9.
Als Ernst das väterliche Anwesen erreichte, war er noch viel zu aufgedreht, um zu Bett gehen zu können. Deshalb ging er um das Haus herum, betrat den Hof und blieb neben der Hundehütte stehen. Hasso kam knurrend heraus, beruhigte sich aber, als er ihn erkannte.
»Brav, mein Guter!«, lobte Ernst ihn und griff in die Hütte, um den Packen mit den Schriften herauszuholen. Übermütig beschloss er, Doktor Portikus eine lange Nase zu drehen. Er öffnete das Paket, nahm etliche Flugblätter heraus und barg sie unter seiner Weste. Den Rest verstaute er wieder in der Hundehütte.
»Pass gut darauf auf«, forderte er Hasso auf und verließ das väterliche Anwesen wieder.
Ihm reichte das Mondlicht, um sich auf Pfaden zu bewegen, die er sogar besser kannte als die Stadtknechte. Zwar durfte er sich ohne Laterne nicht erwischen lassen, aber da die Männer, die immer noch die Gassen nach Betrunkenen absuchten, genug Lärm machten, vermochte er ihnen aus dem Weg zu gehen. Nach kurzer Zeit erreichte er den Dom Unserer Lieben Frau und trat ein. Die am Altar brennenden Kerzen tauchten das Kirchenschiff in flackerndes Licht, in dem man kaum den Boden erkennen konnte. Doch Ernst gelang es dennoch, einen Teil der Flugblätter auf den Betstühlen bestimmter Patrizier und hoher Geistlicher zu verteilen. Dann verließ er den Dom und wanderte im Bogen um den Schrannenplatz herum, auf dem immer noch ein paar Leute feierten, und traf nach wenigen Schritten auf die Peterskirche. Dort ließ er den Rest der Blätter zurück und ging anschließend vergnügt nach Hause. Nun vermied er die Begegnung mit den Stadtknechten nicht nur wegen der fehlenden Laterne, sondern auch, damit ihn niemand mit den Schriften in Verbindung brachte, die am nächsten Morgen in den beiden Pfarrkirchen entdeckt werden würden.
Kaum hatte er die Haustür hinter sich zugeschlossen, trat sein Vater aus dem Kontor und maß ihn mit zornigem Blick. »Weißt du, wie spät es ist, du Lümmel? Du hättest längst daheim sein müssen! Stattdessen warst du wieder saufen und huren. Du bist eine Schande für unsere Familie! Beim Herrgott im Himmel, warum muss ich so etwas wie dich zum Sohn haben?«
Jeder dieser Sätze wurde von einem Hieb mit dem Stock auf den Boden begleitet. Ernst zog den Kopf ein, denn so wütend hatte er seinen Vater schon lange nicht mehr erlebt. Für ein paar Augenblicke sah es sogar so aus, als wolle dieser ihn züchtigen, obwohl er über das Alter längst hinaus war.
Doch Eustachius Rickinger stützte sich nur schwer auf seinen Stock und blickte seinen Sohn mit eisiger Miene an. »Du kommst jetzt mit!«
Verwundert folgte Ernst ihm ins Kontor. Der alte Herr setzte sich auf seinen ledergepolsterten Stuhl und wies ihn an, stehen zu bleiben. »Da ich keinen anderen Sohn als dich habe, werde ich dafür sorgen, dass du dich ab jetzt so benimmst, wie ich es mir vorstelle. Bei der Heiligen Jungfrau, ich schwöre dir, ich werde dich eher enterben und mein Vermögen Fremden hinterlassen, als weiter zusehen, wie du dich zum Gespött der ganzen Stadt machst!«
Da sein Vater stolz auf die eigene Sippe war, vermochte diese Drohung Ernst nicht einzuschüchtern. Eines aber begriff er: Das Schäkern und Tändeln mit bereitwilligen jungen Mägden war fürs Erste vorbei.
»Damit dich der Hafer nicht zu sehr sticht, erlaube ich dir, einmal im Monat ins Frauenhaus zu den Huren zu gehen«, fuhr der Vater fort. »Allerdings wirst du das nicht lange tun müssen, denn ich werde dich so bald wie möglich verheiraten. Ich schwöre dir, ich werde dir eine Braut aussuchen, die dir deinen Übermut austreiben wird, und wenn sie dafür den Besenstiel nehmen muss!«
»Ich soll heiraten?« Ernst schluckte, denn eine Ehefrau war das Letzte, was er im Augenblick brauchen konnte. Nach einem Moment des Nachdenkens aber atmete er auf. Sein schlechter Ruf würde es seinem Vater schwer, wenn nicht sogar unmöglich machen, eine passende Braut für ihn zu finden. Keiner der bessergestellten Bürger hier in München würde seine Tochter einem Mann geben, den ein Doktor Portikus von der Kanzel herab als Schande für die Christenheit bezeichnet hatte.
Es war, als hätte der Vater seine Gedanken gelesen, denn er grinste schadenfroh. »Ich werde mich im Ausland nach einer passenden Partie für dich umsehen. Mein alter Freund Bartholomäus Leibert verheiratet seine Tochter nach Innsbruck, und das halte ich für eine kluge Idee. Eine Tirolerin wäre genau das Richtige für dich. Die Weiber dort gelten als handfest und wissen sich durchzusetzen. Das dürfte auch dein Freund Bartl bald zu spüren bekommen. Sein Vater plant nämlich, ihn mit einer Schwester von Genovevas Bräutigam zu verheiraten. Da Ferdinand Antscheller zwei Töchter im passenden Alter hat, habe ich dir eine davon zugedacht. Also werden Bartl und du Schwäger sein. Freut dich das nicht? Du magst deinen Freund doch so sehr, dass man euch bereits widernatürliche Dinge nachgesagt hat!«
Da Bartl und er als Buben nicht mehr getan hatten, als einmal nachzumessen, wer von ihnen das längere Stengelchen in der Hose hatte, winkte Ernst verächtlich ab. »Das ist bloß das Geschwätz dieses Pfaffen, der sich an mir rächen will, weil ich ihn bei einer zu intimen Beichte mit einem seiner weiblichen Pfarrkinder erwischt habe.«
»Pater Remigius hat gefehlt, das gebe ich zu. Trotzdem war es nicht richtig von dir, ihn dem Gespött der Leute auszuliefern«, gab sein Vater bissig zurück.
»Müssen wir denn zulassen, dass die Pfaffen unseren Frauen und Mädchen unter die Röcke greifen und noch mehr mit ihnen tun? Oder hast du vergessen, dass Pater Remigius der Tochter unseres Nachbarn weisgemacht hat, jeder Stoß seines Riemens brächte sie dem Himmelreich näher?« Nun wurde Ernst so zornig, dass er es wagte, gegen seinen Vater aufzubegehren.
»Das Mädchen ist doch nicht ganz richtig im Kopf! Eine andere wäre bestimmt nicht auf diesen Pfaffen hereingefallen. Außerdem reden wir hier nicht über Remigius, sondern über dich! Wenn es darum ginge, ein Mädchen ins Himmelreich zu rammeln, könnte dir wohl niemand das Wasser reichen.«
Eustachius Rickinger versetzte seinem Sohn einen Schlag mit der linken Hand. »Mach, dass du ins Bett kommst! Ab morgen sitzt du brav im Kontor und arbeitest. Ich habe meinen Kommis nach Innsbruck geschickt, und da Bertram erst in zwei Wochen zurückkehren dürfte, wirst du seine Aufgaben übernehmen. Wage es aber ja nicht, nachlässig zu sein!«
Mit diesen Worten nahm der alte Rickinger den Kerzenhalter aus dem Kontor und ging zu seiner Schlafkammer hinüber.
Ernst sah ihm einige Augenblicke nach und stieg dann die steile, durch eine blakende Unschlittlampe kaum erhellte Treppe hoch. Oben zündete er die Kerze seiner Zimmerlampe an jener an, die im Flur brannte, und zog sich aus. Während er sich mit dem Wasser aus der Schüssel wusch, fragte er sich, wie er sich zu den Drohungen seines Vaters stellen sollte. Anders als jener wie die meisten Leute von ihm dachten, war er keineswegs ein Hurenbock, der jedem Rock nachstellte. Zwar hatte er nichts dagegen, sich von Zeit zu Zeit mit einem hübschen Mädchen im Bett oder auf dem Heuboden zu wälzen, doch er kannte genug Männer in der Stadt, deren Lebenswandel weitaus ausschweifender war als der seine. Auch war sein Vater, soweit er gehört hatte, in seiner Jugend ebenfalls kein Kostverächter gewesen, und was er von einigen Münchner Klerikern zu halten hatte, wusste er sehr wohl. Der überwiegende Teil war gut und gerecht, aber der Rest brachte mit seiner Gier nach Frauen, wenn nicht gar nach Knaben, die gesamte Geistlichkeit in Verruf.
Auch aus diesem Grund hatte er sich jener Gruppe von Bürgern angeschlossen, die für grundlegende Reformen in der Kirche eintrat. Ihr Sprachrohr war in erster Linie Doktor Martinus Luther aus Wittenberg, der mit seinen fünfundneunzig Thesen die verderbte Kirche ins Mark getroffen hatte. Bei dem Gedanken an den mutigen Mönch fiel Ernsts Blick auf ein Flugblatt, das noch in seiner Kleidung steckte. Er nahm es in die Hand und las den sauber gedruckten Text. Ein wenig fühlte auch er sich von der Kritik an dem schlechten Lebenswandel der Menschen getroffen, denn ein Vorbild an Keuschheit war er wahrlich nicht. Andererseits bot ihm sein Ruf einen gewissen Schutz, denn ein Doktor Portikus würde ihn als Letzten verdächtigen, sich mit Schriften zu beschäftigen, in denen die strenge Auslegung der Heiligen Schrift und ein wohlgefälliger Lebenswandel aller Menschen gefordert wurden.
Ernst verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln, als er an den Theologen dachte. Portikus suchte Rache, weil er die Untaten mehrerer Kirchenmänner ans Tageslicht gebracht hatte, anstatt wegzuschauen und den Mund zu halten. Daher durfte er den fanatischen Kleriker nicht unterschätzen, der als schlichter Ägidius Thürl zur Welt gekommen war und sich nun hochtrabend Portikus nannte. Dieser würde seinen ersten, noch so kleinen Fehler ausnützen, um ihn als Ketzer anzuzeigen.
Seufzend legte er das Flugblatt beiseite, ging zu Bett und blies das Licht aus. Doch er konnte nicht einschlafen. Immer wieder amüsierte er sich bei dem Gedanken, welche Augen etliche Bürger am nächsten Morgen bei der Messe machen würden, wenn sie Martin Luthers Schriften auf ihren Plätzen vorfanden.
»Portikus wird vor Wut platzen und vom Herzog fordern, die Überwachung der Bürger weiter zu verschärfen. Also muss ich noch schlauer sein als bisher«, sagte er zu sich selbst.
Dann dachte er an seine Zukunft. Was war, wenn sein Vater ihm ein Eheweib aufhalste, das er nicht mochte und mit dem er auch im Bett nicht zurechtkam? Viele Pfaffen redeten den Weibern ein, es sei bereits eine Sünde, Vergnügen am Verkehr mit dem eigenen Mann zu finden. Daher hielten etliche ihre Schenkel fest geschlossen und gaben nur nach, wenn der Ehemann mit Prügeln drohte. Solch ein Weib wollte er wirklich nicht sein Eigen nennen. Doch was blieb ihm übrig, wenn sein Vater ihn aufforderte zu heiraten?
Wahrscheinlich ebenso wenig wie seinem Freund Bartl Leibert. Der war fest überzeugt, nur die Schwester zu deren Bräutigam zu bringen, und ahnte nicht, dass er im Haus der Antscheller in Innsbruck gnadenlos gemustert werden würde, ob er als Ehemann für eine der Töchter in Frage käme. Da fiel Ernst ein, dass auch er eine Antscheller-Tochter heiraten musste, und in diesem Augenblick kam er sich vor wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt werden sollte. Mit diesem beängstigenden Gedanken schlief er ein.