ERSTES KAPITEL

27. April 1763
An Bord der Koronet
Mäßigungsbucht, Mystria

 

 

 

Kapteyn Owen Radband stand auf dem Steuerdeck der Koronet und lächelte erleichtert, als das Schiff um die Landzunge segelte. Es ging noch immer ein steter Wind, doch im Hafenbecken war das Wasser ruhig. Die Sonne strahlte am Firmament, und die wütenden Wolken, aus denen endlose Sturmböen auf das Schiff eingetrommelt hatten, waren verschwunden. Ein leichter Nebel stieg von den tiefblauen Wellen empor.

Sein Magen beruhigte sich, und Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Die Überfahrt nach Mystria war eine Strafe gewesen. Nach sieben Wochen Seekrankheit hatte er zwanzig Pfund Gewicht verloren und fühlte sich nun unerträglich schwach. Selbst nach den schlimmsten Feldzügen, Kampfverletzungen und langen, kalten Rückzugsmärschen hatte er sich kein einziges Mal so elend gefühlt.

Der Kapitän des Schiffes, Gideon Segeltuch, drehte sich mit freundlicher Miene zu ihm um, als der Steuermann das Rad ausrichtete und der Erste Maat mit lauter Stimme die Matrosen in die Takelage scheuchte, die Segel einzuholen. »Wenigstens haben wir es noch vor Mai geschafft. Als wir in Norisle aufgebrochen sind, hätte ich es nicht für möglich gehalten.«

»Ich habe die Tage gezählt.«

Gideon schüttelte den Kopf. »Ihr habt die Stunden gezählt, Meister Radband. Oder, Kapteyn Radband, der Korrektheit halber. « Der Seemann musterte ihn von Kopf bis Fuß. »So furchtbar Ihr Euch sicherlich fühlt, macht Ihr in Uniform doch eine gute Figur. Ihrer Majestät Lindwurmreiter, richtig?«

»So ist es, und Ihr schmeichelt mir, Sire.« Owen streckte die Arme zur Seite. »Inzwischen ist sie mir zu groß. Meine Frau ließ sie als Überraschung auf Maß anfertigen. Sie wäre entsetzt.«

»Ihr hättet sie mitbringen sollen. Sie hätte sie ändern können. «

Owen schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich recht sicher bin, Kapitän, dass sie die Gesellschaft Eurer Gemahlin und der anderen Damen an Bord genossen hätte, ist sie doch letztlich ein zartes Wesen. Ich weiß nicht, wie ihr die Seereise bekommen wäre, und ich glaube nicht, dass die Kolonien ihr zusagen würden. Dazu hängt sie zu sehr an den Bällen und gesellschaftlichen Anlässen.«

»Ist sie es, der Ihr all die Briefe schriebt?«

»So ist es, und ich wäre Euch zu Dank verpflichtet, würdet Ihr sie mit zurück nach Norisle nehmen, sobald Ihr wieder in See stecht.«

Segeltuch nickte. »Es wird mir ein Vergnügen sein. Das zumindest schulde ich Euch, nachdem Ihr wegen Meister Wattling eingreifen musstet.«

»Ich weiß Eure Diskretion in dieser Angelegenheit zu schätzen. « Aus Gründen der Geheimhaltung war Owen nachts an Bord gegangen und hatte sich weitgehend unter Deck aufgehalten, bis sie die auropäische Küste weit hinter sich gelassen hatten, denn die Tharyngen hatten ihre Spione überall. Nicht einmal das kleine Kontingent Marineinfanteristen, bei denen er untergebracht war, hatte von seinem Rang gewusst, bis er an diesem Morgen seine Uniform ausgepackt hatte.

Kapitän Segeltuch war der einzige andere Mensch an Bord, der darüber informiert war, wie wichtig seine Reise für die Krone war, und er hatte sich gewissenhaft an die Order gehalten, keinerlei Aufmerksamkeit auf ihn zu ziehen, selbst als Owen einen anderen Passagier daran gehindert hatte, dessen Diener zu Tode zu prügeln – in direktem Widerspruch zu seinem Befehl, nicht aufzufallen. Segeltuch hatte Meister Wattling beruhigt und Owen Gelegenheit verschafft, sich zurückzuziehen.

»Welch ein Betrug beleidigt meine Augen?« Ein rundlicher Mann mit rot angelaufenen Zügen stieg aufs Deck herauf und stiefelte geradewegs auf die beiden Offiziere zu. »Diesen Kerl als Soldaten zu verkleiden, wird ihn nicht vor der Bestrafung retten. Ich habe Euch befohlen, ihn auspeitschen zu lassen, Kapitän Segeltuch, und Ihr werdet diesen Befehl befolgen!«

Gideon schob das Kinn vor. »Meister Wattling, darf ich Euch Kapteyn Owen Radband von Ihrer Majestät Lindwurmreitern vorstellen.«

»Ich bin kein Idiot, Kapitän. Das rote Tuch mit den blauen Aufschlägen, die Paspeln, all das – ich kenne die Einheit sehr gut. Ein schamloser Betrug, sage ich Euch, und Ihr werdet damit nicht durchkommen. Nein, Sire!« Der stämmige Mann hämmerte mit dem Gehstock auf die Planken. »Ihr Sträflingspack steckt alle unter einer Decke. Ich hätte es mir denken können!«

»Wollt Ihr damit andeuten, Sire, ich trüge diese Uniform, um Euch zu täuschen?«

»Natürlich tut Ihr das, verflucht, noch deutlicher kann ich es wohl nicht sagen.« Wattling kniff die Schweinsaugen zu Schlitzen zusammen. »Ein Mystrianer im Dienste Ihrer Majestät, mag sein, doch ein Kapteyn? Niemals! Es gibt Standards, Sire, und die erfüllt Ihr ganz gewiss nicht. Offiziere sind Ehrenmänner, und das seid Ihr nicht. Kein Sträfling oder Freigelassener hätte je eine Chance, diesen Status zu erreichen!«

Kapitän Segeltuch stieg Farbe ins wettergegerbte Gesicht, doch er hielt sich zurück.

Owen trat dem wütenden Mann entgegen. »Meister Wattling, wir hatten eine schwere Überfahrt. Ich will Eure schlechte Laune und das ungebührliche Betragen der Erschöpfung zuschreiben. «

»Tut, was Ihr wollt, aber ich bin kein Narr …«

Owen hob die Stimme und fixierte den Mann zusätzlich mit einem strengen Blick seiner grünen Augen. »Sie, Sire, sollten besser zuhören statt zu reden.«

Wattling hob den Stock. »Kein dreckiger Kolonist darf in einem solchen Ton mit mir reden! Peitscht ihn aus, Kapitän! Auf der Stelle!«

Gideon Segeltuch schob sich zwischen die beiden. »Vergesst nicht, Sire, dass Ihr Euch auf einem Schiff voller dreckiger Kolonisten aufhaltet und es ein weiter, weiter Weg bis Port Maßvoll ist, wenn man ihn schwimmend zurücklegen muss.«

Wattling zögerte eine Sekunde, dann wich er etwas zurück und lachte bellend. »Das wagt Ihr nicht. Keiner von Euch. Dazu seid Ihr Mystrianer zu weich, zu feige. Die moralischen Defekte, deretwegen man euch hierher verschifft hat, könnt ihr nicht verleugnen. In einem fruchtbaren Land des Überflusses könnt ihr euch kaum das Überleben sichern, und ihr besitzt weder die Intelligenz noch den Mut echten Geblüts.«

Er hielt den Gehstock in die Höhe wie ein Szepter. »Ich weiß alles über euch, alles, was ich wissen muss. Ich kenne jedes Wort in Lhord Rivendells ›DIE FÜNF TAGE DER SCHLACHT VON VILLERUPT‹. War gezwungen, es zu lesen. Habe selbst die Lettern gesetzt und es auf der Presse gedruckt, die hier im Frachtraum dieses Schiffes steht. Ich weiß alles über die Feigheit der Kolonisten im Angesicht der gottlosen Tharyngen.«

»Ihr habt dieses Lügenpamphlet gedruckt?« Noch während er es aussprach, wusste Owen, dass er zu weit gegangen war.

»Lügen?« Wattlings Züge erstarrten vor Zorn, als wären sie in Blei gegossen. Selbst seine Hängebacken zitterten nicht länger. »Ich habe jedes Wort so gesetzt, wie ich es von Seiner Lhordschaft persönlich erhielt. Wollt Ihr behaupten, er habe gelogen?«

Owen schüttelte den Kopf. »Er war nicht einmal dort. Ich hingegen schon. Erstes Bataillon, Kundschafterkompanie. Lhord Rivendell ist nicht näher an Villerupt gekommen als bis L’Averne. Wegen seiner Gicht konnte er nicht marschieren und wegen seiner Hämorrhoiden nicht reiten.« Außerdem hatte Rivendell dem medizinischen Branntwein so großzügig zugesprochen, dass er die ersten drei Tage der Schlacht verschlafen hatte und die beiden letzten von einem schweren Kater geplagt worden war, aber Radband verzichtete darauf, das zu erwähnen.

»Das ist ein Skandal! Ihr wagt es, den Mann zu beleidigen!«

»Ihr beleidigt die Kolonisten.«

Wattling schüttelte den Stock. »Wollt Ihr behaupten, der Feind hätte die Mystrianischen Schärler am dritten Tag der Schlacht nicht zerschlagen?«

Owen hob den Kopf und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Ich will sagen, Sire, dass sie nicht minder hart gefochten haben als irgendwer sonst auf dem Feld. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war dort.«

»Dann seid Ihr natürlich mit ihnen davongerannt. Ein Feigling deckt den anderen.«

»Meister Wattling, verfügt Ihr über irgendeine handfeste Erfahrung im Kriegshandwerk?«

Wattling wich seinem Blick aus. »Die Krone hat meine Dienste nicht in Anspruch genommen.«

Und Ihr habt es nie in Betracht gezogen, ein Offizierspatent zu erstehen. »In der Woche vor der Schlacht hat es ununterbrochen geregnet. Die Männer, Norillier und Kolonisten gleichermaßen, froren, waren durchnässt und demoralisiert. Unser halber Schwefel war nass, unsere Musketen angerostet. Viele der Männer waren barfuß, und wir hatten sehr viel besseren Proviant auf diesem Schiff als dort im Feld. Der Regen verwandelte alles in einen Sumpf. Er unterspülte Straßen und Brücken.«

»Soldaten haben sich ihr Tagewerk selbst ausgesucht, Sire.«

»Das haben Sie, Sire, und es stünde Euch wohl an, über den Mut von Männern nachzudenken, die, in Mystria geboren, dem Ruf der Krone folgten und sich in ein Land einschifften, das nicht einer von ihnen je gesehen. Einhundertundachtzig Mann, drei Kompanien. Major Forsts Kompanie war kaum ausgebildet, und trotzdem sollte sie auf Lhord Rivendells Order die linke Flanke sichern, am Rande eines Waldes, den seine Lhordschaft für unpassierbar hielt.«

Owen bebte unter den zu schnell auf ihn einstürzenden Erinnerungen. Brigadeere Richard Ventnor, der spätere Herzog von Todeskamm, hatte Rivendells Truppen gut geführt und war schneidig auf Villerupt vorgestoßen. Die Tharyngen waren zurückgewichen, und an jenem dritten Tag hatte es auf der schmalen Ebene von Artennes ganz den Anschein gehabt, als stünde die Entscheidung unmittelbar bevor.

»Ihr solltet verstehen, Meister Wattling, dass sich die Mystrianer in den Scharmützeln der ersten beiden Tage neben meinen Leuten gut geschlagen hatten. Bei Artennes jedoch kam das Regiment der Plattengarde auf Holzfällerstraßen durch den vermeintlich unpassierbaren Wald. Auf breiten Holzfällerstraßen. Ihr erinnert Euch sicherlich an die Plattengarde. Zwei Jahre zuvor hatten sie Lhord Rivendell vom Kontinent getrieben.« Owen wartete nicht auf die Antwort seines Gegenübers. »Ein Bataillon leichter Schützen gegen Tharyngias Garde-Elite. Die Mystrianer hielten die Stellung und feuerten drei Salven, bevor der Feind ihre Reihen durchbrach, und selbst dann noch formierten sie sich neu und störten die Garde.«

»Wie dem auch sei, sie haben versagt. Sie haben den Feind nicht aufgehalten. Sie hätten sich teuer verkaufen müssen, bis zum letzten Atemzug. Aber das konnten sie nicht. Es war nicht ihre Natur. Und es ist nicht Eure Natur.«

»Sie haben sehr wohl gekämpft. Ihr Anführer verlor den halben Arm, und seine Einheit über die Hälfte ihrer Männer.« Owen ballte die Fäuste. »Und lasst mich hinzufügen, Meister Wattling, dass Lhord Rivendells Sohn John die Bitte ignorierte, uns zu Hilfe zu eilen. Es war seine Untätigkeit, die das Schicksal der linken Flanke besiegelte.«

»Noch eine Lüge aus dem Mund eines Feiglings!«

Owen senkte die Stimme. »Aus Respekt vor Kapitän Segeltuch fordere ich gleich hier und jetzt dafür keine Satisfaktion von Euch, Sire. Und weil mein Oheim Richard, der Herzog vom Todeskamm, Duelle nicht gerne sieht.«

»Euer Oheim, Sire?«

»Meine Mutter ist die Gemahlin seines jüngeren Bruders. Dies macht ihn zu meinem Oheim.«

Wattlings Wangen bebten. »Aber, Sire, Euer Name. Radband ist ein mystrianischer Name.«

»Denn mein Vater war Mystrianer, ein Seemann wie der gute Kapitän hier neben uns. Er lernte meine Mutter kennen, ehelichte sie und zeugte mich, bevor Piraten sein Schiff versenkten. Später heiratete sie Francis Ventnor.«

Wattling fiel die Kinnlade herunter. »Ich hatte ja keine Ahnung, Sire.«

»Das konntet Ihr auch nicht, da Kapitän Segeltuch strikte Order hatte, meine Identität geheim zu halten. Ich hatte meine Befehle, wie Ihr verstehen werdet. Von meinem Oheim.«

»Dem Herzog, ja, natürlich.« Wattling, immer noch aschfahl, schmunzelte verschlagen. »Ich hätte es durchschauen müssen. Eure Bildung ist offensichtlich. Keiner dieser Kolonisten hätte mir auf solche Weise Einhalt gebieten können.«

»Ach ja, was das betrifft.« Owen drehte sich zu Kapitän Segeltuch um. »Ihr werdet es verstehen, Sire, wenn ich Meister Wattling hier der Körperverletzung anklage. Ich fände es angebrachter, daraus eine Anklage des versuchten Mordes zu machen, doch ich kann mir seiner Absichten beim Prügeln des Knaben nicht sicher sein.«

Wattling riss die Augen auf. »Das könnt Ihr nicht tun, Sire! Der Bursche ist ein Freigelassener. Er ist mein Lehrling.«

»Ich kann es, Sire, und werde es, es sei denn …«

»Ja?«

»Ihr entlasst ihn aus dem Lehrvertrag und zahlt ihm eine Krone.«

»Das ist eine Unverschämtheit!«

»Kapitän, solltet Ihr hier Anker werfen und über Meister Wattling richten, wie würde das Urteil lauten?«

»Fünfzig Peitschenhiebe.«

»Ihr könnt mich nicht auspeitschen lassen! Ich bin ein Ehrenmann! «

Zwei schnelle Schritte trugen Owen bis knapp vor den Mann. »Nein, Sire, das seid Ihr nicht. Ihr seid ein aufgeblasener Narr, der den Fehler begangen hat, die Mystrianer zu beleidigen, die ihn hier umgeben und ihn auch an Land umgeben werden. Und lasst uns nicht viel Worte machen, Sire: Hättet Ihr in Norisle wirklich einen solchen Erfolg gehabt, hättet Ihr Euch und Eure Druckerpresse nicht auf einen so weiten Seeweg eingeschifft. Ihr gesteht den Kolonisten kaum zu, ein geschriebenes Wort entziffern zu können, und doch bringt Ihr eine Druckerpresse mit, um ihren Bedarf an Lesestoff zu stillen. Kommt Ihr hierher, um Euer Glück zu machen, Sire, oder versucht ihr nicht vielmehr, Euer Vermögen vor den Gläubigern daheim zu retten?«

Wattling wich an die Reling zurück. Seine Stimme war so leise, dass sie über dem Lärm der Wellen am Schiffsrumpf kaum zu vernehmen war. »Ich besitze keine Krone, Sire. All diese verdammten Raubdrucke von VILLERUPT. Sie haben mich ruiniert. Wie soll ich Geld verdienen ohne einen Lehrling? Wovon soll ich leben?«

Gideon Segeltuch legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Ihr werdet leben wie jeder andere Mystrianer, Meister Wattling. Ihr werdet hart arbeiten. Im Winter werdet Ihr frieren. Und Ihr werdet hungern. Ihr werdet über manches staunen und euch vor anderem fürchten. Ihr werdet schwitzen und Schmerzen ertragen. Aber ihr werdet überleben und vielleicht Erfolg haben.«

Der Kapitän führte den Mann hinüber zur Treppe hinunter aufs Hauptdeck. »Ihr werdet sicherlich unter Deck gehen wollen, um Eure Siebensachen zu packen.«

Nachdem Wattling fort war, kehrte Segeltuch zu Owen zurück. »Normalerweise halte ich nicht viel vom Auspeitschen, aber in seinem Falle …«

»Wäre Arroganz ein mit der Peitsche bestraftes Vergehen, er hätte längst eine daumendicke Hornhaut.«

»Damit habt Ihr ohne Zweifel Recht, mein Lhord.«

Owen schüttelte den Kopf. »Lasst es, Kapitän. Ich bin kein Edelmann. Mein Stiefvater hat mich nicht einmal adoptiert. Aus Rücksicht auf meiner Mutter Vater hat Lhord Ventnor mir eine einfache Erziehung zukommen lassen. Er hat meinen Eintritt in die Armee begrüßt, doch vermute ich, er tat es in der Hoffnung, ich würde auf dem Kontinent fallen.«

»Und Euer Oheim?«

»Ganz ähnlich. Meine Gattin flehte ihn an, mir diese Möglichkeit nicht vorzuenthalten.«

Gideon nickte langsam. »Der endlose Krieg wird also auch Mystria einholen.«

»Es ist ein weiter Weg von den Absichten eines Ministers bis zum Donnern von Kanonen in der Wildnis.«

»Manchmal frage ich ich, ob die Minister überhaupt wissen, weshalb wir gegen die Tharyngen kämpfen.«

»Um der Ehre halber? Weil sie den König stürzten und jetzt die Laureaten sie regieren? Weil es der vorherigen Generation nicht gelang, sie zu unterwerfen – und es das zur Aufgabe der jetzigen macht?« Owen lehnte sich schwer auf die Reling. Seelische wie körperliche Müdigkeit ließen seine Glieder zittern. »Sie sind böse. Im Feldzug von Villerupt sah ich Dinge, die kein Mensch jemals sehen sollte. Das wollt Ihr Mystria nicht antun.«

Der Seemann schmunzelte. »Dann freue ich mich, dass Ihr hier seid, es zu verhindern.«

Owen lachte. »Ich hoffe, Sire, Euer Vertrauen erweist sich als gerechtfertigt.«

Segeltuch schaute hinaus in Richtung Hafen. Er zog eine kleine Kristallkugel aus der Tasche und hob sie ans rechte Auge. Das Glas glühte mit schwach blauem Licht. Er schmunzelte. »Der Hafenmeister ist auf dem Weg, uns den Weg zu weisen.«

Owen schaute ebenfalls nach Westen, schüttelte aber den Kopf.

Segeltuch hielt ihm den Kristall entgegen. »Ihr dürft Euch gerne überzeugen.«

»Danke, doch nein. Ich habe den Zauber nie gelernt, der notwendig ist, damit scharf zu sehen.« Owen hielt den Daumen empor. »Es heißt, alle Magie, die ich benötige, steckt hier.«

Aus einem kleinen Boot rief jemand Kapitän Segeltuch fort, um mit dem Hafenmeister zu reden.

Owen blickte ihm hinterher. Der Soldat blieb an der Reling stehen. Er vermisste seine Frau. Zwar hätte er erwartet, bei der Aussicht auf festen Boden unter den Füßen Erleichterung zu verspüren, doch jetzt, wo ihn die Seekrankheit nicht mehr in den Klauen hatte, gähnte in seinem Herzen ein Abgrund der Einsamkeit.

Wärst du nur bei mir, Katherine. Augenblicklich wurde ihm bewusst, wie egoistisch dieser Gedanke war, denn sie hätte an Bord wahrhaftig gelitten. Sie hätte die Enge des Schiffes gehasst und sich vermutlich geweigert, einen Bissen des Bordproviants hinunterzuwürgen. Abgesehen von Kapitän Segeltuchs Gattin hätte sie keine der Frauen an Bord als akzeptable Reisegefährten betrachtet. Wäre sie wie all die anderen Frauen auch noch aufgefordert worden, mit anzupacken, hätte sie sich überhaupt nicht mehr zu helfen gewusst.

Er musste lächeln bei dem Gedanken, wie sie ihn in ihre Abenteuer eingeweiht hätte, ganz gleich wie unbedeutend sie waren. Katherine war in der Lage, das Entfernen eines Splitters wie den Sturm auf eine Festung erscheinen zu lassen. Es war eine Eigenschaft, die er an ihr besonders liebte. Ihre Welt war der seinen so völlig fremd, dass er Zuflucht darin finden konnte.

Und es war ihr Wunsch, ihm diese Zuflucht zu ermöglichen, die ihr den Mut und die Kraft dazu verliehen hatte, sich in die Höhle des Löwen zu wagen und Herzog Todeskamm davon zu überzeugen, Owen auf diese Mission zu schicken. Sie hofften beide, dass er für seine Dienste belohnt wurde und dieses Abenteuer ihm ermöglichte, genug für ein kleines Haus in Launston zu verdienen, in dem sie sich zur Ruhe setzen konnten. Sie hat mir sogar vorgeschlagen, ein Buch über meine Abenteuer zu schreiben und damit Geld zu verdienen. Und was tue ich? Ich mache mir einen Verleger zum Feind.

Er warf einen Blick hinüber aufs Hauptdeck, wo Wattling und der Prediger Benedikt Buchecker beieinanderstanden. Buchecker hatte während der Überfahrt einen harmlosen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte jeden Sonntag einen Gottesdienst abgehalten und nicht allzu lange gepredigt. Vielleicht suchte Wattling geistigen Beistand. Wahrscheinlich war er aber nur auf Mitleid aus.

Owen wandte seine Aufmerksamkeit der mystrianischen Küste zu. Uralte Wälder aus hohen Tannen, Birken, Eichen und anderen Baumsorten, die er nicht kannte, erhoben sich in einer dunklen Wand aus lebendem Holz und erstreckten sich über wogende Hügel und weit entfernte Berge. Tief im Innern der Bucht, wo Port Maßvoll lag, ergoss sich der Benjamin ins Hafenbecken. Die Stadt war vom Ufer aus weit ins Land gewachsen, die Hänge hinauf. Sie bestand überwiegend aus Holzhäusern, aber er sah auch einige Steingebäude.

Der Krieg in Auropa hatte vier Jahre gedauert, und er hatte mit überraschender Leichtigkeit Geld und Menschenleben verschlungen. Die norillischen und ryngischen Kolonien lieferten den Reichtum, der beide Volkswirtschaften in Gang hielt und die Kriegsanleihen deckte, die diesen Konflikt finanzierten. Falls es Norisle gelang, den Warenstrom nach Tharyngia zu unterbrechen, würde das die Tharyngen zur Kapitulation zwingen.

Und Norisle stünde dasselbe Schicksal ins Haus, verlören wir die Herrschaft über unsere mystrianischen Besitztümer.

Er verstand die Überlegungen hinter den Argumenten nur zu gut, derentwegen er um die halbe Welt gereist war, damit er die ryngischen Territorien auskundschaftete. Für jemanden, der die Welt als Zahlenkolonnen sah, war es völlig logisch. Männer, Schwefel, Waffen und Uniformen waren leicht zu zählen, und auf Schiffe mit exakt inventarisierter Ladung zu verfrachten. Minister investierten Kriegsmaterial, um dem Feind Material zu verweigern und so den Krieg zu gewinnen. Eine hervorragende Rendite war ihnen sicher.

Nur waren Menschen keine bloßen Zahlen, auch wenn die Verlustlisten sie darauf reduzierten. Zahlen schreien nicht. Sie rufen nicht nach ihrer Mutter. Owen schauderte. Zahlen betteln nicht darum, sterben zu dürfen.

Kapitän Segeltuch riss ihn aus seinen Gedanken. »Es scheint mir, Kapteyn, dass Männer wie Wattling sich einreden, sie wüssten, was Krieg ist.«

»Eine Dummheit, die sie mit vielen anderen teilen.«

»Kann überhaupt jemand wissen, was eine Schlacht ist, der noch nie in einer gefochten hat? Ich selbst habe nicht allzu viele Kämpfe gesehen – nur den einen oder anderen Piraten abgewehrt – , aber einen Maat festzuhalten, während der Doktorus ihm das Bein absägt, ist etwas, das man nicht vergisst.«

Owen richtete sich auf. »In gewisser Weise hatte Wattling Recht. Wir Soldaten und Matrosen haben unsere Wahl selbst getroffen. Doch wer einen Mann weinend den geköpften Leichnam seiner Frau hat schleppen sehen, der betrachtet eine Stadt wie Port Maßvoll und fragt sich, was der Krieg aus ihr machen würde.«

Segeltuch schaute zur Küste. »Der Weg von Neu-Tharyngia zur Mäßigungsbucht ist lang.«

»Wir wollen hoffen, dass es so bleibt.« Owen lächelte den Mann an. »Und wenn meine Mission Erfolg hat, wird es das.«

Krieg der Drachen - Roman
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