren Wäldern nicht verirren?«
Owen lief ein Schauder den Rücken hinab. »Es gibt immer wieder Geschichten von verschwundenen Kindern. In den Tiefen Landen sind Männer verschwunden. Wir dachten, sie wären desertiert, aber vielleicht …«
Er schaute sich noch einmal um. »Dieses Land ist noch gefährlicher, als ich mir vorstellen kann, nicht wahr?«
Nathaniel lachte. »Schätze, wenn das so ist, dann haben sie den falschen Mann auf Kundschaft geschickt.«
Owen hob eine Augenbraue und fixierte den Waldläufer.
Der Mystrianer hob die Hand. »Hab nicht gesagt, dass es wirklich so ist, Kapteyn Radband. War nur ’ne Vermutung. Tatsächlich hat Ihr in ’ner Handvoll Tagen mehr gesehen als die meisten von all Euren Landsleuten zusammen. Und ihr bettelt nicht, zurück nach Port Maßvoll zu dürfen, also schätze ich, Ihr seid schon der richtige Mann.«
Obwohl er nicht gänzlich zufrieden war, ließ Owen sich von Nathaniels Worten milde stimmen. Es half nichts, sich über eine hingeworfene Bemerkung aufzuregen, erst recht nicht, wenn sie auf der Wahrheit basierte. Owen hatte in der Schule und beim Militär eine Menge Zeit damit verbracht, gegen Vorurteile anzukämpfen, nur weil er zur Hälfte Mystrianer war. Er war daran gewöhnt. Hier in Mystria aus anderen Gründen unterschätzt zu werden, das überraschte ihn jedoch.
Während er über Nathaniels Bemerkung nachdachte – und seinen Hut auflas, nachdem ihn mal wieder ein Ast vom Kopf gerissen hatte – erkannte er den Unterschied zwischen beiden Positionen. Die Norillier schauten für etwas auf ihn herab, wofür er nichts konnte: die Umstände seiner Geburt. Die Mystrianer beurteilten ihn für etwas, das er ändern konnte: seinen Mangel an Erfahrung. Nathaniel und Kamiskwa halfen ihm sogar, Erfahrung zu sammeln, und beschützten ihn vor Gefahren, die er nicht verstehen konnte. Sie betrachteten ihn vielleicht mit Misstrauen, doch zugleich waren sie bereit, ihm eine Chance zu geben.
Er holte Nathaniel ein, als sie ein schmales Wiesenstück am Eingang eines bewaldeten Tales erreichten. »Ich weiß die Hilfe zu schätzen, die Ihr mir habt zuteilwerden lassen. Ich möchte, dass Ihr das wisst.«
»Nett von Euch.« Der Mann nickte mit ernster Miene. »Schätze, ich hab Euch nach anderen Norilliern beurteilt, und das war nicht so gerecht. Tut mir leid, Kapteyn.«
»Ihr habt keinen Grund, Euch zu entschuldigen, Sire.«
Vor ihnen im hüfthohen Gras wurde Kamiskwa langsamer. Nathaniel legte Owen eine Hand auf die Brust.
»Was?«
»Falls uns hier in der Gegend ein Geopahr begegnet, ist das hier die Sorte Gegend, die sie mögen.« Nathaniel deutete über die Wiese auf einen Baum am Waldrand, der am Stamm seines Nachbarn lehnte. »War ganz ähnlich, als wir dem Geopahr beim Prinzen begegnet sind. Saß oben auf einem Stamm wie dem da …«
Wald stieß einen lauten Pfiff aus, und Kamiskwa warf sich nach vorne. Ohne weitere Warnung riss der Mystrianer das Gewehr hoch; sein Daumen legte sich auf den Feuerstein, und eine Flamme schoss aus der Mündung. Donner krachte, Qualm stieg auf und nahm Owen die Sicht.
Aber nicht, bevor er in der Ferne eine Rauchwolke sah, einen Schuss hörte und das Pfeifen einer Kugel, die durch das hohe Gras schnitt, bevor sie ihn von den Beinen riss.