4.

In München lief alles seinen gewohnten Gang. Die Menschen arbeiteten, gingen in die Kirche und sündigten zur Freude der Geistlichkeit, die ihnen dafür mit einer Hand alle Strafen der Hölle androhte und mit der anderen Ablassbriefe verkaufte. Selbst diejenigen, die als Knecht oder Magd in Diensten standen, kratzten ihre letzten Kreuzer zusammen, um mit dem begehrten Zettel ein Anrecht auf die ewige Seligkeit zu erwerben.

Schlimm war es für diejenigen, die kein Geld erübrigen konnten, denn sie sahen unweigerlich das Reich des Satans vor sich. In jenen Häusern, in denen die Besitzer, anstatt zu den Mahlzeiten ein Dankgebet zu sprechen, alle Höllenstrafen an die Wand malten, war der Druck besonders groß. Das bekam auch Rosi zu spüren, obwohl der Meister ein eher gemütlicher Mann war und ihr und den anderen Mägden gelegentlich einmal zum Scherz auf den Hintern klopfte. Mehr durfte er jedoch nicht wagen, denn Frau Anna herrschte wie ein Racheengel über das Haus. Die Meisterin entdeckte jede Verfehlung und bestrafte sie unnachsichtig. Dazu war sie übermäßig geizig und drängte ihren Mann, beim Backen seiner Brote und Semmeln nicht zu viel Mehl zu nehmen. Daher erreichten die Laibe häufig nicht das Maß, welches die Stadt vorgeschrieben hatte, und waren unverkäuflich. Diese verwendete die Meisterin für den eigenen Haushalt.

Vor allem aber sparte Frau Anna beim Gesinde. Es gab kaum einen Monat, in dem ein Knecht oder eine Magd im Haus den vollen Lohn erhielt. Stets behielt sie einen Teil des Geldes zur Strafe für angebliche oder echte Verfehlungen ein und drängte alle Mitglieder ihres Haushalts einschließlich des Gesellen und der beiden Lehrlinge ihres Mannes, genug in den Klingelbeutel zu legen, der bei jeder Messe durch die Kirche getragen wurde.

Für Rosi waren diese Forderungen doppelt schlimm, denn sie vermochte kaum Geld zu sparen, um der Meisterin irgendwann einmal den Dienst aufsagen zu können. Da die meisten Kaplane von Sankt Peter auch für die Beichtzettel Geld verlangten, hatte sie es sich trotz ihrer Abneigung gegen Pater Hilarius angewöhnt, bei diesem zu beichten, denn er gab ihr bereitwillig das begehrte Papier. Um ihrer Sünden ledig gesprochen zu werden, musste sie sich jedoch regelmäßig mit ihm in der Allerheiligenkirche treffen. Auch an diesem Tag schlüpfte sie nach dem Feierabend aus dem Haus, um bei Pater Hilarius eine ganz spezielle Art der Beichte abzulegen.

Dieses Mal hatte er sie in einen kleinen Anbau des Klosters der Klarissinnen befohlen, der so versteckt lag, dass niemand sie beobachten konnte. Das alte Gemäuer hatte nur ein paar Luftlöcher hoch unter dem Dach. Die Tür war fest und wurde mit einem eisernen Riegel gesichert, den der Pater, nachdem Rosi in den Raum geschlüpft war, sogleich vorlegte. Da eine Laterne brannte, konnte Rosi sehen, dass er eine Decke auf dem Boden ausgebreitet hatte. Er wirkte angespannt und kaute auf seinen Lippen herum.

Inzwischen war Hilarius zu einer Entscheidung gelangt. »Zieh dich aus! Ich will dich nackt sehen.«

»Aber das geht doch nicht!«

»Es muss gehen!« Der Mönch packte sie und versuchte ihr mit vor Erregung zitternden Fingern das Mieder zu öffnen. Aus Angst, er könnte ihre Kleidung zerreißen, schob Rosi ihn weg und begann, sich zu entkleiden. Das hatte sie noch nie vor einem Mann getan. Zwar hatte Ernst Rickinger sie auf dem Heuboden ausgezogen, aber da war es zu dunkel gewesen, als dass er viel hätte sehen können. Die anderen, für die sie bisher die Beine breit gemacht hatte, waren damit zufrieden gewesen, wenn sie ihre Röcke weit genug hochgeschlagen hatte. Doch sich selbst bei Licht splitternackt ausziehen zu müssen erfüllte sie mit Scham. Außerdem war es eine schwere Sünde, von der vielleicht sogar Hilarius sie nicht mehr freisprechen konnte.

Dieser sah ihr erwartungsvoll zu und spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss. Schon seit Tagen träumte er nachts davon, mehr mit ihr zu tun, auch wenn das, was er sich wünschte, eine weitaus schlimmere Verfehlung war als jene, die er bereits begangen hatte. Als ihr letztes Hemd zu Boden rutschte, ließ er seinen Blick so über ihren Leib wandern, als müsse er sich jede Handbreit davon einprägen.

Rosi hatte eine leicht untersetzte Figur, einen gut geformten Busen mit blassen Spitzen und breite Hüften. Obwohl sie vor Scham und Angst zu vergehen schien, fand er sie schöner als die Statuen der nackten Göttinnen, die er auf seiner Pilgerfahrt nach Rom zu Gesicht bekommen hatte.

»Leg dich hin! Diesmal möchte ich es richtig machen.« Hilarius zuckte beim Klang seiner eigenen Stimme zusammen. War er es gewesen, der Rosi im barschen Ton dazu aufgefordert hatte? Er sah, wie das Mädchen unglücklich auf die Decke starrte und sich nur zögernd darauf niederließ. Obwohl er begriff, dass das, was er tat, nicht gut war, gab es nun kein Zurück mehr für ihn. Einige Augenblicke lang war nur das hastige Atmen der beiden zu hören, dann war es vorbei.

»Hochwürdiger Vater, bitte, lasst ab von mir«, flüsterte Rosi, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Hilarius erhob sich linkisch. Seine Gier war verflogen, und er starrte die weinende Magd an. »Es … es tut mir leid«, presste er hervor.

»Ihr hattet doch, was Ihr wolltet«, fauchte Rosi, während sie aufstand und sich anzuziehen versuchte.

»Ja, das, was ich wollte, habe ich. Aber ich sehne mich nach mehr! Ich will, dass du mir ganz gehörst – mit Haut und Haaren und deinem wunderschönen Leib!« Hilarius trat auf sie zu, umfasste ihre Schultern mit beiden Armen und zog sie an sich. Dann drückte er die Lippen auf ihre Wangen, ihren Mund und jeden Winkel ihres Gesichts.

»Du bist wunderbar! Ich wünschte, wir könnten zusammenbleiben und in ewiger Seligkeit leben«, stieß er hervor.

»Ihr meint, in ewiger Geilheit! Aber ihr Pfaffen könnt nur an fremde Pforten klopfen und sich ihrer bedienen. Wir Frauen sind für euch nicht mehr als eine lässliche Sünde, für die ihr mit einem verschämten Vaterunser büßt, während ihr uns mit den Pforten der Hölle droht und harte Strafen auferlegt. Dabei seid ihr diejenigen, die Gottes Wort hohnsprechen. Eure Seelen müssten am Jüngsten Tag in die Tiefen der Hölle geworfen werden. Das wäre gerecht!«

Mit dem Zorn war auch Rosis Wut gewachsen, und sie schrie Hilarius ihre Anklagen ins Gesicht.

Dieser starrte sie verwirrt an. »Sei still! Wenn uns jemand hört …«

»… komme ich als Metze an den Schandpfahl und werde mit Ruten gestrichen, während Ihr Euch unschuldig geben und behaupten werdet, ich hätte Euch verführt.«

»Bei Gott, das meine ich nicht! Deine Worte greifen die Diener der heiligen Kirche an, und du weißt, welche Strafe darauf steht. Denke nur an Ernst Rickinger. Doktor Portikus lauert darauf, ihn in eine Falle zu locken und dem Richter auszuliefern. Er muss aber auf den Stand des jungen Rickingers als Bürgersohn dieser Stadt Rücksicht nehmen. Dich könnte er unbedenklich vor Gericht zerren und zu Hieben und zur Brandmarkung verurteilen lassen. Er würde es umso lieber tun, da er damit auch Ernst Rickinger treffen kann. Oder würdest du etwa nicht unter der Folter zugeben, mit ihm gebuhlt zu haben?«

»Ihr seid beide des Teufels!«, zischte Rosi leise. Allerdings verstand sie die Warnung und zog sich schweigend an.

Hilarius schlüpfte neben ihr in seine Kutte und kämpfte mit seinen Gefühlen. Der Gedanke, dass Rosi sich nun vor ihm ekelte, tat ihm beinahe körperlich weh. Trotzdem verspürte er den Wunsch, diesen Abend zu wiederholen, koste es, was es wolle.

»Du wirst am Sonntag wieder bei mir beichten. Ich bin im mittleren Beichtstuhl auf der linken Seite. Wage es nicht, zu einem anderen Beichtiger zu gehen!«

Er schämte sich selbst für diese Drohung und wusste gleichzeitig, dass er bis zum Sonntag vor Sehnsucht nach ihr fast vergehen würde.

»Ihr habt wohl Gefallen daran gefunden, aber ich spucke darauf. Ihr seid«, Rosi hob den Kopf, bis sie auf Hilarius herabschauen konnte, »ein erbärmlicher Liebhaber, der keiner Frau Vergnügen bereiten kann. Ernst Rickinger, den Ihr vorhin erwähnt habt, ist da schon ein ganz anderer Mann.«

Mit diesen Worten wandte sie ihm den Rücken zu, ging zur Tür und zog den Riegel zurück. Nach einem prüfenden Blick ins Freie schlüpfte sie hinaus und verschwand in der Dunkelheit.

Sie hatte Hilarius in seiner männlichen Eitelkeit verletzen wollen. Doch dieser sah ihr mit einem sehnsuchtsvollen Ausdruck nach, nahm dann seine Laterne und ging mit schweren Schritten davon. Er wusste, dass er gesündigt hatte. Aber diese Verfehlung würde ihm von einigen Geistlichen, die er kannte, rasch vergeben werden. Allerdings würde er Rosis Namen nennen müssen, und er kannte Doktor Portikus gut genug, um diesem zuzutrauen, das Mädchen zu quälen und es als Waffe gegen Ernst Rickinger zu verwenden. Dazu war er nicht bereit, und so würde er um Rosis willen auf Vergebung verzichten müssen.

Die Ketzerbraut. Roman
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