12.
Veva war vor fast zwei Wochen von München aufgebrochen, um in Innsbruck einen jungen Mann zu heiraten. Beim Abschied von ihrem Elternhaus hatte sie zwar ein paar Tränen vergossen, war aber eher angespannt als traurig gewesen. Als sie nun die Mauern der Stadt vor sich sah und auf die Türme von Sankt Peter und Unserer Lieben Frau schaute, verspürte sie keine Freude oder Erleichterung, sondern nur Kummer und Leid. Statt unter solch schrecklichen Umständen hierher zurückzukehren, wäre sie lieber in jene fremde Stadt eingezogen, in der ihr Bräutigam lebte. Dort hätte sie den Bruder an ihrer Seite gewusst, von dem sie an ihren Zukünftigen übergeben worden wäre. Doch Bartl war tot, und sie selbst fühlte sich wie ein mürbes Stück Holz, das jeden Augenblick zerbrechen konnte.
Benedikt Haselegner durchbrach Vevas düsteres Brüten. »Gleich sind wir bei deinem Vater, meine Liebe!«
Sie zuckte zusammen und nickte, um nicht antworten zu müssen. Zwar hatte ihr Begleiter sich aufmerksam um sie gekümmert und dafür gesorgt, dass sie unterwegs das beste Essen und das beste Bett in den Gasthäusern erhielt. Doch anstatt sie in Ruhe um den Bruder trauern zu lassen, hatte er ihr bei jeder Gelegenheit ein Gespräch aufgedrängt und ihr immer wieder vor Augen geführt, wie glücklich sie sich schätzen durfte, die Gefangenschaft bei den Räubern überlebt zu haben.
Haselegners Worten zufolge waren diese Kerle die schlimmsten Schurken, welche die Christenheit jemals gesehen hatte. Wie viele Männer sie ermordet und Frauen geschändet hatten, wisse nur Christus im Himmel, hatte er ihr erklärt und keinen Hehl aus seiner Überzeugung gemacht, dass sie diesen stinkenden Kerlen ebenfalls zur Stillung ihrer Lust gedient hatte. Da er unterwegs den Zügel ihres Maultiers an seinen Sattel gebunden hatte und abends in den Herbergen ebenfalls erst von ihrer Seite gewichen war, wenn sie endlich ihre Zimmertür hinter sich hatte schließen können, war es ihr nicht möglich gewesen, seinen Vorträgen auszuweichen.
Haselegner glaubte ihr einfach nicht, dass die Räuber sie nicht angerührt hatten, und irgendwann hatte sie es aufgegeben, es ihm zu erklären. Mittlerweile verabscheute sie ihn regelrecht und wünschte, ein anderer hätte sie gerettet und sich ihre Achtung und Dankbarkeit verdient.
Haselegner ritt auf das Isartor zu und hielt die Tiere dicht vor den Stadtknechten an. »Grüß euch Gott! Lasst mich und Jungfer Genoveva ungesäumt passieren, denn wir bringen schlimme Nachricht! Der brave Bartl Leibert lebt nicht mehr. Wüste Räuber haben ihn im Gebirge erschlagen, seine Schwester in ihr Versteck verschleppt und ihr dort so einiges angetan.«
»Der Teufel soll die Kerle holen! Das waren sicher wieder diese Tiroler Schurken, die aus ihren Bergtälern herauskommen, um ehrliche Leute zu ermorden und deren Frauen zu schänden. Wüsste man, wo sie sich versteckt hielten, könnte man sie verfolgen und ausräuchern.« Der Hauptmann der Torwächter ballte die Rechte zur Faust und drohte damit nach Süden.
»Ich habe mit dem Amtmann von Kiefersfelden gesprochen. Er sagt, diese Schurken hätten Verstecke in allen Landen, die es im Gebirge gibt, und sie zu fangen wäre eine Aufgabe, für die man einen neuen Herkules bräuchte«, antwortete Haselegner mit einem leisen Auflachen.
»Ich sage ja: Tiroler und Werdenfelser! Die tun unserer Stadt München und unserem guten Herzog Wilhelm alles zum Trutz«, antwortete der Torhüter aufgebracht und gab seinen Männern Befehl, Veva, Haselegner und die fünf Knechte durchzulassen, die der Kaufmann zu ihrem Schutz angeheuert hatte.
»Zum Verzollen habt ihr ja sicher nichts dabei«, setzte er noch hinzu.
Einer seiner Untergebenen lachte. »Nicht einmal die Jungfernschaft von der Veva, denn die ist nach dem Aufenthalt bei diesen Räubern ein für alle Mal dahin!«
»Gott sei’s geklagt«, antwortete Haselegner mit einem Seufzer und musterte Veva mit seltsamem Blick.
Die junge Frau sank noch mehr in sich zusammen und hoffte, so rasch wie möglich in ihrem Elternhaus Zuflucht zu finden. Doch der Ritt durch das Tal wurde zum Spießrutenlaufen. Die Menschen eilten aus ihren Häusern oder rissen die Fenster auf, um sie anzustarren. Da sie sich nicht gerade leise unterhielten, bekam sie rasch mit, dass die Kunde von dem Überfall und dem Tod ihres Bruders ihr vorausgeeilt war.
Sie nahm die teils mitleidigen, teils aber auch sensationslüsternen Blicke der Menschen wahr und flehte die Heilige Jungfrau an, es rasch vorübergehen zu lassen. Zu ihrem Ärger hielt Haselegner immer wieder an, um mit Passanten zu reden. Er schimpfte über die Schlechtigkeit der Oberländer Räuber und ließ sich in aller Deutlichkeit über die vermeintlichen Schändungen aus. Veva hatte zunehmend den Eindruck, es bereite ihm direkt Freude, ihre angebliche Schande vor der ganzen Stadt auszubreiten. Daher atmete sie erleichtert auf, als ihr väterliches Anwesen in Sicht kam und ein Knecht rasch das Tor öffnete. Der Mann, den sie seit ihrer Kindheit kannte, blickte sie erschrocken und voller Mitleid an. Ihren Vater entdeckte sie nirgends und spürte einen Stich tief in der Brust, weil sie es ihm nicht einmal wert war, ihr die paar Schritte in den Hof entgegenzugehen.
Noch während sie gegen die Tränen ankämpfte, trat der Knecht auf sie zu und streckte ihr die Hände entgegen, um sie vom Maultier zu heben. Veva nickte dankend und fand sich gleich darauf auf festem Boden wieder. Als sie ihren Rock zurechtzog, wurde ihr bewusst, dass sie immer noch das Kleid trug, das ihr der Räuberhauptmann aufgenötigt hatte.
Am Hauseingang hatte sich das gesamte Gesinde eingefunden, um sie zu begrüßen. Sie spürte Hände, die sie sanft berührten, und sah die Köchin und mehrere Mägde weinen. Die Frauen geleiteten sie bis zu der Tür des Raumes, in dem ihr Vater sein Kontor eingerichtet hatte.
Bartholomäus Leibert saß mit starrem Gesicht auf seinem gepolsterten Stuhl und hielt eine Schreibfeder in der rechten Hand. Als Veva in seine Augen blickte, erkannte sie die unendliche Verzweiflung, die in ihm wühlte.
Bevor sie ein Wort wechseln konnten, trat Haselegner ein und blieb neben ihr stehen. »Ich bringe Euch Eure Tochter zurück, Leibert. Sie hat Furchtbares durchgemacht. Leider war ich nicht in der Lage, auch Euren Sohn zu retten. Bartl wurde von den dreisten Schurken schon bei dem Überfall umgebracht!«
Vevas Vater hob den Kopf, ohne Haselegner oder seine Tochter direkt anzublicken. »Ich habe es bereits gehört. Möge die Seele meines Sohnes den Weg ins Paradies finden, auf dass er vor den himmlischen Richter treten und seine Mörder nennen kann. Dann werden die Schuldigen am jüngsten aller Tage von der gerechten Strafe ereilt werden.«
Leiberts Stimme klang brüchig. Noch immer mied er Vevas Blick und starrte auf das Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Ich schreibe an Ferdinand Antscheller und frage ihn, ob er trotz allem noch bereit ist, seinen Sohn mit meiner Tochter zu verheiraten. Ist dies der Fall, wird Friedrich Antscheller mein Handelshaus übernehmen und es weiterführen.«
»Und wer führt dann Antschellers Geschäfte? Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Alte den Sohn nach München gehen lässt«, wandte Haselegner offensichtlich verärgert ein.
»Wenn er nicht will, werde ich mir einen anderen Eidam suchen. Euch danke ich, dass Ihr meine Tochter zurückgebracht habt. Sollte Euch dadurch ein Handel nicht so gelingen, wie Ihr es beabsichtigt habt, werde ich Euch entschädigen! Doch nun bitte ich euch alle, mich allein zu lassen. Das gilt auch für dich, Veva. Suche deine Kammer auf und leg dich hin. Du wirst müde sein von der Reise und von all dem, was dabei geschehen ist.«
Veva schossen die Tränen in die Augen vor Enttäuschung. Sie hatte auf ein freundliches Wort gehofft und sich vorgestellt, gemeinsam mit ihrem Vater um den toten Bruder zu trauern und die Gebete zu sprechen, die Bartls Seele zugutekamen. Doch ihr Vater scheuchte sie weg wie einen lästigen Dienstboten. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und lief so schnell zu ihrer Kammer hoch, wie ihre Beine sie tragen konnten.
Auch Benedikt Haselegner wirkte alles andere als zufrieden. Er sah hinter Veva her, bis die Treppe sie seinen Augen entzog, und wandte sich dann noch einmal an ihren Vater. »Was ich getan habe, tat ich für Eure Tochter, Leibert. Es ist unnötig, mich dafür entschädigen zu wollen, als wäre ich ein Fremder. Ihr wisst, dass ich bereit gewesen wäre, Genoveva zu meinem Weib zu machen. Mein Wort gilt immer noch. Damit Gott befohlen!«
Er klang verärgert. Schnaubend verließ Haselegner das Kontor, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Erbost stand Leibert auf und warf die Tür zu. Dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück und versuchte, den angefangenen Brief fortzusetzen. Aber die Feder entglitt den steifen, zitternden Fingern und spritzte Tinte über das Blatt. Leibert bemerkte es kaum, denn sein Puls schlug so hart, dass er ihm in den Ohren dröhnte, und der Schmerz um Bartl legte sich wie ein glühender Reif um sein Herz.