1.

Veva hörte ihren Bruder lachen und schob den Vorhang der Reisesänfte beiseite, um den Grund seiner Heiterkeit zu erfahren. In diesem Augenblick ritt Bartholomäus, den alle nur Bartl nannten, um ihn von seinem Vater zu unterscheiden, in flottem Trab an ihr vorbei. Von den Hufen seines Wallachs stob Schlamm auf, und ehe Veva sich versah, hing ihr ein Batzen Dreck im Gesicht.

»Kannst du nicht aufpassen!«, schalt sie empört.

Ihr Bruder lachte schallend und setzte sich ohne ein Wort der Entschuldigung an die Spitze des kleinen Reisezugs, den er kurz verlassen hatte, um mit einer Hirtin zu schäkern.

Während sich Veva mit ihrem Unterkleid das Gesicht reinigte, bedachte sie Bartl mit ein paar bissigen Worten. Zwar war ihr Bruder nur eine Stunde jünger als sie, doch manchmal schien es ihr, als läge ein ganzes Jahrzehnt zwischen ihnen. Nichts nahm er ernst, kein Scherz war ihm zu deftig. Auch trieb er sich trotz der dreiundzwanzig Jahre, die sie beide zählten, lieber mit seinen Freunden in Schenken herum, anstatt den Vater in seinen Geschäften zu unterstützen.

Natürlich liebte Veva ihn dennoch über alles und hatte ihm stets geholfen, die Folgen seiner Streiche zu mildern. So hatte sie anstelle ihres Bruders dem Vater die Bücher geführt und die Briefe nach dessen Diktat geschrieben, wenn seine von der Gicht geplagten Finger nicht mehr in der Lage waren, die Feder zu halten. In Zukunft aber würde Bartl endlich Verantwortung übernehmen und dem Vater zur Hand gehen müssen.

Nicht zum ersten Mal auf dieser Reise fragte sie sich, ob ihr Vater sich nur deswegen so rasch entschlossen hatte, sie zu verheiraten, damit Bartl sich endlich seiner Pflichten entsann. Vielleicht war ihre Ehe auch schon länger geplant gewesen und nur wegen des Todes ihrer Mutter verschoben worden. Alt genug zum Heiraten war sie ja. Die meisten ihrer Freundinnen hatten schon ein oder zwei Kinder geboren, und sie selbst wäre durchaus bereit gewesen, einem Mann in dessen Haus zu folgen. Aber es wäre ihr wichtig gewesen, sich ein paar Monate oder zumindest einige Wochen auf die Hochzeit vorbereiten zu können. So aber war sie von den Plänen ihres Vaters schier überrollt worden.

Sie wusste nicht genau, wie weit Innsbruck von ihrer Heimatstadt München entfernt lag, aber je länger die Reise dauerte, umso stärker wurde das Gefühl, in die Verbannung geschickt zu werden. Dabei hatte sie sich ein Zuhause gewünscht, von dem aus sie ihre Familie jederzeit hätte besuchen können. Auch gefiel ihr nicht, dass sie Friedrich Antscheller, ihren Bräutigam, nur ein Mal als Gast in ihrem Vaterhaus gesehen hatte. Und an jenem Tag hatte sie nicht einmal geahnt, dass sie diesen Mann demnächst heiraten sollte. Doch selbst wenn ihr Vater es ihr mitgeteilt hätte, wäre es ihr in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen, sich ein Bild von seinem Charakter zu machen. Nun würde sie den Rest ihres Lebens mit jemandem zusammenleben müssen, der ihr völlig fremd war.

»Jetzt fang nicht an zu weinen! Schließlich bist du eine erwachsene Frau und kein Mädchen von zwölf Jahren, das den Schürzenzipfel der Mutter nicht loslassen will. Außerdem ist Friedrich Antscheller ein gutaussehender, strebsamer junger Mann«, schalt Veva sich und blickte wieder nach vorne zu ihrem Zwillingsbruder, der ein munteres Liedchen trällerte.

Obwohl ein kühler Wind von den Bergen herabpfiff, trug Bartl nur sein neues rotes Wams und enge Hosen, die sich wie eine zweite Haut um die Schenkel schmiegten. Nicht zuletzt dieser Kleidung wegen hatte der Vater ihn beim Aufbruch einen Fant geheißen, der unbedingt die Edelleute nachäffen müsse.

Auf Vevas Stirn erschienen winzige Falten, als sie an den letzten Streit zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder dachte. Die Auseinandersetzung kurz vor dem Antritt der Reise war kein gutes Omen für die Zukunft, in der die beiden ohne sie würden auskommen müssen.

Veva schüttelte sich und versuchte, die trübsinnigen Gedanken wegzuschieben. Schließlich wollte sie den Tag genießen, so gut es auf so einer Fahrt möglich war. Es war zwar nicht warm, aber sonnig, und es sah auch nicht so aus, als würde es wieder so stark regnen wie in der gesamten letzten Woche.

Eben ritt Bartl unter einem Baum hindurch, hieb aus Spaß mit seiner Reitgerte gegen das Geäst und trennte mehrere Buchenblätter von den Zweigen. Während die meisten zu Boden segelten, blieb ein Blatt an seiner Mütze haften wie eine Feder. Jetzt musste Veva doch lächeln. »Wird es dir nicht doch ein wenig kalt, Bruderherz? Dein Wams ist dünn, und bei deinen Hosen hat man arg mit der Wolle gespart«, spöttelte sie.

Bartl sah sich zu ihr um und lachte so, dass sie die ebenmäßigen weißen Zähne sehen konnte. Er war ein schmucker Bursche, das musste sie zugeben. Etliche jüngere Mädchen aus ihrer Bekanntschaft schwärmten für ihn und hatten ihr bereits verraten, wie sehr sie sich freuen würden, ihre Schwägerin zu werden. Bei dem Gedanken erinnerte sie sich wieder an Friedrich Antscheller, und sie fragte sich, ob er ebenfalls Schwestern oder Brüder hatte. Es ärgerte sie, dass der Vater ihr kaum etwas über die Familie ihres Zukünftigen erzählt hatte. Für ihn war nur wichtig gewesen, dass Friedrich der Sohn eines langjährigen Geschäftsfreunds und Handelspartners war.

Unterdessen begann Bartl sich an der Spitze des Zuges zu langweilen. Er lenkte seinen Wallach etwas zur Seite und wartete, bis die Maultiere, die Vevas Sänfte trugen, zu ihm aufgeschlossen hatten. Ihm entging, dass die Knechte, die die Tiere gemütlich bergan führten, sich ebenso über sein Ungestüm amüsierten wie die sechs bewaffneten Männer, welche den Reisezug beschützen sollten.

Lachend blickte Bartl auf Veva hinab. »Gefällt dir die Reise?«

»Sie ist mir ehrlich gesagt viel zu lang, und es macht mich traurig, so weit weg von zu Hause leben zu müssen«, antwortete sie beklommen.

»Bis Innsbruck sind es schon ein paar Tagesreisen«, gab Bartl zu. »Aber ich werde dich besuchen, so oft ich kann, und dein Zukünftiger wird sicher nichts dagegen haben, wenn du ein- oder zweimal im Jahr nach München kommst. Er scheint mir ein verständiger Mann zu sein.«

… und ein langweiliger Tropf, setzte Bartl in Gedanken hinzu. Das war in einer Ehe mit seiner Schwester jedoch kein Fehler. Nicht, dass er Veva langweilig genannt hätte. Aber sie hatte ihre eigenen Ansichten, was das Betragen eines Mannes betraf, und da passte Friedrich Antscheller besser zu ihr als zum Beispiel sein Freund Ernst Rickinger, der gleich ihm lieber den eigenen Vater arbeiten ließ und selbst das Leben genoss.

Auch Bartl hätte es vorgezogen, die Schwester in der Nähe zu wissen. Doch der Vater hatte bestimmt, dass sie nach Innsbruck verheiratet wurde, und seinem Wort mussten sie sich fügen.

»Es ist ein schöner Ritt«, sagte er, um das erschlaffende Gespräch wieder zu beleben.

»Wir sind jetzt schon vier Tage von zu Hause weg und werden noch ein paar Tage unterwegs sein, bis wir Innsbruck erreichen. Wenn du mich fragst, finde ich das Reisen äußerst unbequem. Die Sänfte ist so eng, dass ich mich nicht recken oder ausstrecken kann. Außerdem wird mir von diesem ständigen Schwanken schlecht.« Veva hatte bisher noch nie eine Pferdesänfte benutzt, denn weiter als bis Andechs war sie nicht gekommen. Die Wallfahrt zum dortigen Kloster dauerte nur einen Tag und ließ sich leicht zu Fuß bewältigen, während ihr die Reise nach Innsbruck immer unheimlicher wurde.

Veva bedachte die Berge, die sich um sie herum auftürmten, mit einem scheelen Blick. Auf sie wirkte das Gebirge wie ein himmelhoher, unüberwindlicher Wall aus Felsen und Eis. Aber es musste Stellen geben, an denen man diese natürlichen Mauern passieren konnte. Ihr grauste es jedoch bei dem Gedanken, sich den steil aufragenden Gipfeln nähern zu müssen.

»Wir würden Innsbruck weitaus schneller erreichen, wenn du nicht mit der Sänfte reisen, sondern reiten würdest!«, erklärte Bartl ihr.

Diesen Einwurf empfand Veva als ungerecht. Ihr Bruder wusste doch selbst, dass sie nicht reiten konnte. Das taten nur Damen von Stand, und auch die setzten sich lediglich bei kleineren Ausritten und natürlich auf der Jagd in den Sattel. Aber eine Dame, die auf sich hielt, benutzte einen Reisewagen oder eben eine Sänfte ähnlich jener, in der sie selbst reiste.

Bevor ihr eine passende Antwort einfiel, hörte sie den Anführer ihrer bewaffneten Eskorte rufen. »Junger Herr! Da kommt ein Mann auf uns zu und winkt, wir sollen stehen bleiben.«

Bartl warf seiner Schwester noch einen spöttischen Blick zu und lenkte sein Pferd wieder an die Spitze des Zuges, der gerade eine Stelle passierte, an der ein schmaler Pfad vom Hauptweg abzweigte. Aus der Richtung, in die sie reiten wollten, eilte ihnen ein Mann entgegen und fuchtelte mit den Armen. Der Fremde trug einen erdbraunen Kittel mit Schulterkragen und Gugel, lange Wollhosen, lederne Gamaschen und feste Schuhe. An seiner Seite hing ein langer Hirschfänger, und als er näher kam, sah man, dass noch ein Dolch in seinem Gürtel steckte.

Neugierig beugte Veva sich aus ihrer Sänfte und musterte den Fremden. Der Mann machte keinen guten Eindruck auf sie, und sie hätte ihren Bruder am liebsten gebeten weiterzureiten. Doch Bartl zügelte sein Pferd und befahl auch den Knechten anzuhalten.

»Was gibt es, guter Mann?«, fragte er.

Der Fremde blieb vor ihm stehen und sah mit schräg gelegtem Kopf zu ihm auf. »Hier kommt Ihr nicht durch, denn weiter oben wird die Straße durch einen Erdrutsch blockiert. Aber ich kenne einen anderen Weg, auf dem Ihr diese Stelle umgehen könnt. Wenn Ihr mir folgen wollt …« Er machte eine einladende Handbewegung in Richtung des abzweigenden Pfades.

»Danke, guter Mann! Das ist rechter Rat zur rechten Zeit.« Bartl beugte sich vom Pferd, um dem Fremden auf die Schulter zu klopfen, und lenkte sein Pferd auf den schmäleren Weg.

Der Anführer der Eskorte versuchte, ihn aufzuhalten. »Sollten wir nicht besser nachschauen, ob das, was der Kerl da behauptet, auch stimmt?«

»Willst du mich der Lüge zeihen?«, fuhr der Fremde auf und griff zu seinem Hirschfänger.

»Natürlich nicht«, erklärte Bartl. »Aber wenn wir jetzt weiterreiten und dann umkehren müssen, erreichen wir die nächste Herberge nicht mehr, und ich will meiner Schwester nicht zumuten, die Nacht mitten in der Wildnis zu verbringen.«

»Auf diesem Weg gibt es ein Stück weiter oben eine ordentliche Herberge, in der sogar Herrschaften einkehren«, versicherte der Fremde. »Wenn Ihr mich für meinen Rat belohnen wollt, könnt Ihr mir dort die Unterkunft, ein Stück Braten und einen oder zwei Becher Wein bezahlen.«

»Das tu ich gerne«, versprach Bartl.

Damit war die Entscheidung getroffen. Die sechs Bewaffneten und die vier Knechte, die zu dem Reisezug gehörten, bogen ohne weiteren Widerspruch in den ihnen gewiesenen Pfad ein. Veva jedoch wurde das Gefühl nicht los, der Fremde mache sich über Bartl lustig. Sie fasste sich ein Herz und bat ihren Bruder, lieber die breitere Straße zu nehmen.

Doch Bartl lachte sie aus und nannte sie ein dummes kleines Mädchen.

Die Ketzerbraut. Roman
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