10.
Obwohl Veva mehrere wollene Jacken und Röcke übereinander angezogen und Echle sie zudem noch mit Fellen zudeckt hatte, war sie froh, als sich die Silhouette Münchens aus dem grauen, trüben Horizont schälte. Da ihr trotz all der Schichten Stoff kalt war, fragte sie sich, wie es Ernst gehen mochte, der in einen weiten Mantel gehüllt hinter dem Wagen ritt. Anders als sie schien sich Korbinian Echle in seinem Schaffellmantel und den dicken, mit Heu gepolsterten Stiefeln wohl zu fühlen. Allerdings hatte er auch eine bis über die Ohren reichende Mütze auf und keinen schlichten Filzhut wie Ernst, bei dem sich die Krempe in dem steifen Wind immer wieder aufbog.
»Geht es noch?«, fragte sie ihren Mann.
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Aber ich gebe ehrlich zu, ich habe nichts gegen einen Becher heißen Würzwein, so wie ihn Leiberts Cilli zu machen pflegt.«
»Es ist jetzt unsere Cilli«, erinnerte Veva ihn. »Wir beide sind nun anstelle meines Vaters die Besitzer des Anwesens und des Handelshauses.« Sie sagte »wir«, weil sie von vorneherein klarstellen wollte, dass Ernst sie nicht von seinen Geschäften ausschließen durfte. Ihr Vater hatte das Recht gehabt, ihr sein Wissen vorzuenthalten, doch ihrem Mann würde sie dies nicht zugestehen.
Ernst spürte, dass Veva ihre Federn aufstellte. Da er schon vorher beschlossen hatte, sie zumindest dann mit der Aufsicht über seine Handelsaktionen zu betrauen, wenn er auf Reisen war, lächelte er. Sein Vater und Leibert hatten in seinen Augen den gleichen Fehler begangen, ihre Frauen vom Geschäft fernzuhalten. Allerdings musste er gerechterweise zugeben, dass seine Mutter sich niemals dafür interessiert und sich seit seiner Geburt nur noch um ihn gekümmert hatte. Nun nahm mit Susanne Striegler eine ganz andere Person ihre Stelle ein. Obwohl schon einige Wochen ins Land gegangen waren, seit sein Vater geheiratet hatte, wusste er noch immer nicht, wie er sich zu seiner Stiefmutter stellen sollte.
Die Ankunft am Neuhauser Tor beendete sein Sinnieren. Die Wächter standen in dicke Mäntel gehüllt im Windschatten der Mauer und sahen wenig glücklich aus, als sie den Wagen vor sich auftauchen sahen.
»Ach du bist es, Echle. Was bringst du denn heute wieder mit?« Die Männer hätten den Augsburger am liebsten durchgewinkt, denn sie kannten ihn gut. Doch Befehl war nun einmal Befehl, und der lautete, genau darauf zu achten, dass keine Ware ohne Frachtbrief und vor allem keine ketzerischen Schriften in die Stadt geschmuggelt wurden. Daher bequemten sie sich widerwillig, den geschützten Platz zu verlassen.
Echle reichte ihnen die Liste der Güter, die er geladen hatte, und wies dann auf Veva und Ernst. »Die zwei sind Münchner Bürger, die könnt ihr ja durchlassen, damit sie endlich ins Warme kommen.«
»Ah, der Rickinger Ernst. Lasst Ihr Euch auch wieder einmal blicken? Ein paar Leute werden sich nicht gerade über deine Rückkehr freuen. Pater Remigius speit in letzter Zeit Feuer, wenn er nur Euren Namen hört, und wenn’s nach dem Doktor Thürl ginge, dürften wir Euch gar nicht mehr einlassen.«
Die Miene des Mannes machte keinen Hehl daraus, dass er kein Freund der beiden Geistlichen war. Trotzdem wies er Ernst an, vom Pferd zu steigen und sein Gepäck vorzuzeigen.
»Das liegt hier auf dem Wagen. Ihr könnt es doch auch ohne ihn ansehen, damit die Frau aus der Kälte kommt.« Echle schüttelte den Kopf über so viel Diensteifer, doch der Torhüter zuckte nur mit den Achseln.
»Der Thürl will, dass alles kontrolliert wird, und da können wir nicht ausgerechnet den Rickinger Ernst durchlassen. Es dauert nicht lange.« Der Torwächter öffnete das Bündel, das Ernst ihm zeigte, doch außer ein wenig Kleidung und ein paar persönlichen Gegenständen war nichts zu finden.
»Jetzt muss ich Eure Ankunft nur noch ins Wachbuch einschreiben. Dann könnt Ihr passieren!«, sagte er und verschwand in der Wachkammer. Kurz darauf kehrte er zurück und winkte seinen Untergebenen, den Weg freizugeben.
»Übrigens, mein Beileid noch, Rickingerin, wegen des Todes von Eurem Vater. Sicher seid Ihr deswegen nach Haus gekommen.«
Veva nickte, stieg, von Echle gestützt, vom Wagen und blickte dann zu Ernst auf. »Komm! Mir beginnen die Knochen einzufrieren.«
Ernst lenkte sein Pferd auf das Tor zu, stieg dann aber ab und hielt den Gaul am Zügel. »Willst du aufsitzen?«
»Nein! Die paar Schritte gehe ich lieber zu Fuß.« Obwohl das Tier nicht allzu temperamentvoll war, wollte Veva nichts riskieren. Schon so manche Edeldame war bei einem Ausritt vom Pferd gestürzt und hatte ihr Kind verloren.
Mit einem Dankeschön an die Torwächter, das Ernst mit einem Trinkgeld unterstrich, durchschritten sie das Neuhauser Tor und gingen die Neuhauser Straße entlang. Kurz vor dem Schönen Turm bogen Ernst und sie ab und gelangten kurz darauf zum Leibert-Haus im Haggengässel.
Ernst pochte ans Hoftor. Es dauerte recht lange, bis jemand erschien und ihnen aufmachte. Ernst erkannte Sepp, der sie missmutig musterte und weder ihn noch Veva auf Anhieb zu erkennen schien.
»Was wollt ihr?«, fragte er kurz angebunden.
»Erst einmal ins Warme und dann vielleicht noch einen Becher Würzwein«, erklärte Veva und schob Sepp einfach beiseite.
»Die Veva! Ich meine, die Frau Rickingerin!« Jetzt ärgerte Sepp sich, nicht besser aufgepasst zu haben. Leibert hatte in letzter Zeit den Schwab als Knecht vorgezogen, und so hatte er gehofft, die Tochter so weit bringen zu können, dass er wieder die angenehmeren Arbeiten aufgetragen bekam. Aber das hatte er sich vorerst verscherzt.
Um wenigstens auf Ernst einen guten Eindruck zu machen, ergriff er die Zügel des Pferdes und fragte, ob er das Tier abreiben und füttern solle.
»Tu das! Und spar nicht mit Hafer. Der Braune hat’s verdient.« Damit wandte Ernst ihm den Rücken zu und folgte Veva zu dem Eingang, der vom Hof ins Haus führte.
Drinnen war es so still wie in einer Gruft. Langsam schritt Veva in die Düsternis des unbeleuchteten Flurs hinein. Sie war in ihr Elternhaus zurückgekehrt, und doch fühlte sie sich hier fremder als in dem kleinen Häuschen in der Fuggerei oder dem Anwesen, das Ernst und sie erworben hatten. Wenn sie nach Augsburg zurückkehrten, würde ihr Heim fertig sein. Wahrscheinlich wohnten dann schon Rosi und Hilarius im Haus und der kleine Nis, den die beiden unter ihre Fittiche nehmen wollten.
Sie fand es seltsam, dass sie an dem Ort, an dem sie geboren worden war, an Augsburg denken musste, doch die wenigen Wochen dort hatten ihr Leben stark verändert. Veva trat in die Küche.
Cilli stand am Herd, während der Schwab am Tisch saß und sich mit einem Becher Bier in der Hand leise mit der Köchin unterhielt. Beide drehten sich um, als sie die Türe gehen hörten, und rissen die Augen auf.
»Jesus, Maria und Josef! Die Veva und der Ernst!« In ihrer Erregung vergaß Cilli ganz, dass sie ihre neue Herrschaft höflicher hätte ansprechen müssen. Sie ließ den Kochlöffel fallen und eilte Veva entgegen. »Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist, Dirndl«, sagte sie unter Tränen und klammerte sich an die junge Frau.
Veva strich ihr über das Haar und ließ sie weinen. »Ja, ich bin wieder da!«
Sie seufzte und blickte den Schwab an, der ebenfalls so aussah, als würde er sie am liebsten umarmen.
Das getraute er sich jedoch nicht, sondern nahm seine Mütze in die Hand und lächelte. »Also hat Euch Echle alles ausgerichtet, was ich ihm aufgetragen habe?«
»Ja, das hat er. Er hat mir aber auch einen Brief von meinem Schwiegervater gebracht, in dem es heißt, ich könne ruhig in Augsburg bleiben.« Vevas Tonfall ließ nicht erkennen, was sie von dem Schreiben hielt.
»Der Rickinger war in den letzten Tagen ein paarmal da, um uns zu sagen, wo es langgeht. Er will den ganzen Handel von seinem Haus aus erledigen, hat er gemeint, und unseres nur noch als Lager verwenden. Aus dem Grund will er auch die Dienstboten verringern. Bloß der Schwab und ich sollen bleiben, dazu will er uns die alte Lina schicken. Die versteht sich nämlich nicht mit seiner neuen Frau«, erklärte Cilli bitter.
Nun huschte ein erster Ausdruck von Ärger über Vevas Gesicht. Ihr war klar, dass nach dem Tod ihres Vaters Änderungen vorgenommen werden mussten. Doch sie mochte es nicht, wenn ein Fremder sich zum Herrn aufschwang und Dinge befahl, die nicht in ihrem Sinn waren.
»Wir kriegen übrigens auch den Hasso«, setzte der Schwab hinzu, »weil der die neue Frau ständig verbellt. Sie hat ihn schon erschlagen lassen und den Kadaver einem Ledermacher geben wollen. Aber das hat ihr Mann dann doch nicht zugelassen. Nun schiebt er halt alles, was er und seine Frau nicht brauchen können, zu uns ab. Deshalb bin ich froh, dass Ihr gekommen seid. Immerhin ist das Haus hier Euer Erbe, und wenn da was geändert werden soll, müsst Ihr es anschaffen.«
Veva sah rasch zu Ernst hin, um zu sehen, wie er auf die unverblümten Worte des Knechts reagierte.
Ihr Mann nickte jedoch nur und lächelte ihr zu. »Du bist die Hausherrin und musst entscheiden, was hier geschieht. Ich würde mich jedoch freuen, wenn du Lina und den guten Hasso hier aufnehmen könntest. Beide sind treue Seelen. Was den Handel betrifft, so werde ich mit meinem Vater sprechen. So, wie er es meint, geht es wirklich nicht.«
Mit diesem Entschluss hatte Ernst einen Trennstrich gezogen. Das Wohnhaus und was darin geschah, war Vevas Sache, während er selbst in die Fußstapfen ihres Vaters treten und das Handelsgeschäft übernehmen würde. Vor ihrem Aufenthalt in Augsburg hatte Veva sich davor gefürchtet, Ernst im Kontor ihres Vaters zu sehen. Doch unter Jakob Fuggers Fittichen hatte er viel gelernt und würde, gerade weil er sich noch enger an den Augsburger Kaufherrn anlehnen wollte, ihren und damit auch seinen Reichtum mehren.
Sie atmete kurz durch und reichte ihm die Hand. »Es ist doch selbstverständlich, dass ich die, die dir wohlgesinnt sind, hier bei uns aufnehme. Für Lina wird sich gewiss eine Aufgabe finden.« Dabei griff Veva sich unwillkürlich an den Leib. Während ihrem Mann und dem Schwab die Geste entging, leuchteten Cillis Augen auf. Sie sagte nichts, dachte sich aber, dass Vevas Vater, wenn er vom Himmel herab auf seine Tochter sah, wohl sehr zufrieden sein würde.