14.

Irgendwann musste Veva doch eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, war es bereits heller Tag. An weitere Alpträume erinnerte sie sich nicht, aber ihr tat das Herz weh, und die Augen brannten. Am liebsten wäre sie bis zum Jüngsten Tag im Bett liegen geblieben. Doch unten hörte sie bereits die Mägde in der Küche rumoren, und ihr Körper forderte mit Nachdruck sein Recht.

Sie sprang aus dem Bett und zog gerade noch rechtzeitig den Nachttopf unter dem Bett hervor. Während sie sich erleichterte, dachte sie daran, dass sie den Topf schon längere Zeit nicht mehr benutzt hatte, sondern selbst in der Nacht zum Abtritt neben dem Stall gegangen war. Nun schämte sie sich und schob das Gefäß, als sie fertig war, mit einer Geste des Abscheus unter das Bett zurück.

Gerade als sie die Kammer verlassen wollte, wurde die Tür geöffnet, und Cilli trug eine Schüssel mit Wasser herein. »Du wirst dich sicher in Ruhe waschen wollen«, sagte sie lächelnd. »Gleich gibt es Frühstück. Soll ich es dir hochbringen lassen?«

Veva schüttelte den Kopf. »Nein, ich komme in die Küche. Vergelt’s Gott für das Wasser.«

»Es ist noch warm«, erklärte die Köchin, bevor sie das Zimmer verließ.

Verwundert steckte Veva einen Finger ins Wasser. Das Wasser in der Schüssel war tatsächlich lauwarm. Das gab es normalerweise nur an Sonn- und Feiertagen. Unter der Woche wuschen sich alle im Haus das Gesicht und die Hände mit kaltem Wasser. Nun aber fühlte Veva das Bedürfnis, sich ganz zu waschen, und zog ihr Nachthemd über den Kopf. Als sie den Lappen in das warme Wasser tauchte und mit der Reinigung begann, schämte sie sich schon wieder. Ihr Bruder war tot, und sie frönte der Todsünde der Eitelkeit. Das würde sie beichten und zur Strafe etliche Ave-Maria beten müssen.

Doch das warme Wasser tat ihr gut. Sie begann mit dem Gesicht und den Armen, machte mit dem Oberkörper weiter und endete nach den Beinen schließlich dort, wo eine Frau sich stark von einem Mann unterscheidet. Einen Augenblick zögerte sie, denn den Worten besonders eifriger Priester zufolge galt es bereits als sündhaft, sich an dieser Stelle zu berühren. Doch nach kurzem Überlegen säuberte sie sich auch dort.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie sich sorgfältig an, schlüpfte in ihre Schuhe und stieg nach unten. Die Mägde und die beiden Hausknechte, die sich in der Küche zum gemeinsamen Frühstück zusammengefunden hatten und lebhaft miteinander sprachen, verstummten, als Veva eintrat.

Cilli fasste sich als Erste. »Warte, ich gebe dir gleich deinen Morgenbrei. Sepp soll dir derweil einen Becher mit Bier füllen. Diesmal ist es dem Wirt besonders gut gelungen!«

Der Knecht nickte eifrig und schlurfte zum Fass, das in der Ecke aufgebockt stand, um den Morgentrunk für die Haustochter zu zapfen.

»Diesmal schmeckt es wirklich gut«, sagte er, als er Veva den vollen Becher reichte. »Seit unser gnädigster Herr Herzog befohlen hat, dass das schlechte Zeug beim Bierbrauen nicht mehr verwendet werden darf, kann man das Gebräu der meisten Wirte unbedenklich trinken.«

»Mir schmeckt das Augsburger Bier trotzdem besser als das hiesige«, mischte sich der andere Hausknecht ein.

Eine der Mägde lachte hell auf. »Wie willst du den Unterschied kennen? Du bist doch nur ein Mal in deinem Leben in Augsburg gewesen, und das ist auch schon ein paar Jahre her.«

»Trotzdem ist das Augsburger Bier besser als die Brühe, die die Münchner Wirte zusammenkochen, herzogliches Gebot hin oder her«, beharrte der Knecht, den man wegen seines ständigen Geredes über die Vorzüge der Freien Reichsstadt den Schwab nannte. Er trank einen Schluck und schüttelte sich. »Da sauf ich doch lieber Wasser!«

»Darauf würde ich es nicht ankommen lassen. In der Isarvorstadt sind wieder einige Leute krank geworden, weil das Wasser so schlecht ist. Der Herr hat nicht umsonst befohlen, dass wir nur noch Bier trinken sollen. Oder willst du auf deinem Strohsack liegen und vorne und hinten nichts mehr bei dir behalten können?« Die Köchin sah den Mann zornig an. Ein kranker Knecht erledigte keine Arbeit, sondern machte den Mägden welche, die ihn pflegen mussten.

»Du trinkst unser Bier, verstanden! Oder glaubst du, der Herr lässt deinetwegen ein Fass aus Augsburg kommen?« Nun klang Cilli so resolut, dass der Mann keine Gegenrede mehr wagte, sondern schweigend seinen Morgenbrei löffelte.

Auch Veva begann zu essen. Eigentlich war es wie immer, dachte sie. Sie hörte sich die gleichen kleinen Streitgespräche an wie vor ihrer Abreise, das Essen schmeckte wie sonst auch, und das Bier löschte wie eh und je den Durst. Dennoch hatte sie das Gefühl, als sähe sie alles um sich herum durch die Augen einer Fremden. Dabei war sie in diesem Haus geboren worden und hatte alle Jahre ihres Lebens hier verbracht.

Doch nicht nur ihr schien es so zu gehen. Bald bemerkte sie, dass die Mägde und Knechte sie immer wieder verstohlen anstarrten, aber sofort den Kopf wegdrehten, wenn ihr Blick auf sie fiel.

Unterdessen hatte Cilli ihr Frühstück beendet und stellte ihre Schüssel auf das Bord, auf dem das schmutzige Geschirr gestapelt wurde. »Der Herr wird bereits wach sein. Ich werde ihm den Morgenbrei und das Bier bringen!«

Auch das war anders. Früher war es Vevas Pflicht gewesen, ihrem Vater das Frühstück zu bringen. Offensichtlich hatte Cilli nach ihrer Abreise diese Aufgabe übernommen. Veva stand wortlos auf, nahm das Tablett mit dem bis zum Rand gefüllten Napf und dem Bierkrug aus Zinn und forderte die Kleinmagd auf, ihr die Küchentür zu öffnen. Sie tat so, als sehe sie nicht, dass Cilli ihr das Tablett wieder abnehmen wollte.

Die Köchin blickte ihr nach und schüttelte den Kopf. »Fast könnte man an der himmlischen Gerechtigkeit zweifeln. Aber der Herrgott wird schon wissen, warum der Bartl ermordet worden ist. Seien wir froh, dass die Veva noch lebt.«

»Dem Herrn wäre es andersherum gewiss lieber gewesen«, warf Sepp ein, während der Schwab sich noch einen Becher Bier zapfte und diesen ausnahmsweise leerte, ohne zu meckern.

Als er den Becher auf die Tischplatte stellte, sah er die anderen mit einem schiefen Grinsen an. »Schon unser Herr Jesus Christus hat gesagt: Selig sind die Armen, denn die Reichen haben zwar Geld, aber auch Sorgen.«

»Er hat gesagt: Selig sind die Armen im Geiste«, gab Cilli giftig zurück und stemmte dann ihre Hände in die Hüften. »Was ist? Auf geht’s! Die Arbeit macht sich nicht von selber!«

Die Ketzerbraut. Roman
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