9.

Der Kardinal schickte noch zur gleichen Stunde einen Boten zu den Toren mit dem Befehl, Luther nicht aus der Stadt zu lassen. Danach zog er sich zum Gebet zurück, um, wie er sagte, Gott anzuflehen, dass der Herr im Himmel das verhärtete Gemüt des sächsischen Mönchs erweiche und ihn die Wahrheit erkennen lasse.

Da Ernsts Dienste nicht mehr gebraucht wurden, hätte er gehen können. Er blieb jedoch in der Hoffnung, mehr über die Pläne des Kardinals und seiner Helfershelfer zu erfahren. Daher überwachte er die Diener, die Portikus, Gigging und die anderen versorgten. Zu seiner Erleichterung nahm sein alter Feind aus München seine Anwesenheit ohne bissige Kommentare hin. Dafür berichtete er von einer Ketzerverbrennung, bei der er Zeuge gewesen war, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, auch bei der Verbrennung Luthers anwesend sein zu dürfen.

Der Abend kam, ohne dass sich etwas tat. Als die Nacht jedoch ihren schwarzen Mantel über die Stadt breitete, nickte Gigging Portikus zu. »Wir warten noch bis Mitternacht. Dann gehen wir zum Kloster und holen uns den Kerl!«

Um Mitternacht also, dachte Ernst. Da hatte er nicht mehr viel Zeit. Noch während er überlegte, unter welchem Vorwand er das Haus verlassen konnte, trat Jakob Fugger herein und kniff bei seinem Anblick die Augen zusammen. »Wieso bist du noch hier, Rickinger? Du solltest längst zu Hause sein. Dein Weib wartet auf dich.«

»Verzeiht, Herr, aber ich dachte, meine Dienste würden noch gewünscht.«

»Deinen Eifer in allen Ehren, doch für das, was jetzt kommt, benötigen die Herrschaften dich nicht mehr.«

Ernst glaubte, aus Jakob Fuggers Stimme unterdrückten Zorn herauszuhören. Wie es aussah, gefiel es dem Kaufherrn ganz und gar nicht, dass Martin Luther gefangen genommen werden sollte, nachdem er mehrfach in seinem Haus gewesen war. Zwar hatte der Kaufherr sich vehement gegen die Thesen des Mönchs ausgesprochen, doch er wollte nicht mit einem Schurkenstück in Verbindung gebracht werden, das ihn in weiten Teilen des Reiches die Reputation kosten konnte.

»Geh schon!«, befahl Fugger, als Ernst nicht sofort gehorchte.

Der junge Mann verbeugte sich. »Wie Ihr es befehlt, Herr. Eine gute Nacht wünsche ich noch!« Als er den Raum verließ, fragte Ernst sich, ob Fugger ihm die Gelegenheit geben wollte, Luther zu warnen. Zwar waren die Tore geschlossen und den Torwächtern befohlen worden, den sächsischen Mönch nicht passieren zu lassen. Doch möglicherweise konnte sich der verstecken, um die Stadt am nächsten Tag in Verkleidung zu verlassen. Ernst hoffte auf die Hilfe Christoph Langenmantels und wollte sich schon zu dessen Haus aufmachen. Mit einem Mal glaubte er, ein Geräusch zu vernehmen, und blickte noch einmal über die Schulter zurück. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der ihm in einem gewissen Abstand folgte.

Nun erinnerte er sich, beim Weggehen bemerkt zu haben, dass Gigging einem seiner Männer einen kurzen Wink gab. Wie es aussah, sollte der Kerl prüfen, ob er tatsächlich nach Hause zurückkehrte. Mit dem Gefühl, sich auf eine Sache eingelassen zu haben, die ihm über den Kopf zu wachsen drohte, eilte er weiter und erreichte kurz darauf Fuggers Armensiedlung. Deren Tore waren bereits verschlossen, und er hätte den Pförtner am Haupteingang wecken müssen, um eingelassen zu werden. Der Mann würde sich jedoch sehr wundern, wenn er gleich darauf wieder ins Freie wollte, und sich am nächsten Tag, wenn die Nachricht von Luthers Flucht die Runde machte, daran erinnern. Das durfte Ernst nicht riskieren. Daher bog er zwar in den lichtlosen Gewölbegang des Haupteingangs ein, presste sich aber neben dem Tor gegen die Mauer und wagte kaum zu atmen.

Kurz darauf sah er draußen einen Schatten, der gemächlich auf den Durchgang zukam und hereinspähte. Hätte der Mann eine Laterne bei sich gehabt, wäre Ernst ihm nicht entgangen. So aber begnügte der Waffenknecht sich damit, kurz mit seinem Schwert im Toreingang herumzufuchteln.

Ernst fühlte den Luftzug der Klinge und betete lautlos, nicht getroffen zu werden. Zu seiner Erleichterung gab der Verfolger bald auf und ging leise vor sich hin pfeifend Richtung Fuggerhaus. In Gedanken zählte Ernst bis hundert, dann huschte er wieder ins Freie und eilte durch die nächtlichen Gassen, die er genauso gründlich erkundet hatte wie die in München, um sich ohne Laterne darin bewegen und heimlich die Freunde des Wittenbergers aufsuchen zu können.

Wenig später erreichte er Langenmantels Haus. Noch während er sich überlegte, wie er den Hausherrn auf sich aufmerksam machen sollte, ohne dass es die Nachbarn bemerkten, wurde die Tür geöffnet. Der Domherr blickte mit einer Laterne in der Hand heraus und zog Ernst in den Flur. »Ich dachte mir doch, dass ich eben Schritte gehört hätte, die vor meinem Haus endeten. Was gibt es zu berichten, Rickinger?«

»Luther sollte heute widerrufen, doch er hat es nicht getan. Jetzt wollen Gigging und dessen Kumpane ihn um Mitternacht aus dem Karmeliterkloster holen und gefangen nehmen.«

»So eine Sauerei! Aber denen werden wir eine lange Nase drehen. Kennt Ihr den Alten Einlass in der Nordmauer?«

Ernst nickte.

»Findet Ihr in der Nacht den Weg dorthin?«

»Ich glaube schon«, antwortete Ernst zögernd, denn der Teil Augsburgs war ihm noch nicht sehr vertraut.

»Sehr gut! Ich werde mir jetzt aus der Wachstube den Schlüssel zu dieser Pforte besorgen. Ihr holt inzwischen Doktor Luther und bringt ihn dorthin!«

»Soll er etwa zu Fuß fliehen?«, fragte Ernst entsetzt.

»Natürlich nicht! Ich habe bei einem Bauern zwei Pferde untergestellt. Da der Doktor einen Begleiter braucht, der die Gegend kennt und ihn so rasch wie möglich fortschaffen kann, habe ich Korbinian Echle gebeten, das zu übernehmen. Ich wecke ihn unterwegs. Nun macht rasch, sonst sind die Häscher schneller als wir! Hier, die werdet Ihr brauchen.« Langenmantel reichte Ernst die Laterne und gab ihm einen Schubs. Er selbst eilte in die Dunkelheit hinaus, um Echle zu holen. Den Weg zu dessen Haus hätte er mit verbundenen Augen finden können.

Ernst sah ihm nach, schüttelte sich dann, als fröstele er, und rannte los. Die Angst, zu spät zu kommen, beschleunigte seine Schritte, und so tauchte schon bald das Karmeliterkloster vor ihm auf. Anders als bei Langenmantel wagte er hier an das Tor zu klopfen, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis jemand kam und die kleine Klappe in Augenhöhe anhob. Eine Lampe wurde herausgestreckt, ohne dass Ernst erkennen konnte, wer dort stand.

»Ich muss dringend Doktor Luther sprechen«, rief er eindringlich.

»Ah, der junge Rickinger! Ihr seid aber spät dran!«, kam die Antwort. Gleichzeitig schwang die Tür auf.

»Wo ist er?«, fragte Ernst.

»Er schläft!«

»Weckt ihn auf. Es geht um Leben und Tod!«

Der Karmeliter mochte nicht der Hellste sein, doch diese Worte begriff er. »Bleibt hier«, wies er Ernst an und schlurfte davon.

Für Ernsts Gefühl vergingen Stunden, bis der Mönch mit Luther zurückkam. Dieser schien sich beeilt haben, denn er war nur teilweise bekleidet. Im Schein der Lampe sah Ernst sein bleiches Gesicht.

»Was ist geschehen?«, fragte der Sachse.

»Der Kardinal will Euch festnehmen lassen. Ihr müsst unverzüglich fliehen!«, stieß Ernst rasch hervor.

»Ich muss mich noch fertig anziehen«, wandte Luther ein.

»Dafür bleibt keine Zeit!«, sagte Ernst und zerrte ihn kurzerhand mit sich.

Die Ketzerbraut. Roman
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