8.

Am nächsten Tag schwirrten die widersprüchlichsten Gerüchte durch München. Da war von einem Überfall auf Vevas Haus die Rede, von Toten und Verletzten, einige wollten gar eine Reiterschar gesehen haben, die die Schwabinger Gasse entlanggeprescht wäre. Und doch fand man nur einen weiten Umhang, den einer der Reiter kurz vor dem Schwabinger Tor verloren haben musste. Der Nachtwächter berichtete schließlich, kurz vor Mitternacht habe Pater Remigius im vollen Priesterornat auf einem Pferd sitzend Durchlass gefordert. Noch mysteriöser wurde die Sache, als der Wirt der Goldenen Krone am Schrannenplatz meldete, ihm sei in der Nacht ein Pferd gestohlen worden.

Während die Münchner sich die Köpfe darüber heißredeten, machte eine andere Nachricht die Runde. Es hieß, Veva Rickinger habe in der Nacht einige Wochen zu früh ihr Kind entbunden, welches so winzig wäre, dass es wohl kaum die nächsten Tage überleben werde.

Sofort erinnerten sich einige Schandmäuler an Vevas Entführung, doch selbst nach mehrmaligem Nachrechnen kamen die, die etwas davon wussten, zu dem Ergebnis, dass Veva mit einer Frucht der Vergewaltigung durch die Räuber mehr als zehn Monate hätte schwanger gehen müssen. Daher hielten alle bis auf ein paar missliebige Leute wie Eustachius Rickinger, dessen Frau und deren Verwandtschaft die Kleine für Ernsts Kind.

Im Rickinger-Haus verging Susanne beinahe vor Wut, weil Vevas Kind einen Anteil am Erbe ihres Mannes erhalten würde. Zuletzt hielt sie es nicht mehr aus, hüllte sich in ihr Schultertuch und eilte ins Haggengässel. Dort pochte sie an die Haustür und stieß den Schwab, der ihr aufmachte, erregt zur Seite.

»Ich will den Sündenbalg sehen«, keifte sie.

»Bei uns gibt’s keinen Sündenbalg«, gab der Knecht eisig zurück. Aufzuhalten wagte er die Frau nicht, denn ihrem gewaltigen Bauch zufolge würde sie ebenfalls in wenigen Tagen gebären. Allerdings folgte er ihr, um notfalls eingreifen zu können.

Susanne platzte, ohne anzuklopfen, in Vevas Kammer, als diese gerade ihrer Tochter die Brust gab. Bei dem Anblick blies die Bäckerwitwe die Backen auf. »Pah, du säugst den Balg wie eine Bäuerin oder Magd. Mehr ist es auch nicht wert.«

Dann betrachtete sie das winzige Wesen genauer und lachte. »Was ist denn das? Dieses Kind passt ja in meine hohlen Hände!«

»Du hast ja auch die entsprechenden Pratzen!«, antwortete der Schwab erbost. Er packte Susanne bei den Schultern und wollte sie aus dem Zimmer drängen.

Diese fuhr ungeachtet ihrer Leibesfülle herum und schlug ihm ins Gesicht. »Rühre mich nicht an, Knecht, elender! Und was dich angeht, Veva, werde ich jedem sagen, dass das Ding da niemals das Kind meines toten Stiefsohns sein kann. Versuche also erst gar nicht, dessen Erbe zu fordern.«

Dabei funkelte sie Veva so hasserfüllt an, dass diese ihr Kind unwillkürlich mit den Armen schützte. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst! Und komme ja so schnell nicht wieder. Doch was Ernsts Erbe angeht: Es steht meiner Tochter zu, und sie wird es auch bekommen.«

Susannes Gesicht färbte sich rot, aber sie winkte mit einem schrillen Lachen ab. »So, wie der Balg aussieht, übersteht der keine Woche. Daher wird mein Sohn einmal den Besitz meines Mannes erben. Du jedenfalls siehst nichts davon!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und watschelte davon.

»Fall nicht die Treppe hinab, sonst ist es gleich aus mit deinem Sohn, wenn es überhaupt einer wird!«, rief der Schwab ihr nach und schloss die Tür von Vevas Kammer. Draußen war Lina auf die Besucherin aufmerksam geworden und vertrat der Frau ihres früheren Herrn den Weg. »Du bist ein Schandmaul, das an den Pranger gehört!«

Jetzt fing auch Lina sich eine Ohrfeige ein, dann verließ Eustachius Rickingers Ehefrau das Haus und schimpfte zur Belustigung der Gassenbuben auf dem ganzen Heimweg vor sich hin.

Als der Schwab von oben herabkam, schüttelte er den Kopf. »So eine Zwiderwurzn! Dass es so ein Weibsbild überhaupt geben darf.«

Die alte Lina blickte ihn streng an. »Die Mannsleute sind auch nicht besser! Oder hast du den Haselegner und den Pater Remigius vergessen?«

Als der Schwab diese Namen hörte, zog er ein Gesicht, als hätte er puren Essig geschluckt. »Nein, gewiss nicht. Die zwei soll der Teufel holen.«

»Der Haselegner steckt im Kerker. Aber was ist mit dem weibstollen Pfaffen? Ist der schon erwischt worden?«, fragte Lina nach.

»Nein! Er soll in Richtung Schwabing geritten sein. Wahrscheinlich will er weiter nach Freising, damit ihn der Herzog nicht am Wickel kriegen kann. Aber wenn dem Herrn Wilhelm zu Ohren kommt, was hier geschehen ist, zieht er eher mit Kriegsknechten gegen den Bischof, als Remigius ohne Strafe davonkommen zu lassen. Und jetzt geh zur Herrin hinauf! Nicht, dass sie sich zu sehr über die Bäckerin aufgeregt hat und krank wird.« Der Schwab schob Lina auf die Treppe zu und sagte sich, dass er beim nächsten Mal besser darauf achten musste, wen er zur Haustür hereinließ.

Lina stieg besorgt nach oben, traf die Wöchnerin aber bei guter Laune an.

Veva wickelte gerade das Kind und freute sich, wie es die Ärmchen und Beinchen bewegte. »Ich glaube, sie ist bereits ein wenig gewachsen«, sagte sie, obwohl der Unterschied wirklich nicht zu erkennen war.

Lina nickte jedoch eifrig und reichte ihrer Herrin eine frische Windel. »Die Kleine ist erstaunlich munter. Dabei ist sie so winzig, dass sie beinahe in ihrer Wiege verschwindet.«

Die alte Frau kitzelte den Säugling am Kinn und sah lachend zu, wie dieser mit den Händchen danach zu greifen versuchte. »Sie ist so lebendig, wie man es sich nur wünschen kann«, sagte sie zu Veva.

»Die meiste Zeit schläft sie wie ein Murmeltier. Aber sie hat bei jedem zweiten Stundenschlag Hunger und trinkt gut.« Veva betrachtete ihre Tochter und spürte, wie ihr dieses winzige Wesen half, den Schrecken der letzten Nacht zu vergessen. Aber als sie das Kind wieder in die Wiege gelegt hatte, nahm sie Hilarius’ Bericht an sich und las ihn noch einmal durch. Mehr denn je war sie der Ansicht, dass Franz von Gigging etwas mit dem Verschwinden ihres Mannes zu tun hatte, und sie überlegte, wie sie Gewissheit über Ernsts Schicksal erlangen konnte. Ihre eigenen Möglichkeiten waren jedoch zu gering, und sie glaubte auch nicht, dass Jakob Fugger etwas bewirken könne. Sie brauchte die Hilfe eines anderen, und sie wusste auch schon, wessen.

Die Ketzerbraut. Roman
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