10.

Die Pforte, die Langenmantel Ernst genannt hatte, stand offen. Erleichtert schob er den Mönch hindurch und folgte ihm mit einem letzten, forschenden Blick nach hinten. Noch verfolgte sie niemand. Dabei schlug die Glocke gerade die Mitternachtsstunde. Oder war es eine Stunde früher? Möglicherweise hatte Ernst sich verzählt.

»Langenmantel ist noch nicht hier. Gehen wir ihm entgegen«, forderte er Luther auf. Sie kamen jedoch nur einige Schritte weit, dann hörten sie Hufgetrappel. Sofort blies Ernst die Lampe aus und zog den Mönch ein Stück von der Straße weg. Zwei Reiter erschienen und verhielten ihre Pferde.

Ein leiser Pfiff ertönte. »Rickinger, seid Ihr es?«

Aufatmend vernahm dieser die Stimme des Domherrn. »Ja! Dem Herrn im Himmel sei Dank! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

»Die waren unnötig. Seid Ihr gut aus der Stadt gekommen?«

»Das sind wir. Aber wir sollten uns beeilen, damit Doktor Luther einen Vorsprung gewinnt.« Obwohl Ernst drängte, begann Korbinian Echle zu lachen.

»Keine Sorge! Uns holt schon keiner ein. Auf jeden Fall ist dies ein anderes Abenteuer, als Flugblätter in München zu verteilen, nicht wahr?«

Ernst war klar, dass Echle hinter den spöttischen Worten nur seine Angst verbergen wollte. Dabei hatte der Ratsbote bereits sein Leben riskiert, indem er Luthers Thesen und Streitschriften in Bayern verteilte. Dies hier jedoch war die Krönung ihrer Taten.

Ernst trat zu Echles Pferd und gab seinem Mitstreiter einen freundschaftlichen Klaps. »Viel Glück, Echle. Ich werde für deine unversehrte Rückkehr beten!«

»Das kann nicht schaden. Aber nun rauf auf den Gaul, Herr Doktor. Spazieren reiten sollten wir hier nämlich nicht!«

Langenmantel war unterdessen von seinem Pferd gestiegen und half Luther in den Sattel. Der Sachse fasste kurz seine und dann Ernsts Hand. »Möge Gott es euch vergelten.«

»Besorgt Euch die Sachen, die Ihr braucht, unterwegs! Aber erst, wenn Ihr weit genug gekommen seid«, riet Ernst ihm. Dann zogen Echle und Luther ihre Pferde herum und trabten davon.

Ernst und Langenmantel sahen ihnen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckte.

»Hoffentlich findet Echle in der Nacht den richtigen Weg«, sagte Ernst nach einem Stoßgebet.

Sein Begleiter legte ihm mit einem leisen Lachen die Hand um die Schulter. »Wenn hier einer jeden Weg und jeden Steg kennt, so ist es Echle. Außerdem geht bald der Mond auf. Dann ist die Sicht so gut, dass sie ihre Pferde zum Galopp antreiben können. Bis dorthin sollten wir allerdings wieder in der Stadt und am besten auch in unseren Häusern sein. Ich möchte nicht, dass wir zum Opfer der Wut von Cajetanus’ Kreaturen werden, weil ihnen der Fisch, auf den sie aus waren, aus dem Netz gesprungen ist.«

»Das ist ein guter Ratschlag!«, antwortete Ernst lockerer, als er sich fühlte, und wandte sich wieder der Stadtmauer zu. Obwohl er die Pforte vor kurzem erst passiert hatte, brauchte er Langenmantels Hilfe, um sie wiederzufinden. Nachdem sie sie durchquert hatten, sperrte der Domherr die Pforte sorgfältig ab und steckte den Schlüssel in den Gürtel. »Ich gehe noch rasch zur Wachstube und bringe den Schlüssel zurück. Ihr aber lauft, so schnell es geht, nach Hause.«

»Gott befohlen!« Ernst winkte Langenmantel noch kurz zu und eilte davon. Als er die Fuggersiedlung erreichte, hoffte er nur, dass der Pförtner nicht merkte, wie spät es bereits war, und sich mit der Erklärung zufriedengab, er habe eben erst das Fuggerhaus verlassen können.

Er klopfte zuerst vorsichtig, dann etwas lauter. Doch niemand kam. Ernst sah sich schon die ganze Nacht ausgesperrt im Freien verbringen. Da hörte er innen ein Geräusch und klopfte erneut.

»Wer ist draußen?«, fragte eine Frauenstimme.

»Ich, Ernst Rickinger«, begann Ernst und wurde sofort unterbrochen.

»Dachte ich es mir doch. Am liebsten würde ich dich vor dem Tor stehen lassen. Etwas Besseres hast du nicht verdient!«

»Veva!« Ernst fiel ein Felsblock vom Herzen. »Bitte, lass mich ein. Ich kann dir alles erklären!«

»Behalte deine Lügen für dich. Ich will sie nicht hören!« Es klang so böse, dass Ernst befürchtete, Veva würde ihn tatsächlich nicht einlassen. Dann aber schwang die Tür auf, und er sah seine Frau vor sich. In der Linken hielt sie eine Laterne und leuchtete ihn an. Ihre Augen blitzten vor Zorn, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck höchster Verachtung.

Veva hätte ihrem Mann am liebsten ins Gesicht geschrien, was sie von seinem Benehmen hielt. Den gestrigen Tag war er überhaupt nicht nach Hause gekommen, und heute war die Mitternachtsstunde auch schon vorüber. Doch sie wollte den anderen Bewohnern der kleinen Siedlung nicht das Bild einer keifenden Ehefrau bieten. Stumm ließ sie Ernst eintreten, schloss das Tor wieder zu und brachte den Schlüssel zurück in die Pförtnerstube. Der Pförtner war längst zu Bett gegangen und hatte die Wachstube nur offen gelassen, weil sie ihn darum gebeten hatte.

Warum hat Gott nur solche Wesen wie Männer erschaffen, dachte sie, während sie schweigend neben Ernst zu ihrem Häuschen ging. Männer schienen nicht zu begreifen, dass man sich Sorgen um sie machte. Am Vortag war sie schon fast so weit gewesen, Fuggers Haus aufzusuchen und nach Ernst zu fragen, und an diesem Abend hatte sie vor Angst um ihn nicht schlafen können. Sie hatte weniger befürchtet, ihm sei etwas geschehen, sondern sich Sorgen gemacht, er verbringe die Nächte bei losen Weibern und Wein.

Erst jetzt bemerkte sie, wie abgehetzt und schuldbewusst er aussah. Er wusste anscheinend selbst, wie schlecht er sie behandelt hatte. Leise schnaubend hob sie den Kopf noch höher, um ihm ihre Abscheu deutlich zu zeigen.

Im Haus zündete sie eine Kerze an und blies das Unschlittlicht der Laterne aus. Sie ärgerte sich selbst, weil sie auf das Geräusch hin, das sie vernommen hatte, zum Tor gelaufen war. Das war Ernst nicht wert. Ihr Herz sank bei dem Gedanken, dass ihre Ehe genauso schlecht begonnen hatte, wie sie es sich in ihren unerfreulichsten Vorstellungen ausgemalt hatte. An und für sich sogar noch schlimmer! Nie hätte sie erwartet, dass ihr Mann sie gleich zu Beginn so demütigen würde, indem er sich zwei volle Tage in der Stadt herumtrieb und ihr nicht einmal eine Nachricht schickte.

Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche, ging ins Schlafzimmer und tastete bis zum Bett. Ich hätte die Kerze mitnehmen und Ernst im Dunklen lassen sollen, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie sich das Schienbein am Bettkasten stieß. Mit einer wütenden Bewegung zog sie ihr Kleid aus, knüllte es zusammen und warf es in eine Ecke. Danach legte sie sich so ins Bett, dass sie fast auf der Kante lag. Näher bei ihrem Mann wollte sie in dieser Nacht nicht schlafen.

Unterdessen spülte Ernst sich in der Küche den Mund aus und machte sich zum Bettgehen fertig. Hoffentlich gelingt es Doktor Luther zu entkommen, dachte er, als er den Kerzenhalter nahm und ins Schlafzimmer ging. Veva lag bereits im Bett und hatte das Gesicht zur Wand gekehrt. Im Grunde gehört auch sie zu den Frauen, die ständig zu den Pfaffen laufen, um für eingebildete Sünden Vergebung zu verlangen, dachte er. Die Kritik an der Kirche, die Martin Luther in Worte gefasst hatte, würde sie niemals verstehen.

Veva sah am Spiel der Schatten, wie er den Kerzenhalter abstellte und sich auszog. Das war also ihr Mann: ein Lump, der sich hier in der Ferne noch schlimmer aufführte als daheim in München. Zwar sagte sie sich, dass er es nicht wert war, wenn sie sich seinetwegen grämte. Und doch wünschte sie sich zu dieser Stunde jeden anderen Mann der Welt zum Gatten als ihn.

Die Ketzerbraut. Roman
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