8.
Rosi war zunächst blindlings davongestürzt, ohne auf den Weg zu achten. Als sie in der aufziehenden Dämmerung den Schönen Turm vor sich sah, der die Kaufingerstraße begrenzte, blieb sie stehen und sah sich unsicher um. Nur noch wenige Menschen waren unterwegs, und das verriet ihr, wie spät es geworden war. Der Markt auf dem Schrannenplatz war längst zu Ende, die Kaufleute hatten ihre Auslagen geschlossen und die Handwerker ihr Werkzeug aus der Hand gelegt.
Es lag eine seltsame Stimmung über der Stadt. Die Hast und der Lärm des Tages waren geschwunden, ohne dass die Stille der Nacht bereits eingezogen wäre, die meist nur vom gelegentlichen Gebell eines Hundes oder den Rufen der Turmwächter unterbrochen wurde.
Nun wurde Rosi sich wieder ihrer selbst bewusst, und sie fühlte sich besudelt. Angeekelt eilte sie auf den nächsten Brunnen zu, steckte beide Arme bis über die Ellbogen ins Wasser und rieb sie heftig. Doch als sie die Hände wieder herauszog, glaubte sie immer noch die Spuren von Hilarius’ Samenflüssigkeit zu spüren, und wusch Hände und Arme erneut. Das Gefühl wich nicht.
Ob er das auch mit Knaben machte?, fragte Rosi sich. Wohl kaum, denn sonst hätten die Burschen sich längst Ernst Rickinger zum Vorbild genommen und den Pater zum Gespött der Stadt gemacht. »Wir Weiber müssen das alles ertragen«, schimpfte sie leise vor sich hin, während sie Wasser aus dem Brunnen schöpfte und ihr Kleid an den Stellen reinigte, an denen sie ebenfalls die Spuren von Pater Hilarius’ widernatürlichem Tun zu sehen glaubte.
Ein Holzeimer, der neben dem Brunnen stand, brachte sie auf eine Idee. Um diese Zeit war das Hoftor gewiss schon verschlossen, und sie würde den Hausknecht herausrufen müssen, damit er ihr aufmachte. Ein voller Eimer Wasser, den sie angeblich noch hatte holen müssen, schien ihr eine wirkungsvolle Ausrede zu sein, warum sie zu dieser Stunde noch draußen unterwegs war.
Während sie mit dem gefüllten Eimer zum Haus ihrer Meisterin zurückkehrte, fiel ihr ein, dass das Gefäß am nächsten Morgen gewiss vermisst werden würde. Sie beschloss, den Eimer gleich nach Sonnenaufgang zurückzubringen. Doch dies minderte nicht das Gefühl, dass sie Pater Hilarius’ wegen nun auch noch zur Diebin geworden war.