3.

Noch immer starrte Veva entgeistert auf den am Boden liegenden Körper ihres Bruders. Bartl, der mit ihr zusammen den Leib der Mutter verlassen hatte, war ein Teil von ihr gewesen. Nun lebte er nicht mehr, und sie fühlte sich, als sei ein Stück aus ihr herausgerissen und abgeschlachtet worden. Halb wahnsinnig vor Kummer und Schmerz hatte sie kaum wahrgenommen, was mit ihren bewaffneten Begleitern und den Knechten geschah. Erst als der Räuberhauptmann in die Sänfte hineingriff und sie am Kinn fasste, klärte sich ihr Blick, und sie wurde sich ihrer eigenen Situation bewusst.

»Na, was haben wir denn da? Du wirst mir so manche Stunde in unserem Versteck versüßen – und meinen Männern ebenfalls!«

Brüllendes Gelächter antwortete dem Mann mit der hölzernen Maske, den Veva in ihrer Panik zunächst für einen Dämon aus den Schlünden der Hölle hielt. Erst als der Kerl sie aus der Sänfte zerrte, wurde ihr klar, dass er keinen Bocksfuß hatte. Aus dieser Erkenntnis schöpfte sie ein wenig Kraft. Zwar schienen die Räuber sie bereits mit ihren Blicken bis auf die Haut auszuziehen, doch ihre Wut und ihr Hass schwemmten die Angst hinweg.

Mit einem Ruck löste sie sich aus dem Griff des Hauptmanns und spie vor ihm aus. »Für den Mord an meinen Bruder wirst du bezahlen, du Hund!«

»Ich würde eher sagen, ich wurde dafür bezahlt!«, spottete der Mann, während er nach ihr griff. Mit dem Dolch, an dem noch das Blut des ermordeten Waffenknechts klebte, schnitt er ihr das Kleid und das Hemd vom Halsansatz abwärts auf, bis ihre Brüste freilagen.

Veva holte tief Luft und empfahl ihre Seele ebenso wie die ihres Zwillingsbruders der Muttergottes, denn sie erwartete, dass die Räuber noch an Ort und Stelle über sie herfallen würden. Seltsamerweise empfand sie weder Furcht noch Schrecken. Es war, als gehöre ihr Körper einer anderen Frau, während sie selbst bereits mit Bartl gestorben war.

Einer der Räuber keuchte gierig auf und fragte: »Was ist, Herr? Legen wir sie gleich hier aufs Kreuz?«

Sein Anführer ließ Veva los und schüttelte den Kopf. »Du kümmerst dich mit drei Männern darum, dass die Sänfte in einer Schlucht verschwindet. Wir anderen kehren in unser Versteck zurück. Die Pferde und die Maultiere nehmen wir mit und verkaufen sie später in Tirol.«

»Was ist mit den Karren?«

»Das Zeug darauf ladet ihr auf die Gäule, und die Wagen schmeißt ebenfalls in die Schlucht.«

»Und was nicht noch alles?«, bellte der Räuber seinen Hauptmann an. »Wir sollen die ganze Arbeit machen, während ihr anderen euch mit diesem Weibsstück vergnügt? Aber da mache ich nicht mit.«

»Was machst du nicht?« Die Hand des Hauptmanns fiel schwer auf den Griff seines Schwertes. »Entweder du gehorchst, oder …« Er ließ die Drohung unausgesprochen, doch alle begriffen, dass es ihm ernst war.

Der Streithahn zog den Kopf ein und hob beschwichtigend die Hände. »Jetzt legt nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage, Herr. Aber bei so einem Anblick sticht jeden Mann der Hafer.«

Der Hauptmann drehte sich um und betrachtete Veva genauer. So unrecht hatte der Mann nicht. Vor ihm stand eine hübsche junge Frau, nicht zu groß, aber auch nicht zu klein, mit schlanker Taille und wohlgeformten Hüften. Der nicht allzu große, aber feste Busen zeigte noch die blassen Spitzen einer Jungfrau. Zudem hatte sie eine hohe, glatte Stirn, eine schmale Nase und einen sanft geschwungenen Mund, der zum Küssen einlud. Brünettes, zu einem dicken Zopf geflochtenes und im Nacken zu einer Schnecke gedrehtes Haar rundete ihre Erscheinung ab. Das Gesicht aber war so bleich wie ein Leintuch, und die haselnussbraunen Augen starrten blicklos in die Ferne, als hätte sie mit ihrem Leben abgeschlossen.

Das Lachen des Hauptmanns drang hohl unter der hölzernen Maske hervor. »Das Weib lässt einem wirklich den Schaft schwellen. Doch ihr werdet die Pfoten von ihr lassen – vorerst zumindest. Sie ist viel Geld wert – und auf die schöne Summe, die wir für sie bekommen, wollen wir doch nicht verzichten!«

Bei dem Wort »Geld« leuchteten die Augen der meisten seiner Leute auf. Einige aber maßen Veva immer noch mit gierigen Blicken, und nicht jeder schien mit den Worten des Hauptmanns einverstanden zu sein.

»Bis jetzt wurde noch jedes Weibsstück, das wir gefangen haben, auf den Rücken gelegt. Anders wird es auch hier nicht laufen«, murrte der Räuber, der dem Anführer schon einmal widersprochen hatte.

Er suchte ein paar Kameraden aus, von denen er annahm, dass sie seinen Einflüsterungen zugänglich waren, und lud mit ihnen zusammen die beiden Karren ab. Dann warfen sie die Toten auf die Wagen und schoben sie ein Stück zurück, bis sie eine Stelle erreicht hatten, die sich für ihre Zwecke eignete. Dort ließen sie die Karren samt Ladung über die Kante einer Schlucht rollen und sahen zu, wie sie in der Tiefe verschwanden.

Am Ort des Überfalls beluden die anderen Räuber die Pferde und die Maultiere mit Vevas Brautausstattung. Die Hälfte der Pferde blieb ohne Last, und so stritten sie sich darum, wer aufsteigen durfte und wer zu Fuß gehen musste.

Veva, die scheinbar unbeachtet am Wegrand stand, überlegte derweil fieberhaft, in welche Richtung sie fliehen sollte. Doch als sie versuchte, sich unauffällig bergan zu bewegen, um sich in dem Felsgewirr am Fuß eines höheren Berges zu verstecken, trat ihr einer der Räuber in den Weg und machte eine Bewegung, als wolle er nach ihrem nackten Busen greifen.

Sie ließ die Schultern sinken und sagte sich, dass sie mit ihren dünnen Schuhen und von ihren Röcken behindert ohnehin nicht weit kommen würde. Für einen Augenblick glomm in ihr der Gedanke auf, wenigstens so weit zu rennen, bis sie die Schlucht erreichte. Dort würde sie einen schnellen Tod finden. Aber dann vernahm sie die Stimmen und das Gelächter der restlichen Räuber, das von jener Stelle heraufklang, und ihr wurde klar, dass die Kerle sie abfangen und ihr auf der Stelle Gewalt antun würden.

Daher ließ sie es ohne Gegenwehr geschehen, dass der Räuberhauptmann, der als Erster in den Sattel gestiegen war, sie um die Taille fasste und vor sich auf die Kruppe des Wallachs setzte. Er umschlang sie mit einem Arm und packte mit der freien Hand den Zügel.

»Auf geht’s, Männer! In der Höhle wartet ein guter Schluck Wein auf uns, mit dem wir unseren Erfolg begießen können«, rief er seinen Kumpanen zu und ritt an.

Veva bog sich unter seinem harten Griff und würgte, weil ihr Magen bei dem Geruch rebellierte, den der Mann ausströmte. Es war der Gestank des Todes. Gleichzeitig packte sie ein heiliger Zorn auf den Kerl, der Menschen mit der gleichen Selbstverständlichkeit tötete, wie die Köchin zu Hause ein Huhn schlachtete, und sich offensichtlich dabei amüsierte.

Mit einem Mal wurde sie ganz ruhig und ließ den Arm vorsichtig nach hinten wandern, um an den Dolch des Mordbuben zu gelangen. Doch kaum hatten ihre Finger den Horngriff der Waffe erreicht, presste sich die hölzerne Maske des Mannes gegen ihre Wange, und sie hörte den Räuber dicht neben ihrem Ohr lachen. »Lass es lieber sein, denn sonst müsste ich dich hart bestrafen! Du solltest auch gar nicht daran denken, einen meiner Leute mit dem Ding piksen zu wollen. Die mögen das nämlich gar nicht, und dann könnte ich dich nicht mehr vor ihnen schützen. Es sind rauhe Kerle, für die ein Weib nur einen Zweck hat, nämlich die Beine breit zu machen. Das willst du doch sicher nicht.«

Der Mann klang spöttisch, aber auch auf seltsame Art fürsorglich. Letzteres jedoch hatte nichts mit Mitleid zu tun – das begriff Veva sofort –, sondern war reine Berechnung. Der Kerl hatte ihren Reisezug nicht zufällig in die Irre führen lassen und ihm aufgelauert. Hatte er nicht gesagt, dass jemand Geld für sie bezahlen würde? Wer mochte das sein?

Sosehr Veva ihr Gehirn auch zermarterte, sie vermochte sich niemanden vorzustellen, dem am Tod ihres Bruders gelegen war und daran, sie in die Hände zu bekommen. Wahrscheinlich wollte der Räuberhauptmann von ihrem Vater oder ihrem Bräutigam Lösegeld für sie erpressen. Aber wenn es so war, hatten die Kerle einen großen Fehler gemacht, denn für Bartl hätte ihr Vater seine Truhen viel weiter geöffnet.

Die Ketzerbraut. Roman
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