1.

Während Ernst Rickinger als Sohn und Schwiegersohn eines Münchner Kaufherrn in Jakob Fuggers Haus wie ein Gast aufgenommen worden war, behandelte man Hilarius wie einen nachrangigen Kommis. Den Hausherrn bekam er meist nur von weitem zu sehen, und es war schier unmöglich, ihn anzusprechen. Dabei erwog Hilarius schon geraume Zeit, mit ihm über Gigging zu reden. Seine Angst, den Kaufherrn zu verärgern und damit Veva in Schwierigkeiten zu bringen, war jedoch zu groß. Deren Auftrag, mehr über Franz von Gigging herauszufinden, gab er dennoch nicht auf.

Wie an jedem Tag erledigte er auch an diesem zuerst die Arbeit, die Fuggers Vertrauensmann ihm aufgetragen hatte, und widmete sich anschließend Vevas Geschäften. Als er damit fertig war, trat er in das Kontor seines Vorgesetzten. »Verzeiht mir, doch ich hätte eine Bitte. Meine Herrin wünscht mehr über einen Ritter in Bayern zu erfahren, und ich würde ihr gerne helfen.«

»Wie heißt dieser Ritter?«

»Franz von Gigging. Es handelt sich um denselben Mann, der im letzten Oktober als Begleiter Seiner Eminenz Kardinal Cajetanus hier zu Gast war.«

»Ach der!« Hilarius’ Gesprächspartner verzog das Gesicht. »Der Kerl war eine Pest und hat mindestens zwei Mägden hier im Haus zu dicken Bäuchen verholfen. Also sehen wir nach, was wir über ihn finden!«

»Vergelt’s Gott!« Hilarius atmete auf. Wie er Jakob Fugger einschätzte, wusste dieser weitaus mehr über Gigging und die anderen Ritter in Bayern als Herzog Wilhelm und all seine Beamten. Neugierig folgte er dem Aufseher in einen Raum, der von einer festen Tür mit einem kompliziert aussehenden Schloss versperrt war. Drinnen standen an allen vier Wänden wuchtige, fast deckenhohe Schränke. Sein Begleiter öffnete einen davon, zog mehrere Stapel sauber gebündelter Papiere heraus und drückte sie Hilarius in die Hand.

»Durchsehen kannst du sie selbst! Ich habe anderes zu tun. Wenn du fertig bist, lässt du mich durch einen Diener holen, damit ich alles wieder einräumen kann.«

Als er gegangen war, trug Hilarius das Bündel zu dem Tisch, zog einen Stuhl heran, zündete zwei Kerzen an und begann zu lesen. Es handelte sich um Abschriften von Briefen, in denen von Gigging die Rede war, sowie um Informationen über dessen Beziehungen zu verschiedenen Handelsherren. Ebenso waren seine Aktivitäten als Geleitschutz und die Vorspanndienste verzeichnet, die seine Bauern und Kriegsknechte leisteten. Zuletzt entdeckte Hilarius eine Beschreibung des Besitzes des Ritters und gleich darunter die Überlegungen, die einer von Fuggers Leuten notiert hatte. Dieser hatte sich gewundert, weshalb Gigging, dessen Burg doch abseits aller Straßen lag, mit seinen Männern und Pferden ständig an den Handelswegen zu finden war.

Dies allein wäre kein Grund gewesen, sich Gedanken zu machen. Doch unter diesem Eintrag hatte ein anderer Schreiber mit abweichender Tinte vermerkt, dass kein Warentransport, den Gigging begleitet hatte, von den gefürchteten Räubern der Oberländer Bande angegriffen worden sei. Dahingegen seien mehrere Kaufherren, die Giggings Geleitschutz abgelehnt hatten, überfallen und samt ihren Knechten ermordet worden.

Eine weitere Anmerkung wies darauf hin, dass Ware aus Überfällen dieser Bande auf Märkten in Leipzig und Köln aufgetaucht wäre. Ihren Aussagen zufolge hätten die Käufer das Handelsgut über einen Kaufmann aus München erworben.

Hilarius unterbrach nachdenklich seine Lektüre. Wenn Fuggers Informationen stimmten, musste ein Händler aus München mit den Oberländer Räubern im Bunde sein. Ebenso auffällig erschien ihm die Tatsache, dass bislang noch kein von Gigging eskortierter Handelszug überfallen worden war, obgleich stärker geschützte Transporte ausgeraubt und die Leute bis auf den letzten Mann erschlagen worden waren.

Ganz zuunterst fand Hilarius jenes Blatt, auf dem Jakob Fugger seinen Verdacht festgehalten hatte, Gigging könnte Ernst Rickinger im Auftrag Doktor Portikus’ und Pater Remigius’ ermordet haben. Zwar hatte er dies schon von dem Kaufherrn selbst vernommen, aber es war etwas anderes, die Tatsache im Zusammenhang mit den zusätzlichen Informationen über den Ritter zu lesen. Wenn Gigging für eine Handvoll Gulden einen kaltblütigen Mord beging, konnte man ihm auch zutrauen, Warentransporte zu überfallen.

Als Hilarius dieser Gedanke durch den Kopf schoss, musste er erst einmal schlucken. Obwohl er für seinen Verdacht kein Indiz nennen konnte, war er so fest davon überzeugt, Gigging müsse das Haupt der Oberländer Bande sein, als hätte er den Raubritter bei dessen Schandtaten beobachtet.

Um Veva mitteilen zu können, was er erfahren hatte, nahm er ein Blatt Papier und eine Schreibfeder zur Hand und begann die in seinen Augen wichtigsten Dinge abzuschreiben. Er war noch nicht ganz fertig, da kehrte sein Vorgesetzter zurück und blickte ihm über die Schulter.

»Interessant!«, murmelte der Mann. »Du wirst diesen Brief mit allen Schlussfolgerungen kopieren und zu dem Akt über Gigging legen.«

»Gerne! Ich hoffe nur, dass ich mich nicht vergaloppiert habe.«

»Das werden wir schon herausfinden. Die Oberländer Bande hat auch Augsburger Kaufleute beraubt und ermordet, da müssen wir jedem Verdacht nachgehen. In einem irrst du dich jedoch: Gigging ist kein Untertan Herzog Wilhelms, zählt aber auch nicht zu Tirol. Das Gebirgstal, in dem er lebt, wurde bei der Festlegung der Grenzen übersehen. Nun wollen weder der Herzog noch das Haus Habsburg zugunsten des jeweiligen Nachbarn darauf verzichten.«

»Aber warum kann Gigging dann sowohl in Tirol wie auch in Bayern Geleitschutz bieten und Vorspanndienste leisten?«

»Da die Herren beider Länder hoffen, er werde sich ihnen anschließen, hat er etliche Privilegien erhalten, die er nun schamlos ausnützt. Wenn er wirklich der Anführer dieser Bande ist, fällt es ihm leicht, seine Leute heute als Schnapphähne und morgen als ehrliche Waffenknechte auftreten zu lassen. Das würde erklären, warum alle Spuren im Nichts enden!«

Der Mann erwog, umgehend seinen Herrn zu informieren, verschob dies aber auf den nächsten Morgen, an dem er Jakob Fugger wie jeden Vormittag Rede und Antwort zu stehen hatte. Stattdessen las auch er die gesammelten Informationen über Gigging durch.

Unterdessen war Hilarius mit seiner Abschrift fertig und wollte schon gehen. Da fiel ihm noch etwas ein. »Meine Herrin interessiert sich auch dafür, ob etwas über Benedikt Haselegner bekannt ist. Ihr Vater hat kurz vor seinem Tod einen Brief begonnen, in dem dessen Name steht. Leider verstarb er, bevor er den Brief vollenden konnte.«

»Frau Veva Rickingerin ist wohl sehr neugierig. Aber so sind Frauen nun mal.« Der Angestellte lachte auf, öffnete einen weiteren Schrank und suchte darin herum, bis er den entsprechenden Packen fand.

»Ich glaube, den sollten wir zusammen durchsehen. Sonst sitzt du um Mitternacht noch hier«, sagte er zu Hilarius und begann zu lesen. Zunächst fand er nur Aufstellungen über Geschäfte, die auf mancherlei Weise ihren Weg zu Fugger gefunden hatten. Mehrmals kniff er die Augen zusammen, sagte aber nichts, um Hilarius nicht zu stören. Er legte mehrere Blätter beiseite und kam zuletzt zu einem vergilbt aussehenden Papier.

»Ich glaube, das hier dürfte deine Herrin interessieren!« Damit schob er Hilarius das Blatt hin.

Dieser warf einen Blick darauf und stieß einen erstaunten Ruf aus. »Das hätte ich nicht erwartet!«

»Wie es aussieht, hat Bartholomäus Leibert Haselegner nach dem Tod von dessen Vater bei seinen Geschäften geholfen. Haselegner sollte in Rom heilige Reliquien für einen hohen Herrn kaufen und hat diese auch für teures Geld geliefert. Ein Geschäftsfreund aus Italien muss Leibert später geschrieben haben, dass Haselegner nicht die verlangten wundertätigen Reliquien erworben habe, sondern billige Fälschungen. Danach brach Leibert seine Geschäftsbeziehung zu Haselegner ab. Aber er wagte es nicht, den Käufer der Reliquien über den Betrug aufzuklären.« Fuggers Vertrauensmann schüttelte den Kopf, denn sein Herr hätte einen betrügerischen Geschäftspartner sofort zur Rechenschaft gezogen.

Hilarius hingegen verstand, was Vevas Vater angetrieben hatte. Ohne einen anderen Beweis als einen Brief, den Haselegner jederzeit als Verleumdung hätte abtun können, wäre es Leibert unmöglich gewesen, Recht zu erhalten. Immerhin lag den Reliquien das Schreiben eines römischen Abtes bei, in dem sie als echt bezeichnet wurden. Da er selbst Geistlicher gewesen war, wusste Hilarius, wie leicht so ein Schreiben gefälscht werden konnte. So viele Knochen von Heiligen, wie die Gläubigen sie als wundertätige Reliquien forderten, gab es nun einmal nicht. Deswegen stellten die hohen Preise, die dafür gezahlt wurden, eine Versuchung für so manchen Priester oder Kirchenfürsten dar, die eigene Schatulle durch den Verkauf angeblicher Knochenstücke von Heiligen, falschen Windeln des Jesuskinds und ebenso falschen Splittern vom Kreuz Christi zu füllen. Nachweisen konnte man ihnen den Betrug nicht, da ihre Unterschrift und ihr Siegel genügten, um die Echtheit der Stücke zu bekunden.

Fuggers Angestellten dies zu erklären, hielt Hilarius für überflüssig. Ihn zog es nun mit aller Macht nach Hause, um dort in Ruhe einen Brief an Veva zu schreiben. Daher verabschiedete er sich von dem Hauptkommis und eilte davon.

Kaum hatte er sein Zuhause betreten, wollte Rosi die Schüssel mit dem Abendessen auf den Tisch stellen. Doch Hilarius schüttelte den Kopf. »Später! Ich will noch rasch einen Brief schreiben!«

»Das kannst du hernach auch noch tun. Der Brei ist schon ganz zerkocht. Ich musste bereits zweimal Wasser hinzugeben«, antwortete Rosi verärgert, denn so lange wie an diesem Tag hatte sie noch nie auf ihren Mann warten müssen.

Hilarius’ Magen knurrte vernehmlich, daher nickte er lächelnd. »Du hast recht! Essen wir zuerst zu Abend. Allerdings muss der Brief heute noch geschrieben werden, denn ich will ihn morgen dem ersten Boten mitgeben, der nach München reist. Ich habe endlich Antworten auf etliche Fragen erhalten, die Frau Veva mir in ihren letzten Briefen gestellt hat.«

»Wenn das so ist, sei dir dein spätes Heimkommen verziehen.«

Ihr Mann fasste Rosi um die Taille und gab ihr einen Kuss. »Du bist die Beste! Und jetzt tisch auf. Meine Hände sehnen sich danach, den Brief so rasch wie möglich zu schreiben.«

»Erst muss die Schüssel leer sein«, erklärte Rosi, während sie sich setzte und ihren Löffel auf den Tisch legte. Sie wartete, bis Hilarius das Tischgebet gesprochen und den ersten Bissen gegessen hatte, dann griff auch sie zu.

Nis saß mit ihnen am Tisch und ließ es sich schmecken. Im Gegensatz zu früher trug er einen sauberen Kittel und enge Beinlinge und wirkte viel erwachsener. Obwohl er sich sonst so würdevoll benahm, wie es einem angehenden Handelsgehilfen zustand, rutschte er an diesem Abend auf seinem Hocker hin und her und stellte etliche Fragen. Da er sich viel mit Veva und Ernst unterhalten hatte, kannte er Gigging von dessen Aufenthalt bei Fugger. Vor allem aber traute er dem Mann alle Schandtaten zu.

Die Ketzerbraut. Roman
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