1.

Veva beugte sich über einen Stoß Papiere, den Leopold Hilarius ihr im Namen von Jakob Fugger aus Augsburg geschickt hatte. Wie es aussah, wollte Fugger sich an einer Schiffsflotte beteiligen, die in das sagenumwobene Indien fuhr, um dort Pfeffer und andere wertvolle Güter einzukaufen. In dem Brief stand zwar, die Fahrt wäre ein Risiko, doch sie würde sich bei Erfolg für jeden lohnen, der sich auch nur mit einem Dukaten daran beteiligte.

Da Veva durch Ernsts Berichte Fugger so weit zu kennen glaubte, dass dieser sich auf kein windiges Geschäft einlassen würde, zwickte es sie in den Fingern, zuzusagen. Andererseits war sie zwar die Erbin ihres Vaters, doch sie hatte das Handelshaus wie alle anderen weltlichen Güter in die Verwaltung ihres Mannes übergeben. Daher wäre es ihr lieb gewesen, sich mit Ernst beraten zu können.

»Sobald er nach Augsburg kommt, wird Fugger ihm diesen Vorschlag unterbreiten, und dann kann er entscheiden, ob er ihn annehmen oder ablehnen will«, sagte sie sich.

Ein weiterer Blick auf den Brief verriet ihr jedoch, dass Fugger auf rasche Antwort drängte. Was war, wenn Ernst länger als geplant in Innsbruck blieb und dadurch zu spät nach Augsburg kam? Unsicher las sie den Brief und den angebotenen Vertrag noch einmal durch. Zwar schreckten sie die Gefahren, die den Schiffen unterwegs drohen konnten, doch andererseits hatten bereits viele Schiffe Indien erreicht und waren reich beladen nach Lissabon zurückgekehrt.

»Ich mache es, selbst wenn Ernst mich hinterher mit der Rute strafen sollte.« Entschlossen nahm sie Papier und Feder zur Hand und begann zu schreiben. Eine knappe Stunde später rief sie den Schwab zu sich und reichte ihm den gesiegelten Brief.

»Gib ihn dem nächsten Boten mit, der nach Augsburg reist. Sage ihm, er bekommt einen Gulden extra von mir, wenn er rechtzeitig zu Herrn Fugger kommt!«

»Einen ganzen Gulden?« Dem Schwab blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

»Ja! Und jetzt geh. Oder willst du, dass der Brief durch deine Saumseligkeit zu spät ankommt?«

Eilfertig schnappte der Schwab sich das Schreiben und lief davon.

Veva sah ihm nach und fragte sich, ob sie klug gehandelt oder eine fürchterliche Dummheit begangen hatte. Das richtige Geld, dies war ihr mittlerweile klargeworden, wurde in Augsburg verdient und nicht in ihrer arg verschlafenen Heimatstadt München, die wie zu Kaiser Ludwigs Zeiten vom Salzhandel lebte und von den Aufwendungen des herzoglichen Hofes. Da Herzog Wilhelms Einnahmen, die er durch Steuern, Abgaben, Zölle und Geldstrafen erzielte, nicht einmal für seine Hofhaltung ausreichten, hielt er sich nicht nur an den reichen Bürgern Münchens, sondern auch an denen seiner anderen Städte schadlos, indem er von ihnen Darlehen verlangte und deren Zurückzahlung meist auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschob.

Seit Veva Augsburg erlebt hatte, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, auf Dauer in München zu leben. Dabei verleideten ihr nicht nur äußere Umstände die Stadt. Zu viel erinnerte sie hier Tag für Tag an ihren toten Bruder, und sie spürte die Wunde in ihrem Herzen umso stärker, je öfter sie Gegenstände und Plätze sah, die Bartl etwas bedeutet hatten.

Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie in die Küche, wo Cilli und Lina dabei waren, das Mittagessen aufzutischen. Sie beluden gerade ein großes Tablett und ließen sich von ihrer Herrin nicht stören. Als sie die Platte jedoch extra für Veva ins Speisezimmer tragen wollten, schüttelte diese den Kopf. »Ihr könnt einen Platz in der Küche für mich decken.«

Cilli drehte sich erstaunt zu ihr um. »Aber Herrin, das gehört sich nicht. Ihr seid doch …«

»Ein Mensch mit zwei Beinen, zwei Armen und einem Kopf, genauso wie du oder Lina und das restliche Gesinde. Außerdem mag ich nicht allein in der Kammer sitzen und mit niemand anderem reden können als mit mir selbst.«

»Das verstehe ich schon«, antwortete die Köchin zögernd und stellte das Tablett ab.

Unterdessen wischte Lina den besten Stuhl am Küchentisch mit einem Tuch ab und holte noch rasch ein Kissen für Veva. »So mag es gehen.«

Als sie an Cilli vorbeikam, raunte sie dieser zu: »Du musst die Herrin verstehen. Wenn Frauen in anderen Umständen sind, haben sie oft seltsame Anwandlungen.«

Der Hinweis auf Vevas Schwangerschaft brachte die Köchin dazu, dieser einen Napf Suppe hinzustellen, die sie noch rasch mit etwas Weißwein verfeinert hatte. »Lasst es Euch schmecken, Herrin!«

Veva fand es seltsam, dass eine Frau, die sie zeit ihres Lebens geduzt hatte, sich plötzlich die Zunge verbog, nur weil sie verheiratet und nach dem Tod des Vaters die Herrin des Besitzes geworden war. Dabei hatte sie auch vorher schon das Haus geführt und fühlte sich nicht anders als damals. Doch in Cillis Augen war sie erst jetzt die Hausherrin geworden und hatte damit das Recht erworben, ehrerbietig angesprochen zu werden.

Seufzend setzte sie sich und wartete, bis sich das restliche Gesinde um sie versammelt hatte. Dann sprach sie das Tischgebet. Ihre Hausgenossen griffen aber erst zu, als sie selbst zu essen begann. Rasch merkte sie, dass die Leute nur auf ihre Bemerkungen antworteten, wenn sie sie direkt ansprach, und ansonsten stumm dasaßen. Das war so ungemütlich, dass sie beschloss, die nächste Mahlzeit wieder im Speisezimmer einzunehmen, auch wenn sie dort nur Selbstgespräche führen konnte. In diesem Augenblick vermisste sie Ernst mehr, als sie es für möglich gehalten hatte, und wünschte sich, er würde bald zu ihr zurückkommen.

Die Ketzerbraut. Roman
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