54. Kapitel
Shelly und ich verbringen eine Woche in der Präsidenten-Suite des Grand Hotel, lassen uns das Essen aufs Zimmer servieren, gehen am Strand spazieren, schauen uns die Sehenswürdigkeiten an und speisen köstlich und viel. Auch Zeit für intime Begegnungen ist vorgesehen, allerdings nehmen wir den Ausdruck miteinander schlafen eher wörtlich. Denn wir tun genau das. Verbringen zehn Stunden des Tages ausschließlich mit Schlafen.
Shelly geht es besser. Man stürzt sich nicht einfach mir nichts dir nichts zurück ins Leben, wenn man in seiner Wohnung angegriffen und entführt wurde, selbst wenn die Erinnerungen daran verschwommen sind. Mehr als an alles andere muss sie sich zunächst an das Gefühl der Angst gewöhnen. Wir unternehmen Ausflüge in die Stadt und spazieren am Strand entlang, aber immer nur bei Tageslicht. Ohne dass wir es so vereinbart hätten, bringe ich sie jeden Abend vor Einbruch der Dunkelheit zurück auf das ausgedehnte Hotelgelände. Nicht etwa, weil man draußen nur noch wenig sehen kann. Es geht um das Gefühl der Sicherheit.
Am vierten Tag erwache ich so gegen neun. Shelly kommt gerade in Handtücher gehüllt aus dem Bad. Als ich die Augen öffne, bemerke ich, dass sie mich beobachtet, und entdecke in ihren Augen eine angespannte Zurückhaltung. Ich sage »Guten Morgen«, und sie erwidert den Gruß, doch ihre Augen weichen meinen aus. Ein Klopfen an der Zimmertür, sie zuckt zusammen.
»Ach, der Zimmerservice«, murmelt sie und kichert freudlos über sich selbst.
Ich springe auf und werfe mir irgendwas über. Als sich der Kellner wieder zurückzieht, gebe ich ihm ein großzügiges Trinkgeld. Dann schiebe ich Obst und Knusperflocken in meinen Mund, kaue darauf herum und schlucke, aber ich schmecke nichts. Sie spielt mit einer Scheibe Toast, lacht höflich über meine Witze, bleibt dabei aber sehr reserviert. Für Shelly ist Reserviertheit so natürlich wie der tägliche Sonnenaufgang im Osten. Nur spüre ich es jetzt deutlicher als je zuvor, mehr noch als während unserer Trennung, weil mir da wenigstens die Hoffnung blieb, sie würde zu mir zurückkehren.
Ich dusche und schlüpfe in ein kurzärmeliges Hemd und eine helle Baumwollhose. Ich begleite sie hinunter ins Spa, wo ich einen Wellness-Tag für sie gebucht habe. Massage, Gesichtspflege, das ganze Programm. Erst hat sie gemurrt, den Gedanken an eine Pediküre weit von sich gewiesen, bis ich ihr versichert habe, dass eine Fußmassage inbegriffen ist. Sie will nicht umsorgt werden, sie will sich einfach nur entspannen.
Ich begleite sie bis zur Tür des Spa-Bereichs, eine ritterliche Geste, aber sie spürt, dass ich sie beschützen will und ihr nur deshalb überallhin folge.
»Was fängst du mit deinem freien Morgen an?«, fragt sie.
»Ich werd mir schon was einfallen lassen.«
Sie nickt und wendet sich zur Tür. »Shelly.«
Sie sieht lässig zu mir, doch dann bemerkt sie meinen Gesichtsausdruck. Da sich mein Schweigen quälend dehnt und mein Ringen um Worte offenbar wird, ahnt sie, was kommt, und rüstet sich innerlich.
»Lass uns den Flug vorverlegen«, schlage ich vor. »Lass uns morgen fliegen.«
Sie blickt mir in die Augen.
»Du musst in dein Leben zurückkehren«, füge ich hinzu. »Und ich in meines.«
Sie ringt eine Weile mit sich, aber mit jedem Moment des Nicht-Antwortens wird ihre Antwort klarer. Ich kenne Shelly Trotter besser, als sie sich selbst kennt. Und ich weiß um den Unterschied zwischen dem echten Verlangen, mit jemandem zusammen zu sein, und der bloßen Angst davor, allein zu sein. Ebenso wie ich den Unterschied kenne zwischen dem Gefühl, gemocht oder wirklich geliebt zu werden.
Ich ziehe mich aufs Zimmer zurück, wo mir ihr schmerzhaftes, aber ehrliches Schweigen noch lange nachhängt.
 
Ich trete hinaus auf die Hotelveranda, unter dem Arm eine Akte, die ich mir aus der Kanzlei mitgebracht habe. In vier Wochen vertrete ich einen Mandanten in einem Betrugsprozess. Mit den Vorbereitungen bin ich etwas in Verzug, aber das stört mich nicht. Dieser Teil der Arbeit macht mir immer am meisten Spaß – die Strategie entwerfen, die Umsetzung planen. Es ist ein Spiel, ein Wettkampf, irgendwas zwischen Kontaktsport und Theater. Vermutlich würde mein Klient die Strafe verdienen. Wohlmeinend betrachtet, hat er die Augen verschlossen, während seine leitenden Angestellten ein riskantes Spiel betrieben und gegen die Auflagen der Aufsichtsbehörden verstießen. Weniger wohlmeinend gesehen, hat er die illegalen Aktionen selbst initiiert und gesteuert.
Aber ich schätze, er wird straffrei ausgehen. Wir werden argumentieren, dass er nichts von den Vorgängen wusste und auch keinen Einblick haben konnte. Ihr Hauptzeuge ist ein zwielichtiger Typ, dem das FBI einen Handel angeboten hat, wenn er gegen meinen Klienten aussagt. Er hat die staatlichen Ermittlungsbehörden schon einmal belogen und das auch zugegeben, außerdem scheint er ein Problem mit illegalen Wetten zu haben. Ich werde ihn vor der Jury in Stücke zerreißen und genug Staub aufwirbeln, um das Bild zu verschleiern.
Denn darin besteht mein Job: Das Bild zu verschleiern, unscharf zu machen, den Fall der Staatsanwaltschaft zu untergraben, die Zeugen der Anklage als unsympathisch und unglaubwürdig hinzustellen, während mein Klient friedlich dasitzt und freundlich lächelnd schweigt. So läuft das Spiel. Es dreht sich ums Gewinnen. Nicht um die Wahrheit. Es gehört nicht zu meinem Job, die Wahrheit rauszufinden.
Früher mal war das mein Job. Aber ich werde nie wieder als Staatsanwalt arbeiten.
Ich lehne mich über die Brüstung der Veranda, der warme Wind fängt sich unter meinem T-Shirt, und Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht, während Bilder von Leo Koslenko, den Opfern von Mansbury und ganz besonders von Terry Burgos durch meinen Kopf ziehen. Ich muss daran denken, wie er an den elektrischen Stuhl gefesselt dasaß, dicklich und ungepflegt, und mir in die Augen starrte, als der Vollzugsbeamte verkündete, Burgos wolle keine letzten Worte mehr sprechen.
Ich bin nicht der Einzige, waren die letzten Worte, die seine Lippen formten. Zitierte er einfach nur Tyler Skyes Song? Oder ahnte ein Teil seines Gehirns, dass er die Wahrheit sagte?
Ich ziehe mein Handy heraus. Die Nummer ist einprogrammiert, auf Verlangen des Gouverneurs. Eigentlich hatte ich vor, sie nie zu benutzen.
Ein Assistent geht dran, der mich gleich durchstellt.
Gouverneur Trotters erste Reaktion ist Besorgnis. Ich beruhige ihn und erzähle ihm, dass es uns gut geht, Shelly die Auszeit genießt und sich gerade massieren lässt. Wir plaudern ein wenig über dies und das, obwohl wir beide wissen, dass ich nicht anrufe, um mir die Zeit zu vertreiben.
Als eine kleine Pause entsteht, räuspere ich mich.
»Ich habe Ihren Vorschlag umgesetzt, Paul«, sagt er, »und ein Wort für Detective McDermott eingelegt. Ich denke, er kann bald mit einer Beförderung rechnen.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen, Lang. Vielen Dank.«
»Aber deswegen haben Sie mich nicht angerufen«, fügt er hinzu. »Und auch nicht, um mich um Shellys Hand zu bitten.«
»Nein«, erwidere ich, ohne darauf einzugehen, wie recht er damit hat.
»Und Sie wollen mich vermutlich auch nicht darum bitten, ein gutes Wort bei Harland für Sie einzulegen.« Er lacht. »So wie es sich anhört, will er, dass ich für ihn ein gutes Wort bei Ihnen einlege.«
Bevor Shelly und ich in Urlaub fuhren, tauchte Harland bei mir im Büro auf. Es war das erste Mal, dass er sich zu mir bemühte. Er entschuldigte sich dafür, mir während des Burgos-Falls Informationen vorenthalten zu haben. Er fragte mich, ob ich weiterhin sein Anwalt bleiben wollte. Er bräuchte mich und würde sämtliche Bedingungen akzeptieren.
Ich bilde mir nicht ein, der einzige Anwalt zu sein, der Harlands Rechtsvertretung übernehmen kann. Als Repräsentant an der Spitze mache ich keine schlechte Figur, und wenn nötig, schreite ich auch selbst ein, aber viele andere Anwälte könnten diese Arbeit ebenso gut erledigen und in die Führungsrolle hineinwachsen. Ich denke schon, dass Harland meinen Beitrag zu schätzen weiß, aber gleichzeitig kann kein Zweifel daran bestehen, dass seine Bitte zu einem Gutteil aus schlechtem Gewissen geboren ist. Er hat das Gefühl, mir was zu schulden.
Ich habe Harland einen meiner Hauptpartner vorgestellt, Jerry Lazarus, der schon länger mit seinen Rechtsangelegenheiten vertraut ist. Ich erklärte ihm, Jerry sei ein junger, aggressiver und cleverer Anwalt, genau der Mann, den er bräuchte. Er stimmte mir im Wesentlichen zu, vermutlich einfach, weil ich ihn darum bat. So wird die Firma keine Anwälte entlassen müssen. Und sie wird nicht auf die Firmen von Harland Bentley verzichten müssen. Der einzige Unterschied werden die Namen auf der Kanzleitür sein. Shaker & Fleming klingt doch auch nicht schlecht.
»Urlaub nehmen, mal alles hinter sich lassen – das gibt einem Raum und Zeit«, bemerkt der Gouverneur. »Da findet man Gelegenheit, in Ruhe über sein Leben nachzudenken. Und über die Zukunft.«
Ich erwidere nichts. Aber ich lächle.
»Gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht, Paul. Ich war selbst viele Jahre lang Staatsanwalt. Ein Mann gesteht mehrere Morde, und sein Haus ist voller Beweise. Und er hat tatsächlich die meisten dieser Frauen umgebracht. Verdammt, sogar sein eigener Anwalt ging davon aus.«
»Danke, Gouverneur, ich weiß das zu schätzen. Leider kommt der Trost etwas verspätet.«
»Rufen Sie deshalb an, Paul? Weil er zu spät kommt?«
Er weiß genau, warum ich anrufe. An dem Geschehenen kann ich nichts mehr ändern, so sehr ich es mir auch wünsche. Aber ich versuche, daran zu glauben – ja, ich muss daran glauben – dass es nicht zu spät ist, etwas Gutes zu tun.
»Ich nehme an, Sie haben gehört, dass Richterin Benz letzte Woche ihren Rücktritt angekündigt hat«, sagt er. »Als Bundesrichterin war sie eine echte Bereicherung. Wir suchen einen würdigen Nachfolger.«
Lang Trotter ist ein ausgesprochen kluger Mann. Und ein guter Mensch.
Ich danke ihm und klappe das Telefon zu.
Vor dem Hotel besteige ich ein Taxi und nenne dem Mann die Adresse. Den Kopf gegen den Rücksitz gelehnt, betrachte ich die Küstenlinie, die wundervollen Strände, die unendliche, eisblaue See, während der Fahrer durch die engen Straßen kurvt.
Leonid Koslenko hat, wie sich mittlerweile herausstellte, mit fünfzehn seine Schwester Katrina ermordet und anschließend seiner Familie versichert, sie sei eine Spionin, die geplant habe, ihre Familie und das Vaterland zu vernichten. Seine Eltern hatten Verbindungen zum Politbüro und sorgten dafür, dass er in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und nicht weiter strafrechtlich verfolgt wurde. Und obwohl die Informationen nach wie vor spärlich fließen, zeichnet sich ab, dass jemand beim KGB, von Koslenkos physischen Fähigkeiten beeindruckt, diesen nach zwei Jahren Anstalt als Mann fürs Grobe rekrutiert hat. Zwei weitere Jahre später hatte die Familie, wenig begeistert von Leos neuer Tätigkeit, erneut ein paar Fäden gezogen und einen Deal mit der sowjetischen Regierung ausgehandelt – bei dem vermutlich eine Menge Geld in diverse Taschen floss. Diese Vereinbarung gestattete es Koslenko, die Sowjetunion als politischer Dissident zu verlassen. Etwas, das nach außen hin leicht vertretbar war, da die Sowjets bekanntermaßen ihre politischen Gegner gerne in Irrenhäusern internierten.
Aber Leo Koslenko war kein Dissident. Er gehörte wirklich in eine Anstalt.
In Koslenkos Vorstellung hatten seine Tage als Agent und Auftragskiller nie geendet. Die Vereinigten Staaten waren einfach ein weiterer Auftrag, mit Natalia Bentley als neuer Chefin. Er war weiter in Behandlung wegen paranoider Schizophrenie und nahm seine Medikamente. Keiner wusste, was sich während dieser Zeit in ihm abspielte – ob er auf neue Anweisungen wartete oder Missionen in eigener Regie ausführte – doch er schien sich, so weit wie möglich, aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten und ein einigermaßen angenehmes Leben auf Mia Lakes Anwesen zu führen – als eine Art Mädchen für alles. Dort lernte er auch Cassie kennen, die von allen Mitgliedern des Lake-Bentley-Clans noch die Zugänglichste und Aufrichtigste war.
Und er war bereit, als er den Marschbefehl bekam – an dem Tag, als Cassie in einem Anfall von Wut und Verzweiflung Ellie Danzinger erschlug. Als Natalia nach ihm rief, war er sofort zur Stelle.
Nach dem zu urteilen, was er über Burgos von sich gegeben hatte – er war einer von uns – hatte er ihn wohl beim routinierten Entsorgen der Leiche beobachtet und daraus geschlossen, Burgos arbeite Hand in Hand mit ihnen zusammen. Das war in seinen Augen auch der Grund, warum ihn Natalia die Leiche Ellies zu Burgos’ Haus hatte bringen lassen. Burgos war also ebenfalls ein Spion, ein Genosse. Und als Leo Zeuge wurde, wie sein Genosse Burgos die Prostituierten tötete, glaubte er, die Prostituieren wären der Feind, Agentinnen in geheimer Mission, die ihren Beruf als Tarnung nutzten.
Niemand kann jetzt noch sagen, wie viele Prostituierte Leo Koslenko im Anschluss an die Burgos-Geschichte ermordet hat. Straßenmädchen verschwinden häufig spurlos, und man sucht nur selten gründlich nach ihnen. Die Prostituierte, deren Mord man ihm vor Jahren zur Last gelegt hatte, wies jedenfalls einen Einschnitt zwischen dem vierten und fünften Zeh des linken Fußes auf. Die Polizei hatte inzwischen die Akten anderer tot aufgefundener Straßenmädchen wieder geöffnet; bisher hat man bereits bei dreien die gleiche Signatur entdeckt. Andere dagegen müssten zur Überprüfung eigens exhumiert werden, und es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand dieser Mühe unterziehen wird.
Diese Schlussfolgerungen Leos bilden vermutlich auch das Motiv für den Mord an Amalia Calderone, der Frau, die ich von der Bar nach Hause begleitet habe. Er dachte, er würde mir das Leben retten. Er wickelte meine Hand um die Mordwaffe, während ich ohnmächtig dalag, um mich daran zu erinnern, dass meine Hilfe gebraucht wurde. Außerdem tötete er eine Frau aus einem Baumarkt, die zwar keine Prostituierte war, dafür aber sehr attraktiv und aufreizend gekleidet, und die er ihn seinem von Verfolgungswahn gepeinigten Verstand für eine Hure hielt – sprich für eine Spionin.
Und er hat eine russische Prostituierte, die unter dem Namen Dodya arbeitete, in Shellys Badezimmer als Körperdouble benutzt. Wie im Lauf der Ermittlungen deutlich wurde, hatte die Russenmafia junge russische Frauen in die Stadt importiert und in ein Lagerhaus eingesperrt, wo jeder mit ausreichend Bargeld seinen Spaß mit ihnen haben konnte. Für achttausend Dollar hatte Koslenko das arme Mädchen buchstäblich gekauft, sie getötet, in Shellys Apartment geschafft und dort zersägt.
Ganz offensichtlich war er nicht zufrieden mit dem, was ich bis dahin geleistet hatte. Auf seine Briefe hatte ich nicht reagiert. Und ich hatte seinen Mord an Brandon Mitchum vereitelt. Das Manöver in Shellys Apartment sollte mich wieder zurück an Bord bringen, mir blieben nur die ein oder bestenfalls zwei Tage, bis die Tests ergeben hätten, dass die Frau in der Badewanne nicht Shelly war. Er wollte, dass ich endlich in ihrem Sinne tätig wurde – mitspielte – ansonsten wäre Shelly wohl am Tag darauf getötet worden. Bis dahin hätte jedoch niemand nach Shelly gesucht, da alle – außer mir – sie bereits für tot hielten. Ich dagegen, da schien er sich sicher, kannte die Wahrheit.
Natalia Lake drohen, zumindest für den Moment, keine strafrechtlichen Konsequenzen. Es heißt zwar, der Bezirksstaatsanwalt wolle Anklage gegen sie erheben wegen des Versuchs, Cassies Mord an Ellie Danzinger zu verschleiern, aber ich halte das lediglich für einen Knochen, den er den hungrigen Medien hinwirft. Weder gibt es Beweise dafür, dass Cassie ihre Freundin Ellie getötet hat – hat sie natürlich, aber etwas wissen und es nachweisen, sind zwei paar Stiefel -, noch dafür, dass Natalia den Mord aktiv vertuscht hat. Ganz zu schweigen davon, wurde Terry für den Mord an Ellie Danzinger bereits offiziell angeklagt, verurteilt und hingerichtet.
Natalia hat der Polizei gegenüber aus nachvollziehbaren Gründen verschwiegen, dass sie Leo Koslenko den Auftrag gab, Ellies Leiche auf Burgos’ Grundstück zu verfrachten, und ihn dann weiterhin anwies, Burgos zu beobachten und ihr darüber Bericht zu erstatten. Auch ich habe der Polizei nichts davon erzählt.
Bisher jedenfalls. Und vielleicht werde ich das auch nie tun.
Das Taxi erreicht eine Villengegend, große Anwesen, die sich die Hügel hinaufziehen, mit hohen Sicherheitszäunen. Ich hatte erwogen, eines dieser Anwesen für die Woche mit Shelly zu mieten, aber Hotels sind in puncto Sicherheit einfach vorzuziehen. Und ich wollte Shelly nicht zumuten, tausend Meilen entfernt von zu Hause in einem riesigen fremden Haus zu schlafen, in dem es in allen Ecken und Enden knirscht und knackt.
Außerdem hat ein Partner in der Firma mir verraten, dass bei einem Aufenthalt in Saint Jean Cap Ferrat an der französischen Riviera das Grand Hotel einfach ein Muss ist.
Ich zahle dem Fahrer genügend Euros, um ihn dazu zu bewegen, auf mich zu warten. Dann marschiere ich zu einem großen Tor, das von zwei großen weißen Steinblöcken flankiert wird, und drücke einen in Gold eingefassten Klingelknopf.
»Bonjour«, meldet sich eine Frauenstimme über die Gegensprechanlage.
»Paul Riley«, sage ich. »Ich möchte gerne Gwendolyn Lake sprechen.«
»Ah.« Sie braucht einen Moment, um auf Englisch umzuschalten. »Mister – Riley?«
»Paul Riley, ja.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein. Sagen Sie ihr bitte, ich bin allein.«
Nach gut zehn Minuten kommt ein Mann die lange Auffahrt heruntergelaufen. Er ist braungebrannt, wirkt sehr gesund und ist ganz in weiß gekleidet. »Mr. Riley?«
»Oui.«
»Bonjour.« Er öffnet eine schmale Pforte und lässt mich ein. Wir steigen eine schier endlos scheinende Freitreppe hinauf, vorbei an gepflegten, üppig blühenden exotischen Blumen und Bäumen. Das Haus selbst ist groß, aber nicht monströs, ein zweistöckiges Ziegelhaus mit vielen Fenstern, die in der hellen Sonne glitzern.
Statt mich ins Haus zu führen, weist er mir den Weg einen Pfad hinab, der sich um das Haus herumwindet, bis wir dessen Rückseite erreichen. Dort befindet sich ein Swimmingpool von den Ausmaßen unseres Trainingsbeckens damals in der Schule, daneben ein großer Whirlpool sowie ein ausgedehnter Liegebereich.
»Ms. Lake«, sagt der Mann.
Das letzte Mal, als ich sie sah, im Salon von Natalias Villa, wirkte sie zerknittert, trug einen Schlafanzug, ihre Haare lagen platt am Kopf an, und sie beichtete mir den Anfang einer belastenden Geschichte. Vier Stunden später ging sie an Bord einer American-Airlines-Maschine mit dem Ziel Paris.
Heute trägt sie einen einteiligen orangefarbenen Badeanzug unter einem dünnen weißen Bademantel und liegt auf einem bequemen Deckstuhl neben ihrem Pool. Ihre Haut hat noch etwas mehr Farbe als bei unserer letzten Begegnung. Ihr Haar trocknet gerade nach dem Schwimmen und fällt ihr offen über die Schultern. Sie späht über ihre Sonnenbrille zu mir hoch.
Sie begrüßt mich nicht, bietet mir weder einen Stuhl noch sonst etwas an.
»Ich weiß nicht, was Natalia Ihnen erzählt hat«, beginne ich, »aber vermutlich hat sie keine Anklage zu befürchten. Sie hat Glück gehabt.«
Nachdem sie ihr Buch zur Seite gelegt hat, setzt sie sich auf und stellt die Füße auf den Holzboden.
»Es hat mich sogar ein wenig überrascht, dass sie der Polizei erzählt hat, ihre Tochter hätte Ellie getötet. Das hätte sie nicht tun müssen. War das Ihre Idee?«
Sie schweigt immer noch und starrt durch ihre Sonnenbrille in die Ferne. Natürlich liege ich richtig. Natalia hätte nie gewollt, dass irgendwer von Cassies Tat erfährt. Lieber hätte sie Terry Burgos, Professor Albany – wen auch immer – als Schuldigen gebrandmarkt.
»Sie haben ihr gedroht, wenn sie es nicht der Polizei sagt, dann würden Sie es tun.«
Wieder keine Antwort, noch nicht mal ein Blick in meine Richtung.
»Sie sind schon mal davongerannt«, sage ich. »Damals. Am Mittwoch in der Mordwoche. Sie sind nach Frankreich geflohen.«
Dieses Thema hatten wir bereits. Aber ich bringe es aus einem bestimmten Grund wieder auf, einem Grund, den sie ganz genau kennt.
»Frankreich liefert seine Staatsbürger nicht an die USA aus«, fahre ich fort. »Roman Polanski kann das bestätigen. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum Sie damals verschwanden.«
Keine Antwort.
»Und warum Sie jetzt hier sind.«
Sie schaut zu mir auf.
»Sie wissen«, sage ich, »dass der Mord an Cassie Bentley weiterhin unaufgeklärt ist. Dieser Fall wurde offiziell nicht zu den Akten gelegt. Das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Das ist mir klar.« Ihre Stimme klingt dünn und ein wenig trotzig. »Natürlich weiß ich das.«
Und trotzdem ist sie in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wenn auch erst drei Jahre später.
»Helfen Sie mir, eine klare Vorstellung von Cassandra Alexia Bentley zu bekommen«, sage ich. »Die verhängnisvolle Affäre mit ihrem Professor. Die Stimmungsumschwünge. Sie findet raus, dass ihr Vater eine weitere Tochter hat, die sie immer für ihre Cousine hielt. Dann auch noch Harlands Affäre mit Ellie. Und irgendwann dreht sie durch. Es ist einfach zu viel für sie. Sie stürmt in Ellies Apartment, nachdem sie ihren Daddy hat heraustreten sehen, und sie zieht ihr eins über den Schädel. Trifft das so weit zu?«
Eine Träne rinnt unter ihrer Sonnenbrille hervor. Sie wischt sich das Gesicht ab, die Mundwinkel nach unten gezogen, verharrt aber ansonsten bewegungslos.
»Sehen Sie mir in die Augen«, sage ich, »und überzeugen Sie mich, dass das bisher Gesagte zutrifft.«
Sie starrt zu Boden. Sie hustet kurz, schnieft, räuspert sich. Nach einer Weile setzt sie ihre Sonnenbrille ab und fixiert mich aus feuchten roten Augen.
»Okay«, sage ich. »Und es gab nie eine Schwangerschaft. Keine Abtreibung. Das waren nur nahe liegende Vermutungen. Der Einbruch ins Sherwood Executive Center. Alle dachten, der Schwangerschaftstest, die Abtreibungsunterlagen oder ein Vaterschaftstest sollten gestohlen werden. Aber das war alles Unfug, richtig?«
Sie sagt kein Wort.
»Immerhin wirkte es plausibel«, sage ich. »Evelyn Pendry ging davon aus. Die Cops gingen davon aus. Zum Teufel, sogar ich ging davon aus.« Ich atme tief durch. »Und dann habe ich es Ihnen auf die Nase gebunden, als ich Sie am See besuchte.«
Sie ist clever genug, um zu schweigen.
»Und kaum hatte ich Ihnen von diesem Verdacht erzählt«, fahre ich fort, »machten Sie Gebrauch davon. Sie und Natalia richteten Ihre Version der Geschichte danach aus. Am nächsten Tag tauchten Sie beide freiwillig bei uns auf und erzählten uns von Cassie Bentleys Schwangerschaft und ihrer Abtreibung. Sie wollten, dass wir daran glauben. Aus dem einfach Grund, weil es Professor Albany schuldig wirken ließ. Denn das war von Anfang an Natalias Plan für den Notfall, oder? Es Professor Albany in die Schuhe zu schieben. Aber das war alles nur Lüge. Korrekt?«
Ihre Augen fixieren einen unbestimmten Punkt, als denke sie über eine Antwort nach.
»Die Wahrheit«, fordere ich. »Überzeugen Sie mich, dass ich hier das Richtige tue.«
Ihr Lachen hat einen bitteren Unterton. »Das Richtige. Sie glauben zu wissen, wer Cassie ermordet hat …«
»Nein, so funktioniert das nicht«, sage ich.
Sie mustert mich aufmerksam, den Kopf leicht zur Seite geneigt, mit schmalen Augen. Langsam kapiert sie, wie der Hase läuft. Die Mauern dieses prachtvollen Anwesens beginnen sich um sie zu schließen.
Sie erhebt sich von der Liege, dreht sich in alle Richtungen, als suche sie Schutz vor dem, was da auf sie zukommt.
Schließlich wendet sie sich mir zu und sieht mich jetzt offenbar in einem anderen Licht. Neu erwachter Respekt. Neu erwachte Furcht.
»Hat es Ihnen gefallen, was Leo mit Shelly veranstaltet hat?«, frage ich. »Die Kettensäge? Das arme Mädchen in der Badewanne?«
Sie wendet den Blick ab. Immer noch keine Antwort, aber die Ironie des Ganzen dürfte ihr nicht entgangen sein. Alte Gewohnheiten sind nicht totzukriegen, muss sie gedacht haben.
Zugegebenermaßen habe ich eine ganze Weile gebraucht, um draufzukommen. Aber irgendwann ist es mir gelungen, die Verbindungslinien zwischen den Punkten zu ziehen.
Nummer eins war der Mord in der Badewanne – die nicht identifizierbare Masse aus Fleisch und Knochen.
Dann Koslenkos Brief: Wenn du mitspielst, wird sie ebenfalls leben.
Ebenfalls leben. Wie in: so, wie auch andere weiterlebten.
Und nicht zuletzt war da Koslenkos Erklärung dafür, wie Ciancio alles herausgefunden hatte: In dieser Nacht im Sherwood Executive Center hatte Ciancio Koslenko seinen Schlüssel übergeben und ihm so den Diebstahl ermöglicht. Ciancio schöpfte erst Verdacht, als kurz darauf die Polizei im Gebäude auftauchte, um im Burgos-Fall zu ermitteln.
Aber es gab nur einen Grund, warum die Polizei nach dem Fund der Leichen dort erschien.
»Vor ein paar Wochen«, sage ich, »habe ich mich mit Harland unterhalten. Wir waren auf der Suche nach den Hintergründen des Einbruchs in das Sherwood Executive Center. Ich habe ihn gefragt, ob die Ärzte seiner Tochter in dem Gebäude praktizierten. Wissen Sie, was er mir geantwortet hat?«
Sie erstarrt. Sie hat natürlich keine Ahnung, aber sie scheint sehr interessiert.
»Ich ging davon aus, er hätte sich nicht die Bohne für die medizinische Versorgung seiner Tochter interessiert. Aber das war nicht der Fall. Er konnte sich daran erinnern, sie als Kind zu einem Zahnarzttermin begleitet zu haben.«
Ihr Gesicht verzieht sich. Eine frische Träne fällt. Ihre Schultern beginnen leise zu zittern.
»Und Sie haben auch dazu beigetragen, mich auf die Spur zu bringen«, teile ich ihr mit. »Indem Sie Cassies Reaktion beschrieben, als ihr Vater das Apartment von Ellie Danzinger verließ.«
Zwischen zwei Schluchzern nickt sie. Rückblickend ist ihr das vermutlich selbst aufgefallen.
Sie könnte sich nichts Abstoßenderes, nichts Ekelhafteres vorstellen, hatte sie gesagt. Ein wenig zu persönlich, zu betroffen für einen Bericht aus zweiter Hand.
»Natalia hat Sie nach Paris geschickt«, sage ich. »Am Mittwoch dieser Woche. Wahrscheinlich entsprach Ihr Zustand so ziemlich dem, wie Sie ihn mir beschrieben haben – Sie waren völlig durch den Wind. Ein Häufchen Elend. Sie wussten nicht mehr, was um Sie herum vorging. Sie wussten nicht, was kommen würde.«
»Nein, das wusste ich nicht.« Sie blickt mich an. »Ein Häufchen Elend ist der richtige Ausdruck. Ich war verwirrt, völlig verängstigt und stand zu diesem Zeitpunkt auch unter starken Medikamenten. Ich war ein Zombie, als ich in dieses Flugzeug stieg.«
Ich glaube ihr. Anders ist es schwer vorzustellen. »Sie haben sich keine Sorgen wegen dem Pass gemacht?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das – das hätte ich vermutlich tun sollen – aber ich habe es nicht.«
Und dann war sie in Frankreich, in Sicherheit, weil ein französischer Staatsbürger nicht ausgeliefert werden konnte.
Natalia Lake hatte alles meisterlich eingefädelt. Sie hatte dafür gesorgt, dass Koslenko Ellies Leiche zu Burgos’ Haus schaffte, sie hatte einen Pakt des Stillschweigens mit Professor Albany geschlossen, und sie hatte Glück, unvorstellbares Glück, als Burgos mit seiner Mordserie begann.
Aber Natalia hatte mehr getan, als nur einen Mord zu vertuschen. Sie hatte auch einen Mord befohlen. Leo Koslenko hat den Befehl ausgeführt, er hatte das arme Mädchen bis zur Unkenntlichkeit verprügelt und dann genauso wie Ellie vor Burgos’ Hintertür deponiert.
Anschließend hatte Natalia meinen Boss, den Bezirksstaatsanwalt dazu gebracht, die Ermittlungen in Cassies Fall einzustellen, so dass niemand einen zu genauen Blick darauf – oder auf die Leiche – warf.
Cassie hat mich gerettet, hatte Burgos gesagt. Er war davon ausgegangen, dass der letzte Mord in der ersten Strophe bedeutete, er müsste sich selbst töten. Das legten die Zeilen des Liedes nahe – schieb’s zwischen die Zähne und drücke fröhlich ab -, die Tyler Skye selbst befolgt hatte, indem er sich eine Pistole in den Mund steckte. Aber ganz offensichtlich wollte Burgos sich nicht umbringen. Er zögerte es zwei Tage hinaus. Vielleicht hatte er es nie wirklich vor. Aber dann bescherte ihm Gott plötzlich ein Wunder: Terry fand eine von schweren Schlägen entstellte weibliche Leiche auf seiner Hintertreppe, genau dort, wo Gott auch Ellie Danzinger für ihn abgelegt hatte. Er konnte diese Entwicklung nicht mit Tyler Skyes Levitikus-Zitat in Einklang bringen, also durchstöberte er die Bibel, bis er eine Passage über eine Steinigung fand, die noch am besten auf das passte, was der Frau in seinem Hinterhof zugestoßen war. Er strich die Levitikus-Stelle auf seiner Liste durch und ersetzte sie durch die aus dem Deuteronomium. Und schoss der Leiche anschließend auch noch eine Kugel durch den Kopf, um sicherheitshalber die Übereinstimmung mit Levitikus und dem Songtext zu gewährleisten.
Wie alle anderen glaubte auch Burgos, die Leiche in seinem Hinterhof sei Cassie. Warum auch nicht? Ihr Gesicht war zwar so gut wie völlig zerstört, aber in ihren Taschen fanden sich der Führerschein und die Kreditkarten von Cassandra Bentley.
Das reichte uns damals natürlich nicht als Identifikation aus. Ein Familienmitglied musste sie persönlich identifizieren. Wofür sich damals im Leichenschauhaus natürlich Natalia zur Verfügung stellte – und nicht ihr Ehemann.
Aber auch das reichte uns nicht. Da das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen war und im Computer keine Fingerabdrücke zum Vergleich vorlagen, unternahmen wir den nächsten Schritt. Wir besorgten uns die zahnärztlichen Unterlagen.
Als ich an jenem Sonntag im Krankenhaus erwachte, am Tag nachdem wir Shelly befreit hatten, rief ich meinen Zahnarzt Dr. Morse an. Er erklärte mir, dass 1989 die meisten Zahnärzte noch keine digitalisierten Unterlagen im Computer hatten. Sie verwahrten die Röntgenbilder einfach in Ordnern, die mit dem Namen des jeweiligen Patienten versehen waren.
Wenn im Jahre 1989 jemand in seine Praxis eingebrochen wäre und Röntgenbilder aus zwei Ordnern vertauscht hätte – etwa die Bilder einer Schwester gegen die der anderen -, dann hätte das laut Dr. Morse niemand bemerkt. Vermutlich hätte man ein paar Etiketten umkleben müssen, aber das wäre ein Kinderspiel gewesen und niemandem aufgefallen.
Fred Ciancio, der in der Woche nach den Morden als Wachmann im Sherwood Executive Center arbeitete, muss sich ziemlich gewundert haben, als er mitbekam, wie die Polizei in die Zahnarztpraxis marschierte und die Unterlagen von Cassie Bentley verlangte. Und er muss sich gefragt haben, ob das wohl irgendwas mit Koslenko zu tun hatte.
Dann, kurz darauf, entdeckte er in der Zeitung ein Foto desselben Mannes – Koslenko -, der aus dem Hintergrund ein Auge auf Harland Bentley warf. Er brachte Koslenko mit der Bentley-Familie in Verbindung und erkannte immer klarer, was da vorgefallen war. Er rief die für den Fall Burgos zuständige Journalistin an, Carolyn Pendry, kriegte dann aber kalte Füße und legte auf. Carolyn gab es irgendwann auf, Ciancio sein Geheimnis entlocken zu wollen, und Gras wuchs über die Sache.
Doch im Juni dieses Jahres sorgte irgendetwas dafür, dass Ciancio sich wieder an alles erinnerte. Vielleicht war es die Sondersendung von Carolyn Pendry, die eine gewisse Sympathie für Burgos ausstrahlte. Jedenfalls spürte er Leo Koslenko auf und wies ihn darauf hin, dass es Zeit für eine zweite Zahlung wäre. Bei der Gelegenheit rief er irgendwann auch Carolyns Tochter Evelyn an. Wer weiß? Vielleicht war er sich unschlüssig, ob er sein Gewissen entlasten oder lieber extra Pensionsgeld kassieren sollte. Er muss Evelyn irgendwie geködert – womöglich indem er das Sherwood Center erwähnte -, sie aber nicht vollständig ins Bild gesetzt haben.
Ich frage mich, ob Ciancio je die ganze Wahrheit erfasst hat. Er muss gespürt habe, dass da etwas zum Himmel stank, aber ob er eine Ahnung davon hatte, was wirklich geschehen war?
Koslenko hatte natürlich nicht die Absicht, Ciancio mit diesem Wissen weiterleben zu lassen. Er folterte ihn und presste ihm Eveylns Namen ab. Er folterte Evelyn, die ihm Brandon Mitchums Namen lieferte. Jede dieser Personen wusste etwas, das auf die wahren Ereignisse von damals hinwies.
In Wahrheit nämlich war Cassie Bentley nicht tot. Vielmehr stieg sie in ein Flugzeug nach Paris, ausgestattet mit Gwendolyns Pass, während Gwendolyn grausam ermordet wurde und anschließend – durch den Austausch der zahnärztlichen Unterlagen – als ihre Halbschwester Cassandra firmierte.
Cassie Bentley schlingt sich den Bademantel enger um den Körper und beobachtet mich. »Und was jetzt?«
»Der Mord an Gwendolyn«, sage ich. »Ihre Mutter sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
Aber wir wissen beide, dass das nur möglich ist, wenn alle erfahren, dass Cassie hier in Frankreich unter Gwendolyns Namen lebt.
»Was meine Mutter getan hat, war unrecht.« Cassie legt sich eine Hand vors Gesicht. »Ich hätte es verhindert, wenn ich davon gewusst hätte. Aber sie hat es für mich getan, Mr. Riley. Sie wusste, die Polizei würde mich wegen des Mordes an Ellie suchen. Und ihr war klar, dass ich ihren Fragen nicht gewachsen gewesen wäre.« Sie lässt die Arme fallen. »Doch wenn ich tot bin, würde niemand nach mir suchen.«
Die gleiche Strategie hatte Leo angewandt, als er einen Ersatz für Shelly in die Badewanne legte. Wenn du mitspielst, teilte er mir mit, dann wird sie ebenfalls leben.
So wie Cassie lebte.
Ich glaube ihr. Nichts an dem, was ich über Cassie Bentley erfahren habe, macht es wahrscheinlich, dass sie aktiv an einer diabolischen Intrige beteiligt war. Nach Ellies Tod wurde sie im Haus eingesperrt, wie Koslenko mir verraten hat, und kurz darauf nach Paris verfrachtet. Sie hatte keine Ahnung davon, dass ihr Tod inszeniert wurde. Sie wusste nicht, welches Schicksal Gwendolyn drohte.
Gwendolyn war eine nahe liegende Wahl. Sie hatte keine wirkliche Familie, kein echtes Zuhause; sie flog von Kontinent zu Kontinent, und niemand würde sie vermissen. Sie glich Cassie aufs Haar – sie hatten beide denselben Vater, und ihre Mütter waren Schwestern -, und zusätzlich war ihr Gesicht noch unkenntlich gemacht worden. Gwendolyn war ohnehin ein Unsicherheitsfaktor. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie bei dem geplanten Vertuschungsmanöver mitspielen würde. Sie war die perfekte Wahl. Zwei Fliegen mit einer Steinigung.
»Und mit Ciancio oder Evelyn Pendry oder den anderen Morden der letzten Zeit hatte Ihre Mutter nichts zu tun?« Koslenko hat mir bereits erklärt, dass er auf eigene Faust gehandelt hat, aber ich will die Antwort aus ihrem Mund hören.
Sie wirkt jetzt leidenschaftlich und wesentlich entschlossener. »Mr. Riley, sie hat seit Jahren nicht mehr mit Leo gesprochen. Niemand von uns hat das. Nach den ganzen Vorfällen gab sie Leo ausreichend Geld, damit er sein Leben bestreiten konnte, und kaufte ihm ein Haus in der Stadt, aber sie wechselte nie wieder ein Wort mit ihm.«
Richtig. Die Polizei ist auf ein Bankschließfach gestoßen mit fast einer Million Dollar auf Leo Koslenko Namen. Koslenko war niemandem mehr verpflichtet. Er handelte auf eigene Rechnung. Er versuchte, die Frau zu schützen, die er liebte. Niemand sollte je etwas über Cassie herausfinden.
»Mutter hielt sich bei Freunden in der Toskana auf, als Leo anfing, zu morden. Sie wusste überhaupt nichts davon, bis die Polizei sie in Italien kontaktierte. Auch ich hatte keinen Schimmer. Als Sie mich am See besuchen kamen, hörte ich zum ersten Mal davon.«
Das klang plausibel. Allerdings haben sie und ihre Mutter sich daraufhin sofort abgesprochen und mir und den Cops die gleiche erfundene Geschichte erzählt. Sie beschuldigten Leo, und sie beschuldigten Albany.
Schließlich jedoch erleichterte Cassie – als Gwendolyn – insofern ihr schlechtes Gewissen, als sie Harland und Albany entlastete. Vermutlich war ihr klar, dass Leo an diesem Punkt nicht mehr zu retten war; er war eindeutig verantwortlich für die Morde an Ciancio, Evelyn Pendry und Amalia Calderone sowie für den Mordanschlag auf Brandon Mitchum. Aber Harland und den Professor konnte sie noch retten. Sie und ihre Mutter hatten zunächst den Verdacht auf die beiden gelenkt, aber an diesem letzten Tag war sie in den Salon marschiert und hatte Cassie preisgegeben – sich selbst. Sie hatte offenbart, wer Ellie wirklich getötet hatte, zur großen Überraschung und gegen den Widerstand ihrer Mutter. Sie versuchte, das Richtige zu tun, ohne dabei ihre wahre Identität aufzudecken. Sie tat ihr Möglichstes. Ihre Mutter mochte bereit sein, Albany, ja sogar Harland zu opfern, nur um Cassie zu schützen, aber Cassie ließ das nicht zu.
Und nur deshalb habe ich bisher über die ganze Sache geschwiegen, mir mein abschließendes Urteil aufgespart, bis ich sie selbst gesprochen hatte. Cassie hat ein Mädchen getötet, ihre beste Freundin, aber unter außergewöhnlichen Umständen. Das Gesetz sieht gewisse Entlastungsmöglichkeiten vor – extremen emotionalen Stress, vorübergehende geistige Verwirrung – ein unbeholfener Versuch, widerstreitende soziale Einwirkungen auf den Täter in Rechnung zu stellen und eine Balance zwischen Strafe und Verständnis zu erzeugen. Keine Ahnung, wie ein Richter das sehen, wie eine Jury hier entscheiden würde. Ich habe vielleicht mehr als jeder andere die Konsequenzen einer harten und buchstabengetreuen Auslegung des Gesetzes miterleben können.
Damals verschwendete ich keinen Gedanken darauf, ob Terry Burgos vielleicht schuldunfähig sein könnte. Stattdessen machte ich mich sofort daran, diese Möglichkeit auszuschließen und Beweise anzuhäufen, um seine Verteidigung zu untergraben, wobei ich mir die ganze Zeit einredete, er habe ja einen Anwalt, es gäbe ja eine Jury, das System werde schon dafür sorgen, dass am Ende die Wahrheit herauskäme.
Aber ich war Staatsanwalt. Und bei diesem Job geht es um mehr als nur darum, vor Gericht zu gewinnen. Trotzdem sah ich in jedem Beweis für Burgos’ Psychose – und davon gab es eine Menge – nur ein Hindernis auf dem Weg zum Sieg, eine Tretmine, die ich umgehen, etwas, das ich diskreditieren musste. Dabei war mir egal, ob ich recht hatte oder nicht. Diese Frage habe ich mir nicht einmal gestellt.
Vielleicht werde auch ich irgendwann zu der Einsicht gelangen, dass Burgos’ Taten unvermeidlich waren, dass bei ihm früher oder später ohnehin die Sicherungen durchgebrannt wären. Hätte nicht Ellies Leiche ihn entfesselt, dann möglicherweise irgendetwas anderes. Jemand, der so labil war, hätte vermutlich so oder so irgendwann zugeschlagen. Und gleichzeitig werde ich mir vor Augen führen, dass unentschuldbar ist, was er getan hat. Er war eine Gefahr für die Gesellschaft. Er hat vier junge Frauen getötet. Vermutlich ist das eine innere Debatte, die ich bis ans Ende meines Lebens austragen werde.
»Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagt Cassie leise, und in ihren Augen glitzern neue Tränen. »Ich werde mich nicht widersetzen. Ich bin – ich bin es so leid, davonzurennen.«
Es liegt im Ermessen eines Staatsanwalts, ob er einen Fall zur Anklage bringt oder nicht. Er kann jederzeit und aus den unterschiedlichsten Gründen auf die strafrechtliche Verfolgung eines Verdächtigen verzichten. Ich bin nicht länger Staatsanwalt, aber die Mansbury-Morde waren mein Fall, und was weiter mit Cassie Bentley geschieht, liegt allein in meiner Hand, ob ich es will oder nicht.
Ich atme tief durch. »Auf Wiedersehen, Gwendolyn Lake.« Ich lasse Cassie stehen, die unbeweglich hinaus auf den Horizont starrt, und frage mich, ob sie je aufhören wird, davonzulaufen.
In Gottes Namen
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