16.

In der Residenz des Herzogs wurde auch an diesem Abend getanzt. Diesmal beteiligte sich Wilhelm IV. mit gezierten Schritten an dem Reigen und hielt nach einem jungen Hoffräulein Ausschau, dessen Schönheit ihn reizte, seit er es das erste Mal gesehen hatte. Gleichzeitig tändelte er mit seiner derzeitigen Favoritin und überlegte, welchen seiner Höflinge oder Räte er mit deren Hand beglücken konnte, um selbst auf einer frischen Wiese grasen zu können.

Bei einer Wendung sah er einen Mann in dem dunklen Talar eines Gelehrten eintreten und erkannte Doktor Portikus. Die Miene des Geistlichen wirkte verkrampft, und der Herzog sah ihm seine schlecht unterdrückte Wut an. Wilhelm IV. seufzte und erwog für einen Augenblick, Portikus zu ignorieren. Dann aber nahm er die Gelegenheit wahr, sich von seiner Tanzpartnerin zu verabschieden und sie der Obhut des Grafen von Haag zu überlassen.

Während er sich auf den Sessel setzte, der einzig für ihn bereitstand, befahl er einem Diener, ihm Wein zu bringen. Erst als er einen Schluck getrunken hatte, wandte er sich Portikus zu. »Mein Guter, Ihr seht aus, als wäre Euch eine gewaltige Laus über die Leber gelaufen.«

Der Geistliche nahm den spöttischen Unterton in Wilhelms Stimme wahr und musste an sich halten, um nicht mit ein paar tadelnden Worten zu antworten. Stattdessen gab er sich nur besorgt. »Euer Gnaden, es muss dringend etwas gegen die Pest der Ketzerei in dieser Stadt unternommen werden. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass etliche Bürger und auch einfaches Volk die Schriften dieses Teufels aus Wittenberg in ihren Häusern verstecken und mit ihnen das Gift der Häresie unter ihren Familien und in der Nachbarschaft verbreiten.«

»Ich besitze selbst einige von Luthers Schriften. Er schreibt zwar recht drastisch, spricht aber in vielen Dingen die Wahrheit. Ein großer Teil des Klerus ist schlichtweg verderbt. Wie soll ein Pfarrer, der Unmoral vorlebt, seine Gemeinde davor bewahren?«

»Das sind einige wenige Fälle, gegen die die Kirche mit aller Strenge vorgeht«, behauptete Portikus ungerührt.

»Warum ist dann dieser Pater Remigius noch immer einer der Beichtväter von Sankt Peter? Soviel ich weiß, hat er bereits mehr als ein Weib verführt. Zwei sollen sogar von ihm schwanger geworden sein!«

»Verzeiht, Euer Gnaden, doch Pater Remigius entstammt einem uralten Adelsgeschlecht. Man darf ihn nicht mit der gleichen Elle messen wie einen kleinen Landpfarrer!«, beeilte sich Portikus einzuwenden. Da Remigius von edler Geburt war und er sich Vorteile davon versprach, wenn er sich schützend vor den Mann stellte, war er nicht bereit, ihn den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.

»Der Mann hat sich für den geistlichen Stand entschieden und soll sich daher so benehmen, wie es sich für einen Diener Christi gehört!«

Wilhelm hatte bereits jenen Bierbrauern das Handwerk gelegt, die ihr Bier mit Zutaten wie Stechapfel, Bilsenkraut und ähnlich schlechtem Zeug versetzten, welche die Gemüter der Leute erhitzt und sie zu üblen Taten getrieben hatten. Nur Hopfen, dem eine beruhigende Wirkung zugesprochen wurde, durfte neben Wasser und Getreidemalz noch zum Bierbrauen verwendet werden. Genau so, mit einem Federstrich, hätte er am liebsten auch die Unmoral der Geistlichen, Mönche und Nonnen unterbunden. Doch zu seinem Leidwesen waren ihm in dieser Sache die Hände gebunden, denn über die Seelenhirten seines Volkes durften nur die Fürstbischöfe von Salzburg, Freising, Passau, Regensburg und Eichstätt richten. Da diese fünf Herren über ihre eigenen Territorien im Bayrischen Reichskreis herrschten, betrachteten sie sich mehr als seine Konkurrenten im Kampf um Macht und Einfluss denn als die geistlichen Oberhäupter seiner Untertanen. Von ihnen konnte er ebenso viel Unterstützung erwarten wie Wärme vom Mond in einer kalten Dezembernacht.

Verärgert, weil das Gespräch mit Portikus ihn von seinem Vergnügen fernhielt, wollte Wilhelm den Theologen wegschicken. Doch dieser bemerkte, dass der Herzog unruhig wurde, und kam auf den Punkt zu sprechen, der ihm am meisten am Herzen lag. »Euer Gnaden, ich fordere noch einmal, diesen Lumpen Ernst Rickinger hart zu bestrafen. Dieser Mensch verhöhnt die Repräsentanten der heiligen Kirche und betreibt Unzucht, wo er nur kann. Wenn Ihr ihn nicht vor Gericht stellen wollt, so verbannt ihn wenigstens aus Eurem Herzogtum.«

»Soso! Pater Remigius darf nicht bestraft werden, obwohl er Bürgerfrauen und -töchter verführt, doch über Ernst Rickinger soll ich ein Urteil sprechen, obwohl dieser, soviel ich gehört habe, sowohl die Frauen anderer Männer als auch ehrsame Bürgertöchter in Ruhe lässt und nur gelegentlich mit einer Magd tändelt.«

Zwar passte dem Herzog das Verhalten des jungen Mannes ebenfalls nicht, aber er wollte nicht den Sohn eines ehrbaren Bürgers bestrafen, während der in seinen Augen weitaus sündhaftere Pater ungeschoren davonkommen sollte. »Außerdem«, setzte er seine Rede fort, »will der Kaufherr Eustachius Rickinger seinen Sohn verheiraten. Besitzt Ernst Rickinger erst einmal ein Eheweib, so wird er sich gewiss eines besseren Lebenswandel befleißigen. Pater Remigius aber wird weiter huren, dass es eine Schande ist.«

In diesem Augenblick begriff Portikus, dass er Ernst nicht zu Fall bringen konnte, wenn er nicht gleichzeitig Remigius und einige andere Geistliche und Mönche opferte, die dem Herzog ein Dorn im Auge waren. Noch mehr als das erschreckte ihn die Vorstellung, Wilhelm könnte vom Gift des lutherischen Aufruhrs erfasst worden sein und würde Papst Leo X. demnächst die nötige Achtung versagen.

Dagegen musste er mit allen Mitteln ankämpfen. Obwohl er seinem Unmut am liebsten Luft gemacht hätte, senkte er das Haupt und auch die Stimme. »Wohl liegt auch bei den Dienern der heiligen Kirche einiges im Argen, Euer Gnaden. Es ist jedoch das alleinige Recht unserer Kirche, die schwarzen Schafe auszusondern. Kein Bürgerlümmel darf Mönche oder gar gesalbte Priester zu Spott und Schanden bringen. Natürlich beschönige ich Pater Remigius’ Taten nicht, doch Ernst Rickinger hat sich noch viel schändlicher verhalten, als er ihn nackt auf die Straße zerrte. Er hat die Hand gegen einen Diener der Kirche erhoben, der nur von einem kirchlichen Gericht hätte belangt werden dürfen.«

»Es war ein Streich, wie ihn die jungen Burschen jedem verheirateten Mann gespielt hätten, der zu seiner Nachbarin unter die Decke geschlüpft ist«, antwortete der Herzog mit einem vergnügten Auflachen.

»Ein Geistlicher ist nicht mit einem normalen Mann zu vergleichen, sondern steht weit über ihm«, fuhr Portikus auf.

»Soll ich das so auffassen, dass auch Ihr Euch weit über Uns stehend wähnt?« Wilhelms amüsierte Miene war wie weggeblasen, und seine Stimme klirrte.

Innerlich verfluchte Portikus den launenhaften Herzog, aber er wusste, dass er Wilhelm nicht weiter erzürnen durfte. »Euer Gnaden ist ein von Gott Gesalbter und steht daher weit über allen anderen Menschen mit Ausnahme des Kaisers und Seiner Heiligkeit des Papstes.«

»Also auch über den Bischöfen von Freising, Salzburg, Regensburg, Eichstätt und Passau?«, stach der Herzog nach.

»Diese Herren stehen in gleichem Rang wie Ihr«, presste Portikus mühsam heraus. Es war wirklich nicht leicht, mit einem Herrscher auszukommen, der für sich selbst jedes Recht der Welt forderte, von seinen Untertanen aber einen fast klösterlichen Lebenswandel verlangte.

Trotzdem versuchte er, in seinem Sinn auf den Herzog einzuwirken. »Erlaubt mir, noch einmal auf diese unflätigen Flugschriften zurückzukommen, Euer Gnaden. Sie schaden der Macht der heiligen Kirche und damit auch der Euren, denn Ihr seid Herrscher von Gottes Gnaden und mit dem Segen des Heiligen Stuhls.«

»Und was soll ich Eurer Ansicht nach tun, Doktor? Mich vielleicht selbst auf die Suche nach den Erzeugern dieser Schriften machen?«, fragte der Herzog ungeduldig, während sein Blick auf seiner neuesten Angebeteten ruhte.

»Erlaubt mir, nach diesen elenden Schurken und Häretikern zu forschen«, bat Portikus.

Wilhelm sah nun eine gute Gelegenheit, den unangenehmen Mahner loszuwerden. »Kümmert Euch darum, Doktor. Aber Ihr werdet niemanden verhaften oder verhören, ohne dass ich die Erlaubnis dazu gegeben habe.«

»Ich muss aber Leute befragen, wenn ich Erfolg haben will«, wandte Portikus ärgerlich ein.

»Befragen könnt Ihr sie meinetwegen. Aber es wird keiner ohne mein Wissen eingesperrt oder gar gefoltert. Und nun bitte ich Euch, mich zu entschuldigen.« Mit diesen Worten stand Herzog Wilhelm auf und gesellte sich wieder zu den Tanzenden.

Seine bisherige Mätresse versuchte sofort an seine Seite zu gelangen, wurde aber von zwei Herren, die sich bei ihrem Herrn beliebt machen wollten, daran gehindert. So trat Wilhelm ungehindert auf das junge Hoffräulein zu, dem sein neuestes Interesse galt. Während er mit ihr tanzte, verließ Ägidius Portikus den Saal und begab sich in das nahe gelegene Franziskanerkloster, um dort seine nächsten Schritte vorzubereiten.

Die Ketzerbraut. Roman
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