19.
Am Tor der Residenz lieh Hilarius sich von einem Knecht eine Laterne und eilte, so rasch er konnte, in Richtung Rathaus. Um die Zeit schlief die Stadt bereits. Außer dem Bellen eines Hundes und den misstönenden Schreien eines verliebten Katers war nur der Ruf eines der Nachtwächter zu vernehmen, die in den verschiedenen Vierteln der Stadt ihren Dienst versahen. Hilarius hätte bis zum nächsten Morgen warten können, doch es drängte ihn, Rosi aus dem Kerker zu befreien. Schließlich war sie schwer verletzt, lag möglicherweise sogar im Sterben. Daher hämmerte er gegen die Tür der Wachstube und sah sich einige Zeit später dem verschlafenen Stadtknecht Hias gegenüber.
»Wo brennt es denn?«, brummte der Mann.
Statt einer Antwort hielt Hilarius ihm das herzogliche Schreiben unter die Nase. Der Mann ergriff es und versuchte es im Schein der Laterne zu lesen. Er musste mehrmals ansetzen und schüttelte zuletzt verwirrt den Kopf.
»Also, verheiraten kann ich dich nicht mit der Gefangenen. Da brauchst du schon einen Pfarrer. Oder kannst du das selbst machen?«
»Du sollst die Gefangene freilassen«, stieß Hilarius ärgerlich hervor. Um die Zeit und in der Situation hatte er keinen Sinn für Scherze.
Das begriff Hias nun ebenfalls und winkte ihm mitzukommen. »Aber du musst mir unterschreiben, dass du die Rosi geholt hast. Doch das tragen wir erst morgen ein, sonst wird uns das Kostgeld für heute nicht mehr ausgezahlt.«
»Von mir aus!« Hilarius interessierte es wenig, ob die Stadtknechte, die Rosi zu bewachen hatten, nun ein paar Kreuzer mehr oder weniger erhielten. Er wollte die junge Frau nur so schnell wie möglich aus dieser düsteren Umgebung herausholen.
Da Hias wieder in sein Bett zurückwollte, kürzte er die Sache ab. »Den Erlass des Herzogs wirst du hierlassen müssen. Um den soll sich morgen der Stadtrichter kümmern. Einsperren kann er die Rosi nicht mehr, aber er wird euch das Heiraten ans Herz legen und die Stunden zählen, die ihr noch in unserem München bleiben dürft!«
So ganz konnte der gute Mann nicht begreifen, dass ein Priester, der ein so angenehmes Leben führte wie Hilarius, seine geistlichen Würden ablegen wollte, um eine einfache Dienstmagd zu heiraten. Vielleicht hat die Rosi ihn verhext, dachte er. Doch wenn das so war, würde er brav den Mund halten. Der Herzog hatte diese Heirat beschlossen, und es wäre nicht klug, gegen den Willen des vierten Wilhelm zu verstoßen.
Hias nahm eine Laterne und den Schlüsselbund, stieg in den Keller hinab und sperrte die Zelle auf. »Jetzt sieh zu, wie du sie hier herausbringst!«
Hilarius kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern trat in die Zelle. Als sein Schatten über Rosi fiel, schreckte diese hoch.
»Keine Angst, ich bin es! Kannst du aufstehen?«
»Pater Hilarius, was wollt Ihr denn von mir?« Rosi dachte nicht daran, sich zu erheben. Da beugte der Mann sich zu ihr hinab und hob sie auf.
»Du bist frei! Ich bringe dich zur Kreszenz. Sie muss dafür sorgen, dass du innerhalb von drei Tagen auf die Beine kommst. Denn bis an die Grenzen des Herzogtums Bayern kann ich dich beim besten Willen nicht tragen!«
»Kreszenz? Das ist gut!« Rosi sehnte sich nicht nur nach den sanften Händen der alten Hebamme und deren Arzneien, sondern auch nach deren Zuwendung. Außerdem war es schön, dieses Gelass verlassen zu können und keine Angst mehr haben zu müssen, der Richter könnte wiederkommen, um sie unter der Folter zu verhören.
Bis jetzt hatte Hilarius in seinem Leben nie körperlich arbeiten müssen, und so fiel es ihm schwer, die junge Frau die Treppe hochzutragen. Dabei lag noch der ganze Weg bis zum Pernersgässel vor ihm, und das bei Dunkelheit. Das war auch dem Amtsdiener klargeworden, und er holte mit einem missmutigen Knurren seinen Mantel aus der Wachstube.
»Ich leuchte Euch, sonst fallt Ihr noch auf die Nase! Aber das sollte Euch schon einen Kreuzer wert sein.«
»Du wirst dein Trinkgeld bekommen!« Hilarius war versucht, den Mann zu fragen, ob er sich nicht noch ein wenig mehr verdienen wolle, indem er Rosi zum Häuschen der Kreszenz trug. Doch das Gefühl, die geliebte Frau an seiner Brust zu wissen, überwog den Wunsch, der Last ledig zu sein.
Als sie endlich vor der Tür der Hebamme angekommen waren, rann Hilarius der Schweiß in Strömen über Rücken und Stirn. Der Stadtknecht grinste, als er es bemerkte, und klopfte.
»Ich komme!« Gewohnt, jederzeit zu einer Gebärenden geholt zu werden, riss die Hebamme wenig später die Tür auf. Trotz der Kürze der Zeit hatte sie sich angekleidet und hielt ihren Korb in der Hand. Beim Anblick der Gruppe, die vor ihr stand, runzelte sie die Stirn. »Was ist passiert?«
»Der Herzog hat befohlen, Rosi freizulassen. Sie bekommt drei Tage Zeit, sich zu erholen. Dann muss sie die Stadt und das Herzogtum verlassen. Da ich keinen anderen Platz weiß, an den ich sie bringen kann, habe ich an dich gedacht«, erklärte Hilarius keuchend. Ihn drängte es, die Magd abzulegen, denn seine Arme wurden allmählich lahm.
Kreszenz überlegte keine Minute, sondern bat sie hinein. Während Hilarius ins Haus trat, blieb Hias draußen stehen, stellte aber den Fuß in die Tür.
»Ich kriege noch einen Kreuzer Trinkgeld«, meinte er grinsend.
Unterdessen hatte Hilarius Rosi auf einen Stuhl gesetzt und nestelte seinen Geldbeutel vom Gürtel. »Hier, das ist für dich«, rief er Hias zu und reichte ihm zwei Münzen.
Der Stadtknecht betrachtete sie im Schein seiner Laterne und stieß einen Pfiff aus. »Gleich zwei Kreuzer! So mag ich’s. Eine gute Nacht wünsche ich noch.«
Kreszenz schloss die Tür und sah abwechselnd Rosi und Hilarius an. »Ich glaube, ihr zwei habt mir einiges zu erzählen. Wartet, ich mache Licht, und dann schau ich nach, wie es um dich steht, Rosi. Aber dabei möchte ich was hören.«
»Ich weiß überhaupt nichts«, antwortete die Magd. »Ich habe ein wenig geschlafen, da ist der da gekommen und hat mich aus dem Kerker getragen.«
»Du wirst doch nicht sagen wollen, dass Pater Hilarius zum Herzog gelaufen ist, um für dich zu bitten?«
»Aber so war es! Und ich bin froh, dass ich es getan habe!« Hilarius atmete tief durch und lächelte auf eine Weise, die Kreszenz noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Das interessiert mich. Aber warum muss Rosi in drei Tagen fort?«
»Das war die Bedingung des Herzogs!« Hilarius begann nun, den beiden Frauen zu erklären, wie er Rosis Freilassung erreicht hatte. Als er darauf zu sprechen kam, dass er dem geistlichen Stand entsagen und Rosi heiraten müsse, stieß diese einen ärgerlichen Laut aus. »Eher gehe ich ins Hurenhaus, als so einen wie dich zu heiraten!«
Hilarius prallte erschrocken zurück, doch Kreszenz hob begütigend die Hand. »Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und es ist auch nicht alles so gemeint. Die Rosi ist krank und hat viel mitmachen müssen. Das solltest du nicht vergessen!« Um ihre Worte zu bekräftigen, entkleidete sie Rosi, so dass der Mann die Striemen auf dem grün und blau geschlagenen Leib sehen konnte.
»Mein Gott! Frau Anna ist eine Bestie! Die gehört erschlagen wie ein toller Hund«, stieß Hilarius aus.
»Irgendwann wird sie für ihre Bosheit bezahlen, und wenn’s in der Hölle ist. Da findet sich schon ein Teufel, der ihr besonders einheizt. Aber jetzt werde ich die Rosi unten untersuchen, und da solltest du wegschauen. Wir Frauen mögen es nicht, wenn da einer zu neugierig ist!«
Während Hilarius den Frauen den Rücken zukehrte, vollführten Rosis Gedanken einen wilden Tanz. Sie hasste und verachtete den Priester, seit er sie gezwungen hatte, sich ihm hinzugeben. Alles in ihr schrie, ihm zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren und sie in Ruhe lassen. Andererseits aber hatte er den Herzog aufgesucht und um Gnade für sie gebeten. Er war sogar bereit, seinen geistlichen Stand aufzugeben und sie zu heiraten. Dies taten Bischöfe und Äbte gelegentlich, wenn es die Pflicht ihrer Familie gegenüber forderte, an der Stelle verstorbener Brüder das Erbe zu übernehmen und die Sippe weiterzuführen. Doch auf Hilarius warteten kein Vermögen und keine Braut aus einem angesehenen Haus, sondern ein Leben in Armut und die Ehe mit einer schlichten Dienstmagd. Rosi konnte nicht begreifen, was ihn dazu trieb. Dann erinnerte sie sich daran, wie zartfühlend er ihre Striemen versorgt hatte, nachdem sie von der Meisterin bis aufs Blut geschlagen worden war.
Plötzlich wurde ihr die Kehle eng, und ihr liefen die Tränen über die Wangen. »Wollt Ihr wirklich alles aufgeben, was Euch bislang lieb und teuer war, und das nur meinetwegen?«, fragte sie leise.
»Das will ich!«, antwortete Hilarius mit fester Stimme.
Rosi konnte es kaum glauben, doch offensichtlich liebte er sie tatsächlich. Bei dem Gedanken tastete sie nach dem kleinen Beutelchen, das ihr um den Hals hing. Ein wenig Geld hatte sie gespart, und in Hilarius’ Börse befanden sich auch ein paar Münzen. Es war nicht viel, doch es konnte für einen neuen Anfang reichen. Sie erwog kurz, welche andere Wahl sie hätte. Allein auf sich gestellt würde sie betteln, stehlen und huren müssen, um zu überleben.
»Also gut! Aber Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr erst dann zu mir kommt, wenn ich wieder gesund bin!«
»Das verspreche ich gerne!« Hilarius ertappte sich dabei, wie er davon träumte, ihr beizuwohnen, doch er war bereit, einige Zeit wie Bruder und Schwester mit ihr zu leben, nur um sie in seiner Nähe zu haben.
Kreszenz versetzte Rosi einen Nasenstüber. »Die nächsten zwei Wochen geht da noch nichts. Aber danach solltest du ihn nicht zu lange warten lassen, sonst läuft er dir noch davon!«
»Das werde ich nicht!«, rief Hilarius empört.
»Natürlich werdet Ihr das nicht tun. Ihr seid immerhin ein gelehrter Mann und gewiss in der Lage, Weib und Kinder zu ernähren. Rosi wäre ein Schaf, würde sie Euch nicht nehmen. Doch die Gefahr besteht nicht. Dafür trägt sie einen zu klugen Kopf auf den Schultern. Nicht wahr, das tust du doch?« Noch während Kreszenz es sagte, bedachte sie Rosi mit einem mahnenden Blick.
Diese dachte jedoch weniger an mögliche gemeinsame Stunden im Bett und daran, endlich versorgt zu sein, sondern an einen Wunsch, den sie hegte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.
»Würdet Ihr mir, wenn wir verheiratet sind, das Lesen beibringen?«, fragte sie schüchtern.
»Und das Schreiben gleich mit dazu!« Hilarius lachte wie befreit auf. Damit würden Rosi und er sich noch näherkommen, als wenn sie nur das Bett miteinander teilten.
Kreszenz dachte mehr an die nähere Zukunft des seltsamen Paares. »Wo wollt ihr hingehen, wenn ihr München verlasst? Zu viel darf Rosi sich nicht zumuten!«
Hilarius überlegte kurz und wies dann Richtung Westen. »Ich habe mir gedacht, wir reisen nach Augsburg. Dort kann ich vielleicht eine Stelle als Schreiber finden.«
Das schien auch Kreszenz ein guter Gedanke zu sein. Da sie sehr müde war, forderte sie Hilarius auf, sich in eine Decke zu hüllen und vor den Herd zu legen. »Rosi kann derweil bei mir im Bett schlafen. Das ist zurzeit für sie bekömmlicher als andersherum.«
An diesem Vorschlag hatten weder Rosi noch Hilarius etwas auszusetzen.