54.
Kapitel
Shelly und ich verbringen eine Woche in der
Präsidenten-Suite des Grand Hotel, lassen uns das Essen aufs Zimmer
servieren, gehen am Strand spazieren, schauen uns die
Sehenswürdigkeiten an und speisen köstlich und viel. Auch Zeit für
intime Begegnungen ist vorgesehen, allerdings nehmen wir den
Ausdruck miteinander schlafen eher wörtlich. Denn wir tun
genau das. Verbringen zehn Stunden des Tages ausschließlich mit
Schlafen.
Shelly geht es besser. Man stürzt sich nicht
einfach mir nichts dir nichts zurück ins Leben, wenn man in seiner
Wohnung angegriffen und entführt wurde, selbst wenn die
Erinnerungen daran verschwommen sind. Mehr als an alles andere muss
sie sich zunächst an das Gefühl der Angst gewöhnen. Wir unternehmen
Ausflüge in die Stadt und spazieren am Strand entlang, aber immer
nur bei Tageslicht. Ohne dass wir es so vereinbart hätten, bringe
ich sie jeden Abend vor Einbruch der Dunkelheit zurück auf das
ausgedehnte Hotelgelände. Nicht etwa, weil man draußen nur noch
wenig sehen kann. Es geht um das Gefühl der Sicherheit.
Am vierten Tag erwache ich so gegen neun. Shelly
kommt gerade in Handtücher gehüllt aus dem Bad. Als ich die Augen
öffne, bemerke ich, dass sie mich beobachtet, und entdecke in ihren
Augen eine angespannte Zurückhaltung. Ich sage »Guten Morgen«, und
sie erwidert den Gruß, doch ihre Augen weichen meinen aus. Ein
Klopfen an der Zimmertür, sie zuckt zusammen.
»Ach, der Zimmerservice«, murmelt sie und kichert
freudlos über sich selbst.
Ich springe auf und werfe mir irgendwas über. Als
sich der Kellner wieder zurückzieht, gebe ich ihm ein großzügiges
Trinkgeld. Dann schiebe ich Obst und Knusperflocken in meinen Mund,
kaue darauf herum und schlucke, aber ich schmecke nichts. Sie
spielt mit einer Scheibe Toast, lacht höflich über meine Witze,
bleibt dabei aber sehr reserviert. Für Shelly ist Reserviertheit so
natürlich wie der tägliche Sonnenaufgang im Osten. Nur spüre ich es
jetzt deutlicher als je zuvor, mehr noch als während unserer
Trennung, weil mir da wenigstens die Hoffnung blieb, sie würde zu
mir zurückkehren.
Ich dusche und schlüpfe in ein kurzärmeliges Hemd
und eine helle Baumwollhose. Ich begleite sie hinunter ins Spa, wo
ich einen Wellness-Tag für sie gebucht habe. Massage,
Gesichtspflege, das ganze Programm. Erst hat sie gemurrt, den
Gedanken an eine Pediküre weit von sich gewiesen, bis ich ihr
versichert habe, dass eine Fußmassage inbegriffen ist. Sie will
nicht umsorgt werden, sie will sich einfach nur entspannen.
Ich begleite sie bis zur Tür des Spa-Bereichs, eine
ritterliche Geste, aber sie spürt, dass ich sie beschützen will und
ihr nur deshalb überallhin folge.
»Was fängst du mit deinem freien Morgen an?«, fragt
sie.
»Ich werd mir schon was einfallen lassen.«
Sie nickt und wendet sich zur Tür. »Shelly.«
Sie sieht lässig zu mir, doch dann bemerkt sie
meinen Gesichtsausdruck. Da sich mein Schweigen quälend dehnt und
mein Ringen um Worte offenbar wird, ahnt sie, was kommt, und rüstet
sich innerlich.
»Lass uns den Flug vorverlegen«, schlage ich vor.
»Lass uns morgen fliegen.«
Sie blickt mir in die Augen.
»Du musst in dein Leben zurückkehren«, füge ich
hinzu. »Und ich in meines.«
Sie ringt eine Weile mit sich, aber mit jedem
Moment des Nicht-Antwortens wird ihre Antwort klarer. Ich kenne
Shelly Trotter besser, als sie sich selbst kennt. Und ich weiß um
den Unterschied zwischen dem echten Verlangen, mit jemandem
zusammen zu sein, und der bloßen Angst davor, allein zu sein.
Ebenso wie ich den Unterschied kenne zwischen dem Gefühl, gemocht
oder wirklich geliebt zu werden.
Ich ziehe mich aufs Zimmer zurück, wo mir ihr
schmerzhaftes, aber ehrliches Schweigen noch lange nachhängt.
Ich trete hinaus auf die Hotelveranda, unter dem
Arm eine Akte, die ich mir aus der Kanzlei mitgebracht habe. In
vier Wochen vertrete ich einen Mandanten in einem Betrugsprozess.
Mit den Vorbereitungen bin ich etwas in Verzug, aber das stört mich
nicht. Dieser Teil der Arbeit macht mir immer am meisten Spaß – die
Strategie entwerfen, die Umsetzung planen. Es ist ein Spiel, ein
Wettkampf, irgendwas zwischen Kontaktsport und Theater. Vermutlich
würde mein Klient die Strafe verdienen. Wohlmeinend betrachtet, hat
er die Augen verschlossen, während seine leitenden Angestellten ein
riskantes Spiel betrieben und gegen die Auflagen der
Aufsichtsbehörden verstießen. Weniger wohlmeinend gesehen, hat er
die illegalen Aktionen selbst initiiert und gesteuert.
Aber ich schätze, er wird straffrei ausgehen. Wir
werden argumentieren, dass er nichts von den Vorgängen wusste und
auch keinen Einblick haben konnte. Ihr Hauptzeuge ist ein
zwielichtiger Typ, dem das FBI einen Handel angeboten hat, wenn er
gegen meinen Klienten aussagt. Er hat die staatlichen
Ermittlungsbehörden schon einmal belogen und das auch zugegeben,
außerdem scheint er ein Problem mit illegalen Wetten zu haben. Ich
werde ihn vor der Jury in Stücke zerreißen und genug Staub
aufwirbeln, um das Bild zu verschleiern.
Denn darin besteht mein Job: Das Bild zu
verschleiern, unscharf zu machen, den Fall der Staatsanwaltschaft
zu untergraben, die Zeugen der Anklage als unsympathisch und
unglaubwürdig hinzustellen, während mein Klient friedlich dasitzt
und freundlich lächelnd schweigt. So läuft das Spiel. Es dreht sich
ums Gewinnen. Nicht um die Wahrheit. Es gehört nicht zu meinem Job,
die Wahrheit rauszufinden.
Früher mal war das mein Job. Aber ich werde nie
wieder als Staatsanwalt arbeiten.
Ich lehne mich über die Brüstung der Veranda, der
warme Wind fängt sich unter meinem T-Shirt, und Sonnenstrahlen
wärmen mein Gesicht, während Bilder von Leo Koslenko, den Opfern
von Mansbury und ganz besonders von Terry Burgos durch meinen Kopf
ziehen. Ich muss daran denken, wie er an den elektrischen Stuhl
gefesselt dasaß, dicklich und ungepflegt, und mir in die Augen
starrte, als der Vollzugsbeamte verkündete, Burgos wolle keine
letzten Worte mehr sprechen.
Ich bin nicht der Einzige, waren die letzten
Worte, die seine Lippen formten. Zitierte er einfach nur Tyler
Skyes Song? Oder ahnte ein Teil seines Gehirns, dass er die
Wahrheit sagte?
Ich ziehe mein Handy heraus. Die Nummer ist
einprogrammiert, auf Verlangen des Gouverneurs. Eigentlich hatte
ich vor, sie nie zu benutzen.
Ein Assistent geht dran, der mich gleich
durchstellt.
Gouverneur Trotters erste Reaktion ist Besorgnis.
Ich beruhige ihn und erzähle ihm, dass es uns gut geht, Shelly die
Auszeit genießt und sich gerade massieren lässt. Wir plaudern ein
wenig über dies und das, obwohl wir beide wissen, dass ich nicht
anrufe, um mir die Zeit zu vertreiben.
Als eine kleine Pause entsteht, räuspere ich
mich.
»Ich habe Ihren Vorschlag umgesetzt, Paul«, sagt
er, »und ein Wort für Detective McDermott eingelegt. Ich denke, er
kann bald mit einer Beförderung rechnen.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen, Lang. Vielen
Dank.«
»Aber deswegen haben Sie mich nicht angerufen«,
fügt er hinzu. »Und auch nicht, um mich um Shellys Hand zu
bitten.«
»Nein«, erwidere ich, ohne darauf einzugehen, wie
recht er damit hat.
»Und Sie wollen mich vermutlich auch nicht darum
bitten, ein gutes Wort bei Harland für Sie einzulegen.« Er lacht.
»So wie es sich anhört, will er, dass ich für ihn ein gutes
Wort bei Ihnen einlege.«
Bevor Shelly und ich in Urlaub fuhren, tauchte
Harland bei mir im Büro auf. Es war das erste Mal, dass er sich zu
mir bemühte. Er entschuldigte sich dafür, mir während des
Burgos-Falls Informationen vorenthalten zu haben. Er fragte mich,
ob ich weiterhin sein Anwalt bleiben wollte. Er bräuchte mich und
würde sämtliche Bedingungen akzeptieren.
Ich bilde mir nicht ein, der einzige Anwalt zu
sein, der Harlands Rechtsvertretung übernehmen kann. Als
Repräsentant an der Spitze mache ich keine schlechte Figur, und
wenn nötig, schreite ich auch selbst ein, aber viele andere Anwälte
könnten diese Arbeit ebenso gut erledigen und in die Führungsrolle
hineinwachsen. Ich denke schon, dass Harland meinen Beitrag zu
schätzen weiß, aber gleichzeitig kann kein Zweifel daran bestehen,
dass seine Bitte zu einem Gutteil aus schlechtem Gewissen geboren
ist. Er hat das Gefühl, mir was zu schulden.
Ich habe Harland einen meiner Hauptpartner
vorgestellt, Jerry Lazarus, der schon länger mit seinen
Rechtsangelegenheiten vertraut ist. Ich erklärte ihm, Jerry sei ein
junger, aggressiver und cleverer Anwalt, genau der Mann, den er
bräuchte. Er stimmte mir im Wesentlichen zu, vermutlich einfach,
weil ich ihn darum bat. So wird die Firma keine Anwälte entlassen
müssen. Und sie wird nicht auf die Firmen von Harland Bentley
verzichten müssen. Der einzige Unterschied werden die Namen auf der
Kanzleitür sein. Shaker & Fleming klingt doch auch nicht
schlecht.
»Urlaub nehmen, mal alles hinter sich lassen – das
gibt einem Raum und Zeit«, bemerkt der Gouverneur. »Da findet man
Gelegenheit, in Ruhe über sein Leben nachzudenken. Und über die
Zukunft.«
Ich erwidere nichts. Aber ich lächle.
»Gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht,
Paul. Ich war selbst viele Jahre lang Staatsanwalt. Ein Mann
gesteht mehrere Morde, und sein Haus ist voller Beweise. Und er hat
tatsächlich die meisten dieser Frauen umgebracht. Verdammt, sogar
sein eigener Anwalt ging davon aus.«
»Danke, Gouverneur, ich weiß das zu schätzen.
Leider kommt der Trost etwas verspätet.«
»Rufen Sie deshalb an, Paul? Weil er zu spät
kommt?«
Er weiß genau, warum ich anrufe. An dem Geschehenen
kann ich nichts mehr ändern, so sehr ich es mir auch wünsche. Aber
ich versuche, daran zu glauben – ja, ich muss daran glauben
– dass es nicht zu spät ist, etwas Gutes zu tun.
»Ich nehme an, Sie haben gehört, dass Richterin
Benz letzte Woche ihren Rücktritt angekündigt hat«, sagt er. »Als
Bundesrichterin war sie eine echte Bereicherung. Wir suchen einen
würdigen Nachfolger.«
Lang Trotter ist ein ausgesprochen kluger Mann. Und
ein guter Mensch.
Ich danke ihm und klappe das Telefon zu.
Vor dem Hotel besteige ich ein Taxi und nenne dem
Mann die Adresse. Den Kopf gegen den Rücksitz gelehnt, betrachte
ich die Küstenlinie, die wundervollen Strände, die unendliche,
eisblaue See, während der Fahrer durch die engen Straßen
kurvt.
Leonid Koslenko hat, wie sich mittlerweile
herausstellte, mit fünfzehn seine Schwester Katrina ermordet und
anschließend seiner Familie versichert, sie sei eine Spionin, die
geplant habe, ihre Familie und das Vaterland zu vernichten. Seine
Eltern hatten Verbindungen zum Politbüro und sorgten dafür, dass er
in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und nicht weiter
strafrechtlich verfolgt wurde. Und obwohl die Informationen nach
wie vor spärlich fließen, zeichnet sich ab, dass jemand beim KGB,
von Koslenkos physischen Fähigkeiten beeindruckt, diesen nach zwei
Jahren Anstalt als Mann fürs Grobe rekrutiert hat. Zwei weitere
Jahre später hatte die Familie, wenig begeistert von Leos neuer
Tätigkeit, erneut ein paar Fäden gezogen und einen Deal mit der
sowjetischen Regierung ausgehandelt – bei dem vermutlich eine Menge
Geld in diverse Taschen floss. Diese Vereinbarung gestattete es
Koslenko, die Sowjetunion als politischer Dissident zu
verlassen. Etwas, das nach außen hin leicht vertretbar war, da die
Sowjets bekanntermaßen ihre politischen Gegner gerne in
Irrenhäusern internierten.
Aber Leo Koslenko war kein Dissident. Er gehörte
wirklich in eine Anstalt.
In Koslenkos Vorstellung hatten seine Tage als
Agent und Auftragskiller nie geendet. Die Vereinigten Staaten waren
einfach ein weiterer Auftrag, mit Natalia Bentley als neuer Chefin.
Er war weiter in Behandlung wegen paranoider Schizophrenie und nahm
seine Medikamente. Keiner wusste, was sich während dieser Zeit in
ihm abspielte – ob er auf neue Anweisungen wartete oder Missionen
in eigener Regie ausführte – doch er schien sich, so weit wie
möglich, aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten und ein
einigermaßen angenehmes Leben auf Mia Lakes Anwesen zu führen – als
eine Art Mädchen für alles. Dort lernte er auch Cassie kennen, die
von allen Mitgliedern des Lake-Bentley-Clans noch die Zugänglichste
und Aufrichtigste war.
Und er war bereit, als er den Marschbefehl bekam –
an dem Tag, als Cassie in einem Anfall von Wut und Verzweiflung
Ellie Danzinger erschlug. Als Natalia nach ihm rief, war er sofort
zur Stelle.
Nach dem zu urteilen, was er über Burgos von sich
gegeben hatte – er war einer von uns – hatte er ihn wohl
beim routinierten Entsorgen der Leiche beobachtet und daraus
geschlossen, Burgos arbeite Hand in Hand mit ihnen zusammen. Das
war in seinen Augen auch der Grund, warum ihn Natalia die Leiche
Ellies zu Burgos’ Haus hatte bringen lassen. Burgos war also
ebenfalls ein Spion, ein Genosse. Und als Leo Zeuge wurde, wie sein
Genosse Burgos die Prostituierten tötete, glaubte er, die
Prostituieren wären der Feind, Agentinnen in geheimer Mission, die
ihren Beruf als Tarnung nutzten.
Niemand kann jetzt noch sagen, wie viele
Prostituierte Leo Koslenko im Anschluss an die Burgos-Geschichte
ermordet hat. Straßenmädchen verschwinden häufig spurlos, und man
sucht nur selten gründlich nach ihnen. Die Prostituierte, deren
Mord man ihm vor Jahren zur Last gelegt hatte, wies jedenfalls
einen Einschnitt zwischen dem vierten und fünften Zeh des linken
Fußes auf. Die Polizei hatte inzwischen die Akten anderer tot
aufgefundener Straßenmädchen wieder geöffnet; bisher hat man
bereits bei dreien die gleiche Signatur entdeckt. Andere dagegen
müssten zur Überprüfung eigens exhumiert werden, und es ist
unwahrscheinlich, dass sich jemand dieser Mühe unterziehen
wird.
Diese Schlussfolgerungen Leos bilden vermutlich
auch das Motiv für den Mord an Amalia Calderone, der Frau, die ich
von der Bar nach Hause begleitet habe. Er dachte, er würde mir das
Leben retten. Er wickelte meine Hand um die Mordwaffe, während ich
ohnmächtig dalag, um mich daran zu erinnern, dass meine Hilfe
gebraucht wurde. Außerdem tötete er eine Frau aus einem Baumarkt,
die zwar keine Prostituierte war, dafür aber sehr attraktiv und
aufreizend gekleidet, und die er ihn seinem von Verfolgungswahn
gepeinigten Verstand für eine Hure hielt – sprich für eine
Spionin.
Und er hat eine russische Prostituierte, die unter
dem Namen Dodya arbeitete, in Shellys Badezimmer als Körperdouble
benutzt. Wie im Lauf der Ermittlungen deutlich wurde, hatte die
Russenmafia junge russische Frauen in die Stadt importiert und in
ein Lagerhaus eingesperrt, wo jeder mit ausreichend Bargeld seinen
Spaß mit ihnen haben konnte. Für achttausend Dollar hatte Koslenko
das arme Mädchen buchstäblich gekauft, sie getötet, in Shellys
Apartment geschafft und dort zersägt.
Ganz offensichtlich war er nicht zufrieden mit dem,
was ich bis dahin geleistet hatte. Auf seine Briefe hatte ich nicht
reagiert. Und ich hatte seinen Mord an Brandon Mitchum vereitelt.
Das Manöver in Shellys Apartment sollte mich wieder zurück an Bord
bringen, mir blieben nur die ein oder bestenfalls zwei Tage, bis
die Tests ergeben hätten, dass die Frau in der Badewanne nicht
Shelly war. Er wollte, dass ich endlich in ihrem Sinne tätig wurde
– mitspielte – ansonsten wäre Shelly wohl am Tag darauf
getötet worden. Bis dahin hätte jedoch niemand nach Shelly gesucht,
da alle – außer mir – sie bereits für tot hielten. Ich dagegen, da
schien er sich sicher, kannte die Wahrheit.
Natalia Lake drohen, zumindest für den Moment,
keine strafrechtlichen Konsequenzen. Es heißt zwar, der
Bezirksstaatsanwalt wolle Anklage gegen sie erheben wegen des
Versuchs, Cassies Mord an Ellie Danzinger zu verschleiern, aber ich
halte das lediglich für einen Knochen, den er den hungrigen Medien
hinwirft. Weder gibt es Beweise dafür, dass Cassie ihre Freundin
Ellie getötet hat – hat sie natürlich, aber etwas wissen und es
nachweisen, sind zwei paar Stiefel -, noch dafür, dass Natalia den
Mord aktiv vertuscht hat. Ganz zu schweigen davon, wurde Terry für
den Mord an Ellie Danzinger bereits offiziell angeklagt, verurteilt
und hingerichtet.
Natalia hat der Polizei gegenüber aus
nachvollziehbaren Gründen verschwiegen, dass sie Leo Koslenko den
Auftrag gab, Ellies Leiche auf Burgos’ Grundstück zu verfrachten,
und ihn dann weiterhin anwies, Burgos zu beobachten und ihr darüber
Bericht zu erstatten. Auch ich habe der Polizei nichts davon
erzählt.
Bisher jedenfalls. Und vielleicht werde ich das
auch nie tun.
Das Taxi erreicht eine Villengegend, große Anwesen,
die sich die Hügel hinaufziehen, mit hohen Sicherheitszäunen. Ich
hatte erwogen, eines dieser Anwesen für die Woche mit Shelly zu
mieten, aber Hotels sind in puncto Sicherheit einfach vorzuziehen.
Und ich wollte Shelly nicht zumuten, tausend Meilen entfernt von zu
Hause in einem riesigen fremden Haus zu schlafen, in dem es in
allen Ecken und Enden knirscht und knackt.
Außerdem hat ein Partner in der Firma mir verraten,
dass bei einem Aufenthalt in Saint Jean Cap Ferrat an der
französischen Riviera das Grand Hotel einfach ein Muss ist.
Ich zahle dem Fahrer genügend Euros, um ihn dazu zu
bewegen, auf mich zu warten. Dann marschiere ich zu einem großen
Tor, das von zwei großen weißen Steinblöcken flankiert wird, und
drücke einen in Gold eingefassten Klingelknopf.
»Bonjour«, meldet sich eine Frauenstimme über die
Gegensprechanlage.
»Paul Riley«, sage ich. »Ich möchte gerne Gwendolyn
Lake sprechen.«
»Ah.« Sie braucht einen Moment, um auf Englisch
umzuschalten. »Mister – Riley?«
»Paul Riley, ja.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein. Sagen Sie ihr bitte, ich bin allein.«
Nach gut zehn Minuten kommt ein Mann die lange
Auffahrt heruntergelaufen. Er ist braungebrannt, wirkt sehr gesund
und ist ganz in weiß gekleidet. »Mr. Riley?«
»Oui.«
»Bonjour.« Er öffnet eine schmale Pforte und lässt
mich ein. Wir steigen eine schier endlos scheinende Freitreppe
hinauf, vorbei an gepflegten, üppig blühenden exotischen Blumen und
Bäumen. Das Haus selbst ist groß, aber nicht monströs, ein
zweistöckiges Ziegelhaus mit vielen Fenstern, die in der hellen
Sonne glitzern.
Statt mich ins Haus zu führen, weist er mir den Weg
einen Pfad hinab, der sich um das Haus herumwindet, bis wir dessen
Rückseite erreichen. Dort befindet sich ein Swimmingpool von den
Ausmaßen unseres Trainingsbeckens damals in der Schule, daneben ein
großer Whirlpool sowie ein ausgedehnter Liegebereich.
»Ms. Lake«, sagt der Mann.
Das letzte Mal, als ich sie sah, im Salon von
Natalias Villa, wirkte sie zerknittert, trug einen Schlafanzug,
ihre Haare lagen platt am Kopf an, und sie beichtete mir den Anfang
einer belastenden Geschichte. Vier Stunden später ging sie an Bord
einer American-Airlines-Maschine mit dem Ziel Paris.
Heute trägt sie einen einteiligen orangefarbenen
Badeanzug unter einem dünnen weißen Bademantel und liegt auf einem
bequemen Deckstuhl neben ihrem Pool. Ihre Haut hat noch etwas mehr
Farbe als bei unserer letzten Begegnung. Ihr Haar trocknet gerade
nach dem Schwimmen und fällt ihr offen über die Schultern. Sie
späht über ihre Sonnenbrille zu mir hoch.
Sie begrüßt mich nicht, bietet mir weder einen
Stuhl noch sonst etwas an.
»Ich weiß nicht, was Natalia Ihnen erzählt hat«,
beginne ich, »aber vermutlich hat sie keine Anklage zu befürchten.
Sie hat Glück gehabt.«
Nachdem sie ihr Buch zur Seite gelegt hat, setzt
sie sich auf und stellt die Füße auf den Holzboden.
»Es hat mich sogar ein wenig überrascht, dass sie
der Polizei erzählt hat, ihre Tochter hätte Ellie getötet. Das
hätte sie nicht tun müssen. War das Ihre Idee?«
Sie schweigt immer noch und starrt durch ihre
Sonnenbrille in die Ferne. Natürlich liege ich richtig. Natalia
hätte nie gewollt, dass irgendwer von Cassies Tat erfährt. Lieber
hätte sie Terry Burgos, Professor Albany – wen auch immer – als
Schuldigen gebrandmarkt.
»Sie haben ihr gedroht, wenn sie es nicht der
Polizei sagt, dann würden Sie es tun.«
Wieder keine Antwort, noch nicht mal ein Blick in
meine Richtung.
»Sie sind schon mal davongerannt«, sage ich.
»Damals. Am Mittwoch in der Mordwoche. Sie sind nach Frankreich
geflohen.«
Dieses Thema hatten wir bereits. Aber ich bringe es
aus einem bestimmten Grund wieder auf, einem Grund, den sie ganz
genau kennt.
»Frankreich liefert seine Staatsbürger nicht an die
USA aus«, fahre ich fort. »Roman Polanski kann das bestätigen. Und
das ist vermutlich auch der Grund, warum Sie damals
verschwanden.«
Keine Antwort.
»Und warum Sie jetzt hier sind.«
Sie schaut zu mir auf.
»Sie wissen«, sage ich, »dass der Mord an Cassie
Bentley weiterhin unaufgeklärt ist. Dieser Fall wurde offiziell
nicht zu den Akten gelegt. Das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Das ist mir klar.« Ihre Stimme klingt dünn und ein
wenig trotzig. »Natürlich weiß ich das.«
Und trotzdem ist sie in die Vereinigten Staaten
zurückgekehrt, wenn auch erst drei Jahre später.
»Helfen Sie mir, eine klare Vorstellung von
Cassandra Alexia Bentley zu bekommen«, sage ich. »Die
verhängnisvolle Affäre mit ihrem Professor. Die
Stimmungsumschwünge. Sie findet raus, dass ihr Vater eine weitere
Tochter hat, die sie immer für ihre Cousine hielt. Dann auch noch
Harlands Affäre mit Ellie. Und irgendwann dreht sie durch. Es ist
einfach zu viel für sie. Sie stürmt in Ellies Apartment, nachdem
sie ihren Daddy hat heraustreten sehen, und sie zieht ihr eins über
den Schädel. Trifft das so weit zu?«
Eine Träne rinnt unter ihrer Sonnenbrille hervor.
Sie wischt sich das Gesicht ab, die Mundwinkel nach unten gezogen,
verharrt aber ansonsten bewegungslos.
»Sehen Sie mir in die Augen«, sage ich, »und
überzeugen Sie mich, dass das bisher Gesagte zutrifft.«
Sie starrt zu Boden. Sie hustet kurz, schnieft,
räuspert sich. Nach einer Weile setzt sie ihre Sonnenbrille ab und
fixiert mich aus feuchten roten Augen.
»Okay«, sage ich. »Und es gab nie eine
Schwangerschaft. Keine Abtreibung. Das waren nur nahe liegende
Vermutungen. Der Einbruch ins Sherwood Executive Center. Alle
dachten, der Schwangerschaftstest, die Abtreibungsunterlagen oder
ein Vaterschaftstest sollten gestohlen werden. Aber das war alles
Unfug, richtig?«
Sie sagt kein Wort.
»Immerhin wirkte es plausibel«, sage ich. »Evelyn
Pendry ging davon aus. Die Cops gingen davon aus. Zum Teufel, sogar
ich ging davon aus.« Ich atme tief durch. »Und dann habe ich es
Ihnen auf die Nase gebunden, als ich Sie am See besuchte.«
Sie ist clever genug, um zu schweigen.
»Und kaum hatte ich Ihnen von diesem Verdacht
erzählt«, fahre ich fort, »machten Sie Gebrauch davon. Sie und
Natalia richteten Ihre Version der Geschichte danach aus. Am
nächsten Tag tauchten Sie beide freiwillig bei uns auf und
erzählten uns von Cassie Bentleys Schwangerschaft und ihrer
Abtreibung. Sie wollten, dass wir daran glauben. Aus dem einfach
Grund, weil es Professor Albany schuldig wirken ließ. Denn das war
von Anfang an Natalias Plan für den Notfall, oder? Es Professor
Albany in die Schuhe zu schieben. Aber das war alles nur Lüge.
Korrekt?«
Ihre Augen fixieren einen unbestimmten Punkt, als
denke sie über eine Antwort nach.
»Die Wahrheit«, fordere ich. »Überzeugen Sie mich,
dass ich hier das Richtige tue.«
Ihr Lachen hat einen bitteren Unterton. »Das
Richtige. Sie glauben zu wissen, wer Cassie ermordet hat
…«
»Nein, so funktioniert das nicht«, sage ich.
Sie mustert mich aufmerksam, den Kopf leicht zur
Seite geneigt, mit schmalen Augen. Langsam kapiert sie, wie der
Hase läuft. Die Mauern dieses prachtvollen Anwesens beginnen sich
um sie zu schließen.
Sie erhebt sich von der Liege, dreht sich in alle
Richtungen, als suche sie Schutz vor dem, was da auf sie
zukommt.
Schließlich wendet sie sich mir zu und sieht mich
jetzt offenbar in einem anderen Licht. Neu erwachter Respekt. Neu
erwachte Furcht.
»Hat es Ihnen gefallen, was Leo mit Shelly
veranstaltet hat?«, frage ich. »Die Kettensäge? Das arme Mädchen in
der Badewanne?«
Sie wendet den Blick ab. Immer noch keine Antwort,
aber die Ironie des Ganzen dürfte ihr nicht entgangen sein. Alte
Gewohnheiten sind nicht totzukriegen, muss sie gedacht
haben.
Zugegebenermaßen habe ich eine ganze Weile
gebraucht, um draufzukommen. Aber irgendwann ist es mir gelungen,
die Verbindungslinien zwischen den Punkten zu ziehen.
Nummer eins war der Mord in der Badewanne – die
nicht identifizierbare Masse aus Fleisch und Knochen.
Dann Koslenkos Brief: Wenn du mitspielst, wird
sie ebenfalls leben.
Ebenfalls leben. Wie in: so, wie auch
andere weiterlebten.
Und nicht zuletzt war da Koslenkos Erklärung dafür,
wie Ciancio alles herausgefunden hatte: In dieser Nacht im Sherwood
Executive Center hatte Ciancio Koslenko seinen Schlüssel übergeben
und ihm so den Diebstahl ermöglicht. Ciancio schöpfte erst
Verdacht, als kurz darauf die Polizei im Gebäude auftauchte, um im
Burgos-Fall zu ermitteln.
Aber es gab nur einen Grund, warum die Polizei nach
dem Fund der Leichen dort erschien.
»Vor ein paar Wochen«, sage ich, »habe ich mich mit
Harland unterhalten. Wir waren auf der Suche nach den Hintergründen
des Einbruchs in das Sherwood Executive Center. Ich habe ihn
gefragt, ob die Ärzte seiner Tochter in dem Gebäude praktizierten.
Wissen Sie, was er mir geantwortet hat?«
Sie erstarrt. Sie hat natürlich keine Ahnung, aber
sie scheint sehr interessiert.
»Ich ging davon aus, er hätte sich nicht die Bohne
für die medizinische Versorgung seiner Tochter interessiert. Aber
das war nicht der Fall. Er konnte sich daran erinnern, sie als Kind
zu einem Zahnarzttermin begleitet zu haben.«
Ihr Gesicht verzieht sich. Eine frische Träne
fällt. Ihre Schultern beginnen leise zu zittern.
»Und Sie haben auch dazu beigetragen, mich auf die
Spur zu bringen«, teile ich ihr mit. »Indem Sie Cassies Reaktion
beschrieben, als ihr Vater das Apartment von Ellie Danzinger
verließ.«
Zwischen zwei Schluchzern nickt sie. Rückblickend
ist ihr das vermutlich selbst aufgefallen.
Sie könnte sich nichts Abstoßenderes, nichts
Ekelhafteres vorstellen, hatte sie gesagt. Ein wenig zu
persönlich, zu betroffen für einen Bericht aus zweiter Hand.
»Natalia hat Sie nach Paris geschickt«, sage ich.
»Am Mittwoch dieser Woche. Wahrscheinlich entsprach Ihr Zustand so
ziemlich dem, wie Sie ihn mir beschrieben haben – Sie waren völlig
durch den Wind. Ein Häufchen Elend. Sie wussten nicht mehr, was um
Sie herum vorging. Sie wussten nicht, was kommen würde.«
»Nein, das wusste ich nicht.« Sie blickt mich an.
»Ein Häufchen Elend ist der richtige Ausdruck. Ich war verwirrt,
völlig verängstigt und stand zu diesem Zeitpunkt auch unter starken
Medikamenten. Ich war ein Zombie, als ich in dieses Flugzeug
stieg.«
Ich glaube ihr. Anders ist es schwer vorzustellen.
»Sie haben sich keine Sorgen wegen dem Pass gemacht?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das – das hätte ich
vermutlich tun sollen – aber ich habe es nicht.«
Und dann war sie in Frankreich, in Sicherheit, weil
ein französischer Staatsbürger nicht ausgeliefert werden
konnte.
Natalia Lake hatte alles meisterlich eingefädelt.
Sie hatte dafür gesorgt, dass Koslenko Ellies Leiche zu Burgos’
Haus schaffte, sie hatte einen Pakt des Stillschweigens mit
Professor Albany geschlossen, und sie hatte Glück, unvorstellbares
Glück, als Burgos mit seiner Mordserie begann.
Aber Natalia hatte mehr getan, als nur einen Mord
zu vertuschen. Sie hatte auch einen Mord befohlen. Leo Koslenko hat
den Befehl ausgeführt, er hatte das arme Mädchen bis zur
Unkenntlichkeit verprügelt und dann genauso wie Ellie vor Burgos’
Hintertür deponiert.
Anschließend hatte Natalia meinen Boss, den
Bezirksstaatsanwalt dazu gebracht, die Ermittlungen in Cassies Fall
einzustellen, so dass niemand einen zu genauen Blick darauf – oder
auf die Leiche – warf.
Cassie hat mich gerettet, hatte Burgos
gesagt. Er war davon ausgegangen, dass der letzte Mord in der
ersten Strophe bedeutete, er müsste sich selbst töten. Das legten
die Zeilen des Liedes nahe – schieb’s zwischen die Zähne und
drücke fröhlich ab -, die Tyler Skye selbst befolgt hatte,
indem er sich eine Pistole in den Mund steckte. Aber ganz
offensichtlich wollte Burgos sich nicht umbringen. Er zögerte es
zwei Tage hinaus. Vielleicht hatte er es nie wirklich vor. Aber
dann bescherte ihm Gott plötzlich ein Wunder: Terry fand eine von
schweren Schlägen entstellte weibliche Leiche auf seiner
Hintertreppe, genau dort, wo Gott auch Ellie Danzinger für ihn
abgelegt hatte. Er konnte diese Entwicklung nicht mit Tyler Skyes
Levitikus-Zitat in Einklang bringen, also durchstöberte er die
Bibel, bis er eine Passage über eine Steinigung fand, die noch am
besten auf das passte, was der Frau in seinem Hinterhof zugestoßen
war. Er strich die Levitikus-Stelle auf seiner Liste durch und
ersetzte sie durch die aus dem Deuteronomium. Und schoss der Leiche
anschließend auch noch eine Kugel durch den Kopf, um
sicherheitshalber die Übereinstimmung mit Levitikus und dem
Songtext zu gewährleisten.
Wie alle anderen glaubte auch Burgos, die Leiche in
seinem Hinterhof sei Cassie. Warum auch nicht? Ihr Gesicht war zwar
so gut wie völlig zerstört, aber in ihren Taschen fanden sich der
Führerschein und die Kreditkarten von Cassandra Bentley.
Das reichte uns damals natürlich nicht als
Identifikation aus. Ein Familienmitglied musste sie persönlich
identifizieren. Wofür sich damals im Leichenschauhaus natürlich
Natalia zur Verfügung stellte – und nicht ihr Ehemann.
Aber auch das reichte uns nicht. Da das Gesicht bis
zur Unkenntlichkeit zerschlagen war und im Computer keine
Fingerabdrücke zum Vergleich vorlagen, unternahmen wir den nächsten
Schritt. Wir besorgten uns die zahnärztlichen Unterlagen.
Als ich an jenem Sonntag im Krankenhaus erwachte,
am Tag nachdem wir Shelly befreit hatten, rief ich meinen Zahnarzt
Dr. Morse an. Er erklärte mir, dass 1989 die meisten Zahnärzte noch
keine digitalisierten Unterlagen im Computer hatten. Sie verwahrten
die Röntgenbilder einfach in Ordnern, die mit dem Namen des
jeweiligen Patienten versehen waren.
Wenn im Jahre 1989 jemand in seine Praxis
eingebrochen wäre und Röntgenbilder aus zwei Ordnern vertauscht
hätte – etwa die Bilder einer Schwester gegen die der anderen -,
dann hätte das laut Dr. Morse niemand bemerkt. Vermutlich hätte man
ein paar Etiketten umkleben müssen, aber das wäre ein Kinderspiel
gewesen und niemandem aufgefallen.
Fred Ciancio, der in der Woche nach den Morden als
Wachmann im Sherwood Executive Center arbeitete, muss sich ziemlich
gewundert haben, als er mitbekam, wie die Polizei in die
Zahnarztpraxis marschierte und die Unterlagen von Cassie Bentley
verlangte. Und er muss sich gefragt haben, ob das wohl irgendwas
mit Koslenko zu tun hatte.
Dann, kurz darauf, entdeckte er in der Zeitung ein
Foto desselben Mannes – Koslenko -, der aus dem Hintergrund ein
Auge auf Harland Bentley warf. Er brachte Koslenko mit der
Bentley-Familie in Verbindung und erkannte immer klarer, was da
vorgefallen war. Er rief die für den Fall Burgos zuständige
Journalistin an, Carolyn Pendry, kriegte dann aber kalte Füße und
legte auf. Carolyn gab es irgendwann auf, Ciancio sein Geheimnis
entlocken zu wollen, und Gras wuchs über die Sache.
Doch im Juni dieses Jahres sorgte irgendetwas
dafür, dass Ciancio sich wieder an alles erinnerte. Vielleicht war
es die Sondersendung von Carolyn Pendry, die eine gewisse Sympathie
für Burgos ausstrahlte. Jedenfalls spürte er Leo Koslenko auf und
wies ihn darauf hin, dass es Zeit für eine zweite Zahlung wäre. Bei
der Gelegenheit rief er irgendwann auch Carolyns Tochter Evelyn an.
Wer weiß? Vielleicht war er sich unschlüssig, ob er sein Gewissen
entlasten oder lieber extra Pensionsgeld kassieren sollte. Er muss
Evelyn irgendwie geködert – womöglich indem er das Sherwood Center
erwähnte -, sie aber nicht vollständig ins Bild gesetzt
haben.
Ich frage mich, ob Ciancio je die ganze Wahrheit
erfasst hat. Er muss gespürt habe, dass da etwas zum Himmel stank,
aber ob er eine Ahnung davon hatte, was wirklich geschehen
war?
Koslenko hatte natürlich nicht die Absicht, Ciancio
mit diesem Wissen weiterleben zu lassen. Er folterte ihn und
presste ihm Eveylns Namen ab. Er folterte Evelyn, die ihm Brandon
Mitchums Namen lieferte. Jede dieser Personen wusste etwas, das auf
die wahren Ereignisse von damals hinwies.
In Wahrheit nämlich war Cassie Bentley nicht tot.
Vielmehr stieg sie in ein Flugzeug nach Paris, ausgestattet mit
Gwendolyns Pass, während Gwendolyn grausam ermordet wurde und
anschließend – durch den Austausch der zahnärztlichen Unterlagen –
als ihre Halbschwester Cassandra firmierte.
Cassie Bentley schlingt sich den Bademantel enger
um den Körper und beobachtet mich. »Und was jetzt?«
»Der Mord an Gwendolyn«, sage ich. »Ihre Mutter
sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
Aber wir wissen beide, dass das nur möglich ist,
wenn alle erfahren, dass Cassie hier in Frankreich unter Gwendolyns
Namen lebt.
»Was meine Mutter getan hat, war unrecht.« Cassie
legt sich eine Hand vors Gesicht. »Ich hätte es verhindert, wenn
ich davon gewusst hätte. Aber sie hat es für mich getan, Mr. Riley.
Sie wusste, die Polizei würde mich wegen des Mordes an Ellie
suchen. Und ihr war klar, dass ich ihren Fragen nicht gewachsen
gewesen wäre.« Sie lässt die Arme fallen. »Doch wenn ich tot bin,
würde niemand nach mir suchen.«
Die gleiche Strategie hatte Leo angewandt, als er
einen Ersatz für Shelly in die Badewanne legte. Wenn du
mitspielst, teilte er mir mit, dann wird sie ebenfalls
leben.
So wie Cassie lebte.
Ich glaube ihr. Nichts an dem, was ich über Cassie
Bentley erfahren habe, macht es wahrscheinlich, dass sie aktiv an
einer diabolischen Intrige beteiligt war. Nach Ellies Tod wurde sie
im Haus eingesperrt, wie Koslenko mir verraten hat, und kurz darauf
nach Paris verfrachtet. Sie hatte keine Ahnung davon, dass ihr Tod
inszeniert wurde. Sie wusste nicht, welches Schicksal Gwendolyn
drohte.
Gwendolyn war eine nahe liegende Wahl. Sie hatte
keine wirkliche Familie, kein echtes Zuhause; sie flog von
Kontinent zu Kontinent, und niemand würde sie vermissen. Sie glich
Cassie aufs Haar – sie hatten beide denselben Vater, und ihre
Mütter waren Schwestern -, und zusätzlich war ihr Gesicht noch
unkenntlich gemacht worden. Gwendolyn war ohnehin ein
Unsicherheitsfaktor. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass
sie bei dem geplanten Vertuschungsmanöver mitspielen würde. Sie war
die perfekte Wahl. Zwei Fliegen mit einer Steinigung.
»Und mit Ciancio oder Evelyn Pendry oder den
anderen Morden der letzten Zeit hatte Ihre Mutter nichts zu tun?«
Koslenko hat mir bereits erklärt, dass er auf eigene Faust
gehandelt hat, aber ich will die Antwort aus ihrem Mund
hören.
Sie wirkt jetzt leidenschaftlich und wesentlich
entschlossener. »Mr. Riley, sie hat seit Jahren nicht mehr mit Leo
gesprochen. Niemand von uns hat das. Nach den ganzen Vorfällen gab
sie Leo ausreichend Geld, damit er sein Leben bestreiten konnte,
und kaufte ihm ein Haus in der Stadt, aber sie wechselte nie wieder
ein Wort mit ihm.«
Richtig. Die Polizei ist auf ein Bankschließfach
gestoßen mit fast einer Million Dollar auf Leo Koslenko Namen.
Koslenko war niemandem mehr verpflichtet. Er handelte auf eigene
Rechnung. Er versuchte, die Frau zu schützen, die er liebte.
Niemand sollte je etwas über Cassie herausfinden.
»Mutter hielt sich bei Freunden in der Toskana auf,
als Leo anfing, zu morden. Sie wusste überhaupt nichts davon, bis
die Polizei sie in Italien kontaktierte. Auch ich hatte keinen
Schimmer. Als Sie mich am See besuchen kamen, hörte ich zum ersten
Mal davon.«
Das klang plausibel. Allerdings haben sie und ihre
Mutter sich daraufhin sofort abgesprochen und mir und den Cops die
gleiche erfundene Geschichte erzählt. Sie beschuldigten Leo, und
sie beschuldigten Albany.
Schließlich jedoch erleichterte Cassie – als
Gwendolyn – insofern ihr schlechtes Gewissen, als sie Harland und
Albany entlastete. Vermutlich war ihr klar, dass Leo an diesem
Punkt nicht mehr zu retten war; er war eindeutig verantwortlich für
die Morde an Ciancio, Evelyn Pendry und Amalia Calderone sowie für
den Mordanschlag auf Brandon Mitchum. Aber Harland und den
Professor konnte sie noch retten. Sie und ihre Mutter hatten
zunächst den Verdacht auf die beiden gelenkt, aber an diesem
letzten Tag war sie in den Salon marschiert und hatte Cassie
preisgegeben – sich selbst. Sie hatte offenbart, wer Ellie wirklich
getötet hatte, zur großen Überraschung und gegen den Widerstand
ihrer Mutter. Sie versuchte, das Richtige zu tun, ohne dabei ihre
wahre Identität aufzudecken. Sie tat ihr Möglichstes. Ihre Mutter
mochte bereit sein, Albany, ja sogar Harland zu opfern, nur um
Cassie zu schützen, aber Cassie ließ das nicht zu.
Und nur deshalb habe ich bisher über die ganze
Sache geschwiegen, mir mein abschließendes Urteil aufgespart, bis
ich sie selbst gesprochen hatte. Cassie hat ein Mädchen getötet,
ihre beste Freundin, aber unter außergewöhnlichen Umständen. Das
Gesetz sieht gewisse Entlastungsmöglichkeiten vor – extremen
emotionalen Stress, vorübergehende geistige Verwirrung – ein
unbeholfener Versuch, widerstreitende soziale Einwirkungen auf den
Täter in Rechnung zu stellen und eine Balance zwischen Strafe und
Verständnis zu erzeugen. Keine Ahnung, wie ein Richter das sehen,
wie eine Jury hier entscheiden würde. Ich habe vielleicht mehr als
jeder andere die Konsequenzen einer harten und buchstabengetreuen
Auslegung des Gesetzes miterleben können.
Damals verschwendete ich keinen Gedanken darauf, ob
Terry Burgos vielleicht schuldunfähig sein könnte. Stattdessen
machte ich mich sofort daran, diese Möglichkeit auszuschließen und
Beweise anzuhäufen, um seine Verteidigung zu untergraben, wobei ich
mir die ganze Zeit einredete, er habe ja einen Anwalt, es gäbe ja
eine Jury, das System werde schon dafür sorgen, dass am Ende die
Wahrheit herauskäme.
Aber ich war Staatsanwalt. Und bei diesem Job geht
es um mehr als nur darum, vor Gericht zu gewinnen. Trotzdem sah ich
in jedem Beweis für Burgos’ Psychose – und davon gab es eine Menge
– nur ein Hindernis auf dem Weg zum Sieg, eine Tretmine, die ich
umgehen, etwas, das ich diskreditieren musste. Dabei war mir egal,
ob ich recht hatte oder nicht. Diese Frage habe ich mir nicht
einmal gestellt.
Vielleicht werde auch ich irgendwann zu der
Einsicht gelangen, dass Burgos’ Taten unvermeidlich waren, dass bei
ihm früher oder später ohnehin die Sicherungen durchgebrannt wären.
Hätte nicht Ellies Leiche ihn entfesselt, dann möglicherweise
irgendetwas anderes. Jemand, der so labil war, hätte vermutlich so
oder so irgendwann zugeschlagen. Und gleichzeitig werde ich mir vor
Augen führen, dass unentschuldbar ist, was er getan hat. Er war
eine Gefahr für die Gesellschaft. Er hat vier junge Frauen getötet.
Vermutlich ist das eine innere Debatte, die ich bis ans Ende meines
Lebens austragen werde.
»Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagt Cassie leise,
und in ihren Augen glitzern neue Tränen. »Ich werde mich nicht
widersetzen. Ich bin – ich bin es so leid, davonzurennen.«
Es liegt im Ermessen eines Staatsanwalts, ob er
einen Fall zur Anklage bringt oder nicht. Er kann jederzeit und aus
den unterschiedlichsten Gründen auf die strafrechtliche Verfolgung
eines Verdächtigen verzichten. Ich bin nicht länger Staatsanwalt,
aber die Mansbury-Morde waren mein Fall, und was weiter mit Cassie
Bentley geschieht, liegt allein in meiner Hand, ob ich es will oder
nicht.
Ich atme tief durch. »Auf Wiedersehen, Gwendolyn
Lake.« Ich lasse Cassie stehen, die unbeweglich hinaus auf den
Horizont starrt, und frage mich, ob sie je aufhören wird,
davonzulaufen.