12.

Während sich in Augsburg die Wogen zwischen Veva und Ernst glätteten, herrschte im Herzen der Magd Rosi in München trotz der sonnigen Oktobertage tiefste Finsternis. In der letzten Zeit war es ihr schon einige Male übel geworden, doch an diesem Tag war es besonders schlimm. Außerdem schmerzte sie der Rücken so, dass sie kaum Luft holen konnte.

Als sie einen Augenblick bei ihrer Arbeit innehielt, um sich zu strecken, hörte sie Frau Anna sofort keifen. »Mach schneller, du faules Ding! Glaubst du, ich bezahle dich fürs Nichtstun?«

Ein Rutenhieb ließ Rosi aufstöhnen. Sie wollte wieder zugreifen, krümmte sich aber in einem neuen Anfall von Übelkeit und stieß gegen den Tisch. Der Tonbecher, den sich die Herrin gerade mit Bier gefüllt hatte, kippte um und ergoss seinen Inhalt über die Tischplatte. Danach rollte er auf den Rand des Tischs zu. Rosi wollte ihn noch packen, griff aber daneben und sah voller Schrecken, wie das Gefäß auf dem Steinboden zerschellte.

Für einige Augenblicke herrschte Stille, dann begann die Meisterin zu schreien: »Du elendes Ding! Den Becher hast du mit Absicht umgestoßen. Es war mein Lieblingsbecher! Dafür wirst du bezahlen!«

Rosi wandte sich mit vor den Leib gepressten Armen zu ihr um. »Ich ersetze Euch den Becher, Frau Anna. Sobald ich hier fertig bin, werde ich zum Töpfer gehen.«

»Das würde dir so passen, die Arbeit schwänzen, um einen Becher zu kaufen. Nichts da! Das Geld dafür ziehe ich von deinem Lohn ab. Doch jetzt erhältst du erst einmal die Strafe für deine Ungeschicklichkeit!« Bei den letzten Worten begann die Frau, mit ihrem Stock auf die Magd einzuschlagen.

Rosi fiel auf die Knie und flehte die Heilige Jungfrau um Hilfe an.

»Die wird ausgerechnet dir helfen, du Lumpending! Aus Gnade und Barmherzigkeit habe ich dich in meine Dienste genommen, doch du dankst es mir mit Faulheit, Widerworten und der Zerstörung meiner liebsten Dinge!« Schäumend vor Wut schlug Frau Anna wieder und wieder zu.

Zuletzt vermochte Rosi es nicht mehr zu ertragen. Sie warf sich zu Boden und schrie sich schier die Seele aus dem Leib. Dann rebellierte ihr Magen, und sie würgte den Morgenbrei hervor.

Erst jetzt hielt Frau Anna inne und packte Rosi bei der Schulter. »Zieh dich aus!«, schrie sie.

Zunächst verstand Rosi nicht, was sie wollte. Erst als die Meisterin an ihrem Kleid zerrte, zog sie es über den Kopf und stand im Hemd da.

»Auch das muss herab!«

Rosi gehorchte zitternd. Frau Anna sah sie an und zeigte dann triumphierend auf die leichte Wölbung ihres Bauches. »Du Miststück hast gehurt und dir einen Bankert eingefangen! Und das in meinem christlichen Haus! Dich sollte man erschlagen und in den Stadtgraben werfen! Oder glaubst du etwa, ich sehe zu, wie du deinen Balg hier wirfst, und ziehe das Ding auch noch auf? Oh, du Strafe Gottes! Womit habe ich das verdient?« Bei diesen Worten schlug Frau Anna erneut zu und zielte nun auf Rosis Bauch.

Die Magd krümmte sich, stürzte erneut auf die Knie und versuchte, wenigstens diese Stelle zu schützen. Die Hiebe fielen hageldicht, trafen Kopf, Schultern, Rücken, Arme und Beine und ließen dicke rote Striemen zurück.

Jeden Schlag begleitete die Meisterin mit einem Schimpfwort, und da ihr die Hiebe nicht genug erschienen, trat sie auch noch mit ihren Holzschuhen nach Rosi.

Die Magd schrie nun so durchdringend, dass man es in der ganzen Nachbarschaft hörte. Bald aber verließ sie die Kraft. Sie wimmerte nur noch und sehnte sich danach zu sterben.

Mittlerweile war das gesamte Gesinde im Haus zusammengelaufen, doch keiner wagte es, der Herrin in den Arm zu fallen. Die Mägde rangen die Hände und riefen alle Heiligen im Himmel an, während manch einer der Knechte und Gesellen, die Rosi schöne Augen gemacht hatten und von ihr abgewiesen worden waren, zunächst noch hämisch grinste.

Als Rosi kaum noch zuckte, schlug eine Küchenmagd das Kreuz und rannte davon, um einen Stadtknecht oder einen geistlichen Herrn zu holen, damit dieser dem entsetzlichen Schauspiel ein Ende bereitete. Draußen hatten sich bereits einige Nachbarn versammelt und starrten die Frau an.

»Was ist denn bei euch los? Das hört sich ja an, als gäbe es da drinnen Mord und Totschlag?«, fragte ein Mann.

Die Magd sah ihn verzweifelt an. »Frau Anna muss verrückt geworden sein! Sie will Rosi erschlagen und in den Stadtgraben werfen.«

»O Jesus, Maria und Joseph!«, schrie eine Frau auf. Doch niemand wagte, das Haus zu betreten und einzugreifen. Einige rannten jedoch los, um Hilfe zu holen. Es dauerte nicht lange, da eilte der Stadtknecht Hias herbei und stürmte ins Haus.

Als er sah, dass Frau Anna immer noch auf Rosi einprügelte, als hätte sie den Verstand verloren, packte er sie am Arm. »Du erschlägst sie ja noch!«

»Ich kann mein Gesinde züchtigen, wie ich will«, keifte die Meisterin.

»Ein paar Hiebe ja, aber das hier ist Mord!« Der Mann sah voller Mitleid auf Rosi hinab, die nackt und von Striemen übersät auf den Steinplatten der Küche lag und nur noch leise wimmerte. Mit einem Mal aber bäumte sie sich auf, stieß einen gellenden Schrei aus und griff sich mit beiden Händen an den Unterleib. Blut rann zwischen den Schenkeln hervor, und sie wand sich in Krämpfen.

»Sie ist schwanger und verliert gerade ihr Kind«, raunte eine Magd dem Stadtknecht zu.

Hias schluckte, riss dann seinen Blick von Rosi los und versetzte der Magd einen Stoß. »Los, hol die Hebamme! Gebe Gott, dass das arme Mädchen nicht zu Tode kommt. Du aber«, wandte er sich an die Meisterin, »wirst für diese Tat büßen.«

»Was soll ich büßen? Ich bin im Recht!« Trotz ihrer Worte wurde die Frau bleich. Wenn jemand seine Mägde oder Knechte züchtigen wollte, so nahm die Obrigkeit einige Schläge mit der Rute hin. Aber ein Totschlag würde sie vor Gericht bringen, und dies drohte ihr auch, wenn Rosi vom Kind kam.

»Was steht ihr so dumm herum? Macht, dass ihr die alte Kreszenz holt!«, schrie sie die übrigen Mägde an. Diese sahen sich kurz an, dann lief die flinkste von ihnen los, während eine andere den Hausknecht bat, ihr zu helfen, Rosi in die Kammer zu tragen.

Die Meisterin sah ihnen zu, bis sie verschwunden waren, dann schüttelte sie sich wie ein nasser Hund und eilte in den Keller, um ihre angegriffenen Nerven mit einem Becher Wein zu stärken. Doch selbst dort unten konnte sie den schier unmenschlichen Schreien, die Rosi nun von sich gab, nicht entrinnen.

Die Ketzerbraut. Roman
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