4.
Die Banditen schleppten Veva tiefer und tiefer in die Berge. Zumeist ging es durch Wald, dessen Bäume sich mit ihren Wurzeln in einen steilen, felsigen Untergrund krallten. Gelegentlich ragten hohe Felswände zur Linken oder zur Rechten auf, und mehrfach rückten die Felsen so nahe an den schmalen Pfad, dass Veva glaubte, ihr Weg müsse an dieser Stelle zu Ende sein. Doch immer wieder fanden sich Durchgänge, die häufig aus dem Bett eines zu dieser Jahreszeit spärlich fließenden Baches bestanden, in dem die Gruppe so selbstverständlich weiterzog, als würden die Räuber jede Felsstufe kennen.
Schließlich weitete sich die Schlucht, und sie erreichten ein kleines Tal, das ganz von Bergen umschlossen war. Nun ging es tatsächlich nicht mehr weiter, und es schien auch keine anderen Lebewesen in dem Kessel zu geben außer einigen Vögeln, die sich vom Wind auf- und abtragen ließen. Veva sah ihnen sehnsüchtig nach und wünschte sich ebenfalls Federn und Flügel, um den Räubern durch die Lüfte entfliehen zu können. Aber für sie gab es kein so leichtes Entkommen. Daher flehte sie die Himmelsjungfrau an, ihr einen Engel zur Hilfe zu schicken, der sie auf seinen Schwingen aus dieser Felsenhölle trug.
Als der Anführer der Bande Bartls Wallach vor einer Steilwand anhielt, in der hoch über dem Talgrund der Eingang einer Höhle zu sehen war, begriff Veva, dass ihr auch kein Engel mehr helfen konnte. Der Räuberhauptmann schwang sich aus dem Sattel, hob seine Gefangene vom Pferd und packte sie an den Handgelenken. »Die werden wir schön binden, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.«
»Elender Mörder«, zischte Veva ihn an.
Der Mann stieß sie zweien seiner Spießgesellen in die Arme. »Fesselt ihr die Arme und sperrt sie in die hinterste Kammer. Passt aber auf, dass keiner ihr zu nahe tritt. Das Weib ist für einen guten Freund bestimmt, und der will sie unbeschädigt haben!«
Die Kerle schleppten Veva eine schmale, natürliche Felsentreppe zum Höhleneingang hoch und schleiften sie durch eine labyrinthartige Höhle. Kurz darauf fand sie sich in einer dunklen Felsenkammer wieder, die kaum mehr als drei Schritte breit und fünf lang war. Eine Unschlittlampe spendete trübes, flackerndes Licht, stank aber so, dass Veva sich von Übelkeit überwältigt in eine Ecke kauerte und so lange würgte, bis nur noch reine Galle aus dem Magen kam. Grinsend sahen die Räuber ihr zu und spotteten über ihren Zustand. Schließlich bogen sie ihr die Arme auf den Rücken und schlangen ihr einen Strick um die Handgelenke.
»So, das wird reichen«, meinte einer und versetzte ihr noch einen kräftigen Klaps auf das Hinterteil.
Der Schlag war so hart, dass Veva stürzte und mit der Brust in ihrem eigenen Erbrochenen landete. Mit Mühe kämpfte sie sich auf die Knie, starrte auf ihre beschmierten Brüste und brach in Tränen aus.
Die beiden Männer, die ihr mit höhnischen Bemerkungen zugesehen hatten, verließen nun das Felsloch. Aber es dauerte geraume Zeit, bis Veva begriff, dass sie allein war. Sie hob den Kopf, starrte auf die Tür, die aus dicken, ungeschälten Brettern zusammengenagelt war, und vernahm die Stimmen der Räuber, die in den Höhlen widerhallten. Die Kerle schienen zu feiern, als hätten sie eine Heldentat vollbracht und keine ahnungslosen Reisenden abgeschlachtet. Immer noch bebend vor Zorn stieß Veva Verwünschungen aus, die der Hebamme Kreszenz zufolge recht wirksam sein sollten. Bisher hatte Veva solche Worte noch nie in den Mund genommen, doch ihr Hass auf die Mörder ihres Bruders war so groß, dass ihr selbst diese Hexenflüche als viel zu harmlos erschienen.
Obwohl sie abwechselnd die Mächte der Hölle und die Heilige Jungfrau samt allen ihr bekannten Heiligen anflehte, Bartls Tod zu rächen, verhallten ihre Worte wirkungslos. Die Stimmen der Räuber klangen immer ausgelassener. Offensichtlich brüsteten sie sich mit den Taten, die sie bereits begangen hatten. Dabei spotteten sie besonders über die Münchner Kaufleute, denen sie schon etliche wertvolle Wagenladungen geraubt hatten, aber auch über die Bürger von Tölz, Miesbach und anderen Orten des Vorgebirges, die sich, wie sie lachend behaupteten, schon bei dem Gedanken an die Gefahren, die in den Bergen lauerten, in die Hose machten.
Veva fragte sich, ob die Kerle sie mit ihren losen Reden ängstigen wollten oder ob sie nach ihren Raubzügen immer so ausgelassen feierten. Erneut sah sie ihren toten Bruder vor sich liegen, und der nächste Weinkrampf schüttelte ihren Körper.
»Bartl!«, schrie sie auf. »Warum warst du so vertrauensselig? Warum musstest du die Straße verlassen und diesem Schurken folgen?«
Erst als sie die eigene Stimme vernahm, wurde ihr bewusst, dass sie ihren toten Zwillingsbruder anklagte, an ihrem Unglück schuld zu sein. Sofort bat sie ihn in Gedanken um Verzeihung. Bartl hatte sie stets beschützt, und diesmal hatte er ihr eine Übernachtung unter freiem Himmel ersparen wollen. Nur ihretwegen war er diesem verräterischen Kerl auf den Leim gegangen. Dann sagte sie sich, dass Bartls sonniges Gemüt ihn auch ohne ihre Anwesenheit verführt hätte, dem Räuber zu glauben. Diese Erkenntnis verhinderte, dass sie sich vor Schuldgefühl zerfleischte. Sie durfte sich nicht ihrem Elend hingeben, sondern musste sich Gedanken machen, wie sie diesen Unholden entkommen konnte. Von den Möglichkeiten, die sie daraufhin erwog, war jedoch keine ausführbar.
Nach einiger Zeit erlosch die Unschlittlampe mit einem letzten Aufflackern, das von üblen Dünsten begleitet wurde. Inzwischen hatte Veva sich jedoch an den Gestank gewöhnt, so dass ihr Magen nicht erneut protestierte. Aber sie fand sich in einer ägyptischen Finsternis wieder, in der ihr Kopf ihr alle jemals über Räuber vernommenen Greuel als Schreckensbilder vorgaukelte.