ACHTZEHNTES KAPITEL
7. Mai 1763
Gottesgaben, Mystria
An ihrem ersten Tag an Land bewegten sie sich so schnell, wie es im Wald machbar war. Sie folgten wo möglich sich windenden Wildwechseln, durchquerten Schluchten auf kürzestem Weg, planschten durch Bäche und marschierten geradewegs über Hügel, wo es den Weg deutlich abkürzte. Kamiskwa ging voraus und schenkte ihnen nichts, auch wenn der Weg, den er wählte, nicht allzu anstrengend war. Owen spürte bei dem Zwielichtner das Verlangen, zu seiner Familie zurückzukehren – ein Gefühl, das ihm völlig fremd war, und um das er ihn beneidete.
Schon nach vier Stunden hatten sie den ersten Ausfall zu beklagen. Obwohl Owen seine Stiefel von einem Quartiermeister der Reitergarde erhalten hatte, platzten die Nähte, und die linke Sohle löste sich an der Kuppe vom Oberleder. Und dort, wo die Stiefel hielten, scheuerten sie seine Füße auf, bis die Schmerzen in seinen Fersen locker mit dem Brennen in Schultern und Oberschenkeln mithalten konnten.
Owen suchte in seinem Tornister nach Kordel, um den Stiefel notdürftig zu flicken, aber Kamiskwa kniete sich hin und zog ihm die Stiefel aus. »Reibt Eure Füße ein und zieht zusätzliche Strümpfe über.«
Owen folgte der Aufforderung des Altashie-Prinzen. Die Salbe brannte zu Beginn, besonders an der Ferse, aber dann breitete sich eine kühle Taubheit in seinen Füßen aus. »Die Salbe hilft, doch ich wünschte, ich könnte meine Füße in einen Bach tauchen. «
Kamiskwa nahm seine Stiefel und bearbeitete sie mit dem kleineren Messer. Erst schnitt er den Fußteil ab, dann teilte er den Schaft entlang der Nähte. Er stach Löcher in den oberen Rand und zog Lederriemen aus seiner Tasche. Die Riemen zog er durch die Löcher und band die Lederstücke an Owens Füße. Das überstehende Leder klappte er um die Zehen und über die Ferse, so dass sie ebenfalls einen gewissen Schutz hatten.
Für diese improvisierten Mokassins hatte er nur einen Teil eines Stiefels benötigt, Kamiskwa bestand aber darauf, dass Owen die andere Hälfte mitnahm. »Sie werden nicht allzu lange halten.«
»Ich danke Euch.« Owen stand auf und bewegte die Füße. Die Mokassins fühlten sich gut an, doch es behagte ihm nicht, die Uniform auch nur teilweise abzulegen. Er erinnerte sich, welch einen jämmerlichen Eindruck das Heer beim Rückzug von Villerupt geboten hatte, und hasste es. Er wollte den Tharyngen zeigen, dass Norillier ihren Stolz noch nicht verloren hatten.
Wenigstens bin ich nicht barfuß.
Kamiskwa stand auf, steckte das Messer ein und setzte seinen Weg fort. Die Teile des Weges, auf denen sie Wildwechseln folgten, verliefen relativ leicht. Doch wo sie sich durchs Gebüsch schlugen, hatte Owen mit vielen Problemen zu kämpfen. Das Unterholz zerrte an seiner Kleidung, Zweige peitschten ihm ins Gesicht, und immer wieder drohte er die Muskete zu verlieren. Sein Hut flog ihm einige Male vom Kopf.
Kamiskwa schien ein besonderes Gefallen daran zu haben, durch Beerensträucher zu brechen, was für ihn und Nathaniel, die Lederbeinlinge trugen, kein Problem darstellte, aber die Dornen zerfetzten Owens Hose und Strümpfe. Selbst die Gelegenheit, ab und an ein paar Beeren zu pflücken, konnte das nicht wettmachen.
Wenn sie durch Bäche liefen, gab es derartige Schwierigkeiten nicht, dafür hatte er andere Probleme. Die Lederriemen dehnten sich, wenn sie nass wurden, daher musste Owen stehen bleiben und sie festzurren. Und während das kalte Wasser seinen Füßen zunächst wohltat, verlor er später allmählich das Gefühl in ihnen. Von der Hüfte abwärts fror er, und unter seiner Jacke lief ihm der Schweiß herab.
Trotz der Schmerzen und Probleme fiel Owen eine Sache auf, die er als bemerkenswert einstufte. Wann immer sie über eine Hügelkuppe kamen und sein Blick über das Land schweifte, stellte er fest, dass Kamiskwa sie ohne die geringste Abweichung in dieselbe Richtung führte: nach Nordnordwest.
»Es ist, als hätte Kamiskwa einen inneren Kompass«, stellte er bei einem Halt fest und reichte Nathaniel seine Feldflasche.
Der Mystrianer trank. »Sein Richtungssinn ist wirklich so gut, und er lebt schon sein ganzes Leben in diesem Gebiet, aber es gibt auch Zeichen, auf die er achtet. Er sieht sie mit Magie.«
»Das ist unmöglich. Magie benötigt die Berührung.«
»Könnte sein, dass das stimmt. Könnte auch sein, dass die Shedashie ein bisschen besser darin sind als wir.« Nathaniel deutete auf einen großen Felsen an der rechten Seite ihres Weges. »Sie trainieren Leute, einen Weg zu finden. Bringen ihnen Magie bei, mit der sie Steine und Bäume markieren. Er sieht oder fühlt das.«
»Aber wie?«
»Nun ja, ich hab mir so meine Gedanken deswegen gemacht. « Nathaniel strich mit der Hand durch die Luft. »Ihr fühlt die Luft auf Eurer Hand, wenn Ihr das tut?«
Owen nickte. »Natürlich.«
»Schätze, die Luft trägt ihm die Magie zu.«
»Und wieder: Das ist unmöglich.«
»Ach ja?« Nathaniel grinste. »Ihr berührt den Schwefel nicht, wenn Ihr Eure Muskete abfeuert, aber er brennt trotzdem ab.«
»Aber nur, weil die Feuersteine speziell dafür hergestellt sind, die Magie zu übertragen.« Owen sah Nathaniels Grinsen breiter werden und verstummte. Er konnte die Logik im Beispiel des Waldläufers nicht abstreiten, doch falls er Recht hatte, stellte das plötzlich eine ganze Reihe von Annahmen, auf denen seine Sicht der Welt beruhte, infrage. Und unter den momentanen Umständen war das mehr, als er bereit war zu bedenken.
»Es muss daran liegen, dass er besonders magiebegabt ist.«
Wieder lachte Nathaniel. »Und es könnte sein, dass Ihr nichts von Magie wisst, die Euch zeigen könnte, wie begabt Ihr selbst seid.«
»Was?«
»Nun, Kapteyn, ich hab mir das so überlegt: Wenn die Zwielichtvölker mächtiger sind als wir, dann zeigt uns das, wie mächtig wir sein könnten. Und ein mächtiger Magier, der könnte auf die Idee kommen, sich aufzuspielen.«
»Da gebe ich Euch Recht.« Owen duckte sich unter einem Ast hindurch und folgte Kamiskwa hangabwärts. »Aber worauf wollt Ihr damit hinaus?«
»Darauf, dass die Magie kontrolliert werden muss.« Wald kürzte zwischen zwei Pinien ab. »Nehmt Feuersteine. Ihr könnt sie nur von Feuerwachen kaufen. Wenn Ihr zu viele zu schnell verbraucht, verkaufen sie Euch keine mehr. Und wenn Ihr dabei erwischt werdet, dass Ihr etwas anderes benutzt, kann es Euch die Daumen kosten, je nach Richter.«
»Man muss sich schon eine Menge zuschulden kommen lassen, damit man zu einem Achtfinger wird.«
»Kann vielleicht so sein, doch wozu die Begrenzung? Und warum müsst Ihr die Magie von einem Magiedozenten lernen?«
»Man will nicht, dass sich jemand selbst verletzt. Es ist wichtig, seine Grenzen zu kennen.« Owen hielt einen Daumen hoch. »Magie kann ihren Benutzer verletzen, selbst wenn sie korrekt eingesetzt wird.«
»Glaub echt nicht, dass die Regierung sich Sorgen macht, die Leute könnten sich selbst verletzen.« Nathaniel schnaubte. »Denke eher, es ist ihr schnurz, ob Freigelassene und Dienstboten auf der Überfahrt krepieren, solange nur nicht zu viele sterben.«
»Man hört Geschichten, dass Leute beim Einsatz von Magie ums Leben kommen.«
»Aber habt Ihr es je gesehen?«
»Nein«, knurrte Owen. »Ihr scheint ein gewisses Vergnügen daran zu empfinden, mich zu ärgern.«
»Gar nicht, Kapteyn.« Nathaniel nickte ihm mit ernster Miene zu. »Ihr seid ein kluger Mann. Das sind Fragen, die ein kluger Mann sich durch den Kopf gehen lassen sollte.«
Am späten Nachmittag überquerten sie einen breiten Bach. Kamiskwa ging noch eine halbe Stunde weiter, dann bedeutete er ihnen zu bremsen. Nathaniel holte das Gewehr aus der Hülle, Owen zog die Pistole. Beide duckten sich und folgten dem Krieger ins Gebüsch.
Sie erreichten eine kleine Bodensenke, die mit einem Teppich aus dem Laub mehrerer Herbste ausgelegt war. Darin lag die Leiche eines Mannes. Seine Knie waren an die Brust gezogen, die Arme hatte er aber nicht um die Beine geschlungen. Daran, dass er tot war, bestand kein Zweifel. Unter seiner Haut wimmelten Maden, und Tiere hatten ihm Ohren und Lippen abgefressen. Auch seine Waden waren angenagt. Vögel hatten ihm Haare ausgerissen.
Owen ging in die Hocke. »Er scheint erschossen worden zu sein.«
Nathaniel stieß die Leiche mit einem Stock an. »Kleider fallen praktisch auseinander. Einschussloch in der Weste, aber nicht drunter im Hemd.«
Owen deutete auf den Kopf des Mannes. »Ich meinte seinen Schädel.«
Die beiden anderen grunzten. Der Schädel hatte ein deutlich sichtbares Loch. Es war nicht ganz kreisrund. Die Kugel war schräg und in der Nähe der Schläfe eingeschlagen. Sie war auf derselben Seite am Hinterkopf wieder ausgetreten und hatte dabei ein größeres Stück Knochen weggesprengt.
»Wer sollte hier draußen jemanden ermorden? Und weshalb? « Owen nahm einen Stock und hakte ihn in einen unter der Leiche liegenden Beutel. »Und weshalb hätten seine Mörder dies hier zurückgelassen, nachdem sie ihn getötet hatten?«
»Schätze, wir haben ein größeres Problem als das.«
»Inwiefern, Meister Wald?«
Nathaniel richtete sich auf. »Wenn er umgefallen ist, wo er erschossen wurde, gibt es hier nirgends einen Punkt, der hoch genug wäre für den Einschusswinkel. Und wenn er woanders erschossen wurde, wozu haben sie ihn hier raufgeschleppt?«
Kamiskwa stand auf und verschränkte die Arme. »Ein weiteres Problem.«
Owen schaute hoch. »Nämlich?«
»Die Wunde, die ihn tötete. Schaut sie Euch genau an.«
Das tat Owen. Er beugte sich hinunter und hielt gegen den Verwesungsgestank die Luft an. »Heilige Mutter Gottes!«
Die Schädelknochen. Sie waren teilweise wieder verheilt.