29.
Kapitel
McDermott genügt ein kurzer Blick auf die
Hochglanzfotos vom Opfer. Die Details kennt er bereits – die Wunde
an der rechten Schläfe, das zertrümmerte Schädeldach -, ein Hagel
von Schlägen muss auf die Frau niedergegangen sein. Wer auch immer
der Täter war, er hat sich ohne Mitleid und ohne Hemmungen
ausgetobt.
Mehr braucht er nicht zu sehen, mehr will er auch
nicht sehen.
Stoletti angelt sich die Fotos von seinem
Schreibtisch und blättert sie durch. Sie ist inzwischen lange genug
seine Partnerin; sie weiß, dass er ein Problem mit weiblichen
Mordopfern hat. Und sie ist clever genug, zu verstehen, wo das
herrührt, auch wenn sie nie darüber gesprochen haben.
Es ist kein bisschen leichter geworden. Er dachte,
er bräuchte nur etwas Zeit nach Joyces Tod, um irgendwann wieder
problemlos einer Leiche gegenübertreten zu können. Aber inzwischen
sind vier verdammte Jahre vergangen, und noch immer zieht sich ihm
alles zusammen – bei Frauen besonders. Bei Mordopfern beträgt das
Verhältnis Frauen zu Männern üblicherweise vierzig zu sechzig. Das
sind eine Menge Tatorte, die man lieber nicht besichtigen möchte;
ein Haufen Fotos, deren Anblick man sich lieber ersparen
würde.
Nachts kann er die Bilder verdrängen. Auch bei
hellem Tageslicht oder in der Hektik eines arbeitsreichen Tages
gelingt es ihm, sie beiseite zu schieben. Aber irgendwas an den
Tatorten selbst, der Geruch, die unabweisbare Präsenz des Todes,
ruft ihm alles wieder nur allzu deutlich in Erinnerung: das leere
Starren ihrer Augen, die verrenkte Haltung – ihre Beine in
Totenstarre überkreuzt, ihr Körper ausgestreckt auf der rechten
Seite liegend, wie eine umgestürzte Statue – und dann die
Blutlache, die sich bis zur Badewanne erstreckte, in der die kleine
Gracie hockte, die Augen fest geschlossen, die Händchen auf die
Ohren gepresst, sanft mit dem Oberkörper schaukelnd.
Er betrachtet irgendwelche Opfer, so wie die Frau
hier auf den Hochglanzfotos, und malt sich die Reaktion der
nächsten Angehörigen aus, die seiner eigenen ähneln muss: Nichts,
absolut nichts kann schrecklicher sein.
Manchmal weist er jegliche Schuld von sich. Es gibt
tatsächlich Zeiten, da packt ihn die Wut auf Joyce, und er wirft
seiner Frau einen Mangel an Verantwortungsgefühl und
Selbstkontrolle vor; aber im Grunde seines Herzens weiß er sehr
genau, dass sie beides schon lange nicht mehr besaß.
Meistens treffen seine Vorwürfe jedoch den
Richtigen. Viel früher schon hätte er die negative Entwicklung in
ihrer Psyche erkennen müssen. Er hätte auf einer intensiveren
Behandlung und Betreuung bestehen müssen.
Und was die Nacht vor ihrem Tod und den nächsten
Morgen betraf – das konnte er definitiv niemand anders als sich
selbst zuschreiben.
Komisch, dass er in der ganzen Zeit nie daran
gedacht hat, seinen Job an den Nagel zu hängen. Es gäbe eine Menge
guter Gründe dafür. Ein Detective der Mordkommission, der den
Anblick von Tatorten nicht verkraftet, ist wie ein Artist mit
Höhenangst. Aber er ist nun mal der Sohn und der Enkel eines Cops.
Von diesem Job hat er immer geträumt. Für ihn hat es nie was
anderes gegeben. Und er erledigt seinen Job nach wie vor
zuverlässig. Da ist er sich sicher. Er ist immer noch ein guter
Cop.
Genau, ein guter Polizist, aufgeschlossen und mit
viel Intuition, der dummerweise nicht mitbekam, wie seine eigene
Frau langsam den Verstand verlor.
»Diese ganze Geschichte«, sagt Stoletti, »ergibt
einfach keinen Sinn.«
McDermott schreckt aus seinen Gedanken auf. »Was?«
»Ich kann mir einfach keinen Reim drauf machen, Mike. Es ist zu
merkwürdig.«
Er holt tief Luft und lässt sich in einen Stuhl
fallen. Okay. Fallbesprechung. Vertrautes Terrain.
»Wie lief das Gespräch mit Albany?«, fragt
McDermott.
»Gut. Erstaunlich gut«, gibt sie zu. »Riley ist es
besser als mir gelungen, den Professor zum Reden zu bringen. Es ist
sein Verdienst, dass Albany mit der Geschichte über die
Schwangerschaft und die Abtreibung rausrückte.«
McDermott überlegt kurz. »Ich schätze, die neuen
Informationen verändern deine Sichtweise ein wenig.«
Detective Koessl kommt in den Konferenzraum und
schlägt seinen Notizblock auf. »Mike, wir haben acht Händler, die
Trim-Meter-Kettensägen verkaufen. Zwei davon hier in der Stadt,
sechs in der Umgebung.«
»Nur acht?«
»Trim-Meter hat schon vor zehn Jahre die Produktion
von Kettensägen eingestellt. Nur ein paar Läden verkaufen noch
gebrauchte Modelle. In den letzten drei Monaten ist allerdings
keine einzige über den Ladentisch gegangen.«
»Okay, Tom.« McDermott seufzt. »Und alle Läden
haben Anweisung, uns zu verständigen, falls jemand eine kaufen
will?«
»Versteht sich.«
Nachdem der Detective verschwunden ist, nehmen sie
den Faden wieder auf.
»Lass also in Zukunft deine persönlichen Gefühle
aus dem Spiel«, sagt er zu ihr.
Sie funkelt ihn an. Das hat sie nicht verdient.
Egal wie sie über Riley denken mag, Stoletti hat McDermott immer
als fähige und verlässliche Polizistin zur Seite gestanden. Er
arbeitet zum ersten Mal mit einer Frau zusammen, und obwohl ihn
diese Aussicht anfänglich wenig begeistert hat, schätzt er sie
inzwischen als seinen bisher besten Partner. Vielleicht hängt es
mit dem Mangel an überschüssigem Testosteron zusammen oder mit dem
weniger aufgeblasenen Ego, jedenfalls bewahrt sie immer einen
kühlen Kopf. Und auf ihren Instinkt kann er sich verlassen wie auf
seinen eigenen.
»Die Frage ist«, sagt sie, »ob diese neue
Geschichte eine Einzeltat ist. Ohne jeden Zusammenhang.«
Er nickt. »Schwer vorstellbar, dass da kein
Zusammenhang besteht.«
»Aber das würde bedeuten, Paul Riley ist ein
Mörder«, sagt sie.
Ein weiterer Detective, Bax, steckt den Kopf durch
die Tür. »Chief, Neuigkeiten über Fred Ciancio. Kommen Sie mal
schnell und werfen einen Blick drauf.«
Stoletti wirft McDermott einen Blick zu.
»Fortsetzung folgt«, sagt sie, während sie sich erheben.
Auf dem Weg nach draußen hält McDermott sie am Arm
zurück. »Im Labor müssten sie eigentlich immer noch die Blutund
Spermaproben von Burgos haben, oder?«
Sie bestätigt das. Die Abteilung für Spurentechnik
der Bezirksstaatsanwaltschaft drüben in der West Side verfügt über
ein riesiges Archiv.
»Heute haben wir was, das die 1989 noch nicht
hatten«, sagt er.
Sie starrt ihn kurz an, dann versteht sie und nickt
langsam. »Du willst einen DNS-Test für Burgos und die Opfer?«
»Richtig. Und wir wollen nicht zwei Monate darauf
warten, Ricki. Erzähl ihnen, was du willst. Erwähne meinetwegen den
Commander. Hauptsache, die Angelegenheit hat absolute
Priorität.«
Unten im Bootshaus betätigt Gwendolyn eine große
Kurbel, die auf dem Boot befestigt ist. Ich biete ihr meine Hilfe
an, aber sie lehnt dankend ab. Sie scheint diese Art von
Anstrengung gewohnt zu sein. Als das Boot endlich zu Wasser
gelassen ist, schaut sie mich an, als gebe sie mir eine letzte
Chance, einen Rückzieher zu machen. Vermutlich hat sie meinen
Gesichtsausdruck bemerkt. »Sie mögen kein Wasser?«
Auch Shelly mustert mich neugierig und verkneift
sich dabei ein Lächeln. Sie weiß ziemlich genau, dass ich ein
kleineres Problem mit Wasser habe. Das kleinere Problem
besteht darin, dass ich nicht schwimmen kann. Meine Arme und Beine
bewegen sich zwar wie vorgeschrieben, trotzdem versinke ich jedes
Mal wie ein Stein. Aber nötigenfalls würde ich sogar mit dem
Gleitschirm über die Anden fliegen, wenn ich dadurch Gwendolyns
Zunge lockern könnte.
Sie startet den Motor, während wir ins Boot
steigen. Eigentlich ist es weniger ein Boot, als vielmehr ein
langes, flaches Sonnendeck, das ringsum von einer Reling aus weißem
Leder umgeben und mit lederbezogenen Sitzbänken sowie einer
Steuerungseinheit ausgestattet ist. Dieses Deck ruht auf etwas, das
mich an zwei riesige Skier erinnert. Das Ganze wirkt wie ein
gigantischer Wasserschlitten.
»Ein Ponton«, erklärt sie, während sie das Ding
rückwärts aus dem Bootshäuschen manövriert. »Sie sind also der
Mann, der Burgos angeklagt hat«, sagt sie. »Und jetzt sind Sie
Harlands Anwalt.«
Dass sie das so direkt miteinander in Verbindung
bringt, bereitet mir ein gewisses Unbehagen. Ganz ähnlich hat es
auch Evelyn Pendry formuliert. »Ja, das bin ich. Es geht ihm
übrigens gut«, füge ich hinzu, obwohl sie nicht danach gefragt
hat.
»Daran habe ich keine Zweifel«, murmelt sie. Sie
lässt den Ponton über den See schießen, was durchaus angenehm ist,
da der Fahrtwind die stechende Hitze abmildert. Wir fahren hinaus
auf den riesigen See, bis sie das Boot stoppt. Ich befürchte, dass
nun der Wellengang stärker spürbar wird, aber offensichtlich ist
einer der Vorteile eines Pontons eine stabile Wasserlage. Ringsum
an den Ufern stehen Hütten und kleine Bootshäuser, Kinder hüpfen
von den Stegen und spielen auf großen Wasserrutschen. Man hört die
Rufe von Wasserskifahrern und Windsurfern und das Brummen von
Motorbooten von weither über den See hallen.
Gwendolyns Reaktion bestätigt so ziemlich Harlands
Bild von ihr. Als wir im Fall Burgos ermittelten, fiel ein- oder
zweimal Gwendolyns Name, weil so wenig andere Menschen Näheres über
Cassie wussten. Nach allem, was wir über sie erfuhren, schien
Gwendolyn das krasse Gegenteil von Cassie – Gwen war das verwöhnte,
zickige Partygirl, Cassie unschuldig und scheu. Allerdings bin ich
ihr nie persönlich begegnet, da sie sich immer außer Landes
aufhielt.
Ungeachtet dessen kann ich bisher nichts Bösartiges
oder Verdorbenes an dieser Frau wahrnehmen. Die Zeit hat offenbar
Wunder gewirkt.
»Sie besitzen ein Lokal?«, frage ich.
Sie lächelt sanft. »Viele kleinere Läden und Lokale
hier in der Gegend müssen schließen. Es liegt mir sehr am Herzen,
dass es einen Ort gibt, wo sich die Leute aus der Umgebung treffen
können.« Sie nickt und hängt einen Moment lang ihren Gedanken
nach.
Ich beschließe, es langsam anzugehen. Gwendolyns
Gesicht nimmt einen friedlichen Ausdruck an, während die Sonne ihr
das Gesicht wärmt. Das hier ist ganz offensichtlich ihr
persönlicher Zufluchtsort.
Sie bietet mir einen Drink aus der Kühlbox an, den
ich dankend ablehne. Dann lässt sie sich mir gegenüber auf der
Sitzbank nieder. Shelly sitzt neben mir und schweigt. Sie rollt
sich die Ärmel und Hosenbeine hoch und schließt die Augen vor der
Sonne. Sie macht es genau richtig. Es soll eine entspannte
Unterhaltung werden, und eine Situation zwei-gegen-einen macht
Menschen immer leicht nervös. Also wird sie einfach nur
zuhören.
Die Brise weht den Duft von Gwendolyns
Kokosnuss-Sonnenmilch zu mir herüber. Sie hat einen hellen
russischen Teint und macht offensichtlich häufig von der Lotion
Gebrauch, denn ihre Haut ist dunkelrosa.
Ohne den geringsten Schatten steigt die Temperatur
fast ins Unerträgliche. Ich ziehe mein Jackett aus, rolle die Ärmel
hoch und erwäge, ob ich auf das Angebot mit dem Drink zurückkommen
soll.
»Mir gefällt es hier«, erklärt sie. »Die Menschen
sind ungekünstelt und nehmen kein Blatt vor den Mund.«
Ich werfe einen Blick in meinen Aktenkoffer und
stelle fest, dass ich weder Stift noch Papier dabei habe. Meine
Mitarbeiter notieren normalerweise alles für mich, und im Gericht
hält ein Protokollant jedes Wort fest. Aber Notizblöcke und
Tonbandgeräte lähmen ohnehin die Gesprächsbereitschaft. Also lege
ich stattdessen meine Arme auf die Rückenpolster, lehne meinen Kopf
gegen die Reling und schließe die Augen. Hier draußen könnte ich
sofort einschlafen. Stundenlang könnte ich schlafen.
»Wenn man Geld hat«, sagt sie, »muss man sich über
nichts groß Gedanken machen. Alles erscheint verfügbar. Nichts
liegt außer Reichweite. Also fordert man immer mehr und mehr und
hofft, damit irgendwann an eine Grenze zu stoßen. Aber es gibt
keine – und so geht man weiter und weiter -, bis einem irgendwann
alles über den Kopf wächst.«
»Und Ihnen ist es über den Kopf gewachsen«, sage
ich. Eine Welle bringt das Boot leicht zum Schwanken.
»Richtig. Ich habe getrunken, Drogen genommen und
völlig wahllos Sex gehabt.«
Höflich lausche ich der Lebensbeichte eines reichen
Mädchens, das von Party zu Party jettete, kreuz und quer durch
Europa, und im Grunde doch nur einsam war und geliebt sein
wollte.
»Was ist mit Cassie?«, frage ich schließlich und
überlege kurz, ob es richtig war, sie zu unterbrechen.
»Cassie.« Gwendolin lässt sich in die Polster
zurücksinken und starrt auf die Mineralwasserflasche in ihrer Hand.
»Cassie hatte ein großes Herz. Sie war ein großzügiger Mensch. Aber
sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte.
Sie wusste nicht, ob sie bei allen beliebt sein wollte oder ehrlich
und aufrecht, oder was auch immer.« Gwendolyn beißt sich auf die
Unterlippe, und ihr Gesicht wird dunkelrot. »Sie hatte
Todesangst.«
»Ich versuche rauszufinden, was damals in Cassies
Leben vor sich ging, Gwendolyn. Dazu brauche ich Ihre Hilfe.«
Sie schüttelt langsam den Kopf. »Eigentlich dachte
ich, Sie kennen sich mit Cassies Leben besser aus als jeder
andere.«
»Wie Sie sich erinnern werden, wurde Cassies Fall
nicht vor Gericht verhandelt. Daher haben wir nie gründlich …« Ich
halte inne, als ich Gwendolyns Ausdruck bemerke. »Sie wissen doch
sicher, dass Cassies Fall nicht zur Verhandlung kam, oder?«
Sie zuckt mit den Achseln.
Wusste sie tatsächlich nicht davon?
»Warum wurde der Mord an Cassie nicht verhandelt?
Das verstehe ich nicht.«
Ich erläutere ihr in wenigen Worten unsere
Strategie, einen Mord gewissermaßen in der Hinterhand zu behalten,
falls Burgos’ Verteidigung erfolgreich war, und wir ihn ein zweites
Mal vor Gericht bringen mussten. Die juristischen Details scheinen
sie allerdings herzlich wenig zu interessieren, und mir ist immer
noch unbegreiflich, wie wenig sie damals von der ganzen Sache
mitbekommen hat.
»Wo waren Sie, während all das geschah?«, frage
ich. »Wir haben versucht, Sie zu erreichen.«
Erneutes Achselzucken. »Davon habe ich nichts
gemerkt.« »Wo waren Sie?«
»Ich könnte so ziemlich überall gewesen sein. Zu
der Zeit war es mir ziemlich gleichgültig, wo ich mich herumtrieb.
Für mich sah alles gleich aus.«
Ich seufze. Es ist, als versuchte man,
Sonnenstrahlen mit den Händen zu greifen. Am liebsten würde ich
diese Frau auf die Couch eines Psychiaters zerren und anschließend
in den Zeugenstand. Aber ich habe keinerlei Handhabe. Sie könnte
mir den Vogel zeigen. Oder sie könne mich vom Boot stoßen, und ich
würde ertrinken.
»Vielleicht an der Riviera«, sagt sie. »Oder in der
Karibik.«
»Anders herum gefragt – vor Cassies Mord, wann
waren Sie da das letzte Mal in der Stadt?«
Sie hebt ratlos die Hände. »Vielleicht einen Monat
vorher. Aber wenn Sie sagen würden, es waren drei Monate, würde ich
Ihnen sofort glauben. Und falls Sie sagen, es waren drei Tage,
würde ich Ihnen das ebenfalls glauben.«
»Drei Tage?« Die Skepsis in meiner Stimme ist nicht
zu überhören. »Haben Sie denn überhaupt kein Gefühl dafür, wie viel
Zeit zwischen Ihrer letzten Begegnung mit Cassie und der Nachricht
von ihrem Tod vergangen ist?«
»Oh, das ist eine ganz andere Frage.« Sie schiebt
sich eine Locke aus der Stirn, die ihr der Wind sofort wieder vor
die Augen bläst. »Davon habe ich erst viel später erfahren. Monate
später. Sie werden das vielleicht nicht verstehen«, fügt sie
angesichts meiner Miene hinzu. »Meine Mutter war tot. Ich hatte nie
einen Vater. Vermutlich hat Tante Natalia versucht, mich zu
erreichen, aber sie wusste nie, wo ich steckte. Auf Briefe habe ich
nicht geantwortet. Und damals gab es noch keine Handys, Mr. Riley.
Außerdem habe ich nie eine Nachsendeadresse hinterlassen.«
Ich versuche, das Ganze aus ihrer Perspektive zu
sehen. Womöglich ist mein erstes Urteil über sie tatsächlich etwas
hart ausgefallen. Ihre Mutter starb bei einem Autounfall unter
Alkoholeinfluss, und offensichtlich wusste Gwendolyn nicht, wer ihr
Vater war. Ich nehme an, alles Geld der Welt kann so was nicht
wiedergutmachen.
»Hört sich nach einer sehr einsamen Kindheit an«,
sagt Shelly.
Gwendolyn lächelt sie an. Dann wendet sie sich
wieder mir zu. »Stellen Sie Ihre Fragen, Mr. Riley.«
»War Cassie lesbisch?«
»Nicht dass ich wüsste.« Sie lächelt ein wenig
vorwurfsvoll. »Man muss nur auf eine reine Mädchen-Uni gehen, und
schon denkt jeder, man wäre lesbisch.«
Okay, berechtigter Einwand. Erst kurz vor Cassies
Tod hatte man angefangen, in Mansbury auch männliche Studenten
aufzunehmen.
»Glauben Sie, Sie hätten etwas davon mitgekriegt,
wenn es so gewesen wäre?«
Das scheint sie zu amüsieren. »Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.«
»Hatte Cassie damals eine Beziehung?«
»Meines Wissens nach nicht«, erwidert sie. »Aber
das will nichts heißen. Ich kann mich nur nicht daran erinnern,
dass Cassie groß mit Jungs ausgegangen wäre. Was das betraf, war
sie ausgesprochen gehemmt. Das war das Merkwürdige an ihr. Sie
konnte ziemlich kontaktfreudig sein – sich die ganze Nacht
rumtreiben, auf Partys gehen -, trotzdem hatte sie meines Wissens
nach nie was mit einem Mann.«
Der Songtext fällt mir ein – die Stelle aus dem
Deuteronomium, in der es um die Steinigung einer Frau mit häufig
wechselnden Partnern ging.
»Könnte sie noch Jungfrau gewesen sein?«, frage
ich.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Dann wissen Sie vermutlich auch nicht, ob sie
schwanger war?«
»Schwanger?« Sie weicht zurück. »Wie kommen Sie
denn darauf?«
Es gibt keinen Grund, es ihr zu verschweigen.
Verdammt, schließlich habe ich deswegen den ganzen Weg hier heraus
gemacht. »Unter den kürzlich Ermordeten war auch eine Journalistin.
Sie hat diese Frage in Zusammenhang mit Cassie aufgebracht.«
Sie nickt langsam, dann schüttelt sie den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Ehrlich gesagt, bin ich mir gar
nicht sicher, ob Cassie mir so was anvertraut hätte.«
Na wunderbar. Der Ausflug erweist sich immer mehr
als reine Zeitverschwendung.
»Was können Sie mir über Brandon Mitchum erzählen?«
Er war Student im ersten Semester in Mansbury und war häufig mit
Cassie und Ellie zusammen. Lightner hatte mich daran
erinnert.
Ihr Gesicht hellt sich auf. Der Name sagt ihr was.
»Brandon Mitchum«, sagt sie erfreut. »Wie geht es Brandon?«
»Sie kennen ihn?«
»Klar doch.« Sie nickt, mit einem stillen Lächeln
auf den Lippen. »Natürlich habe ich Brandon gekannt. Gott.« Einen
Augenblick lang hängt sie alten Erinnerungen nach. »Er war ein
netter Kerl. Oh …«, sie runzelt die Stirn, »… das muss ihn hart
getroffen haben. Cassie und Ellie.«
»Erzählen Sie mir ein bisschen was über
Ellie.«
»Ellie.« Sie zieht ein Gesicht. »Also, Ellie war
mehr wie ich. Eine Partygängerin. Und sie hatte Angst vor ihm.« Sie
hebt den Zeigefinger. »Sie hatte eine Heidenangst vor ihm.«
»Vor Brandon?«
»Nein, doch nicht vor Brandon.«
Ich betrachte sie mit versteinerter Miene.
»Sie meinen Terry Burgos«, wirft Shelly ein.
»Sie hat befürchtet, er würde ihr was antun«, fährt
Gwendolyn fort. »Sie war der Überzeugung, eine Schutzanordnung
könnte so einen kranken Typen nicht aufhalten.« Sie nickt
bekräftigend. »Nein, sie hatte wirklich Panik wegen diesem
Kerl.«
Eine milde Brise bringt etwas Abkühlung. Eine
absolut merkwürdige Situation. Ich vernehme eine Zeugin auf einem
Boot. Heimvorteil, nehme ich an – für Gwendolyn.
»Kannten Sie Burgos?«, frage ich.
Sie zieht die Stirn kraus und schüttelt dann den
Kopf. »Gott, nein. Aber Ellie hat oft über ihn gesprochen. Sie hat
sich wirklich schrecklich vor ihm gegruselt.«
»Was wissen Sie sonst noch über Brandon?«
»Also, wie schon gesagt, er war ein netter
Kerl.«
»Und ein gut aussehender noch dazu, soweit ich mich
erinnere«, sage ich. »Lief irgendwas zwischen ihm und Ellie?«
Sie breitet die Hände aus. »Ich glaube, eher nicht,
aber so genau kann ich das nicht sagen. Ich hing zwar immer mit
ihnen ab, wenn ich in die Stadt kam, aber allzu oft kam ich nun mal
nicht in die Stadt. Die meiste Zeit war ich in Europa unterwegs
oder in L.A. – oder weiß Gott wo.«
Ich schweige kurz und gehe innerlich meine Liste
mit Fragen durch. »Cassie und Ellie waren mit einem ihrer Lehrer
befreundet. Der Kerl, der auch Terry Burgos in seinen Kurs holte.
Ein gewisser Professor Albany.«
Unsicher neigt sie den Kopf. »Ein Professor, sagen
Sie?«
»Genau. Klingelt da was bei Ihnen?«
Sie blickt in die Ferne. »Ich weiß nicht –
vielleicht.«
Vielleicht. Vielleicht ist dieser ganze Ausflug ein
verdammter Schlag ins Wasser.
»Wie sieht’s mit Drogen aus, Gwendolyn?«, frage
ich. »Cassie. Oder Ellie. Haben die welche genommen?«
Sie senkt den Blick. Sie nickt kaum merklich.
»Kokain?«, frage ich. »Marihuana?«
»Koks.« Sie zieht die Stirn kraus. »Oder
wahrscheinlich beides. Studentenzeit eben.«
»Waren Sie je dabei? Haben Sie sie mal dabei
beobachtet?«
Sie beißt sich auf die Lippen. »Ich glaube, wir
haben sogar gemeinsam Drogen genommen.«
»Sie glauben.«
Ihre Augen blitzen mich wütend an. Sie mag diese
bohrenden Fragen nicht. »Haben Sie nie in Ihrem Leben versucht,
etwas zu vergessen? Haben Sie nie Erinnerungen so lange beiseite
geschoben, bis sie irgendwann nicht mehr existent für Sie waren?
Sie in eine geheime Kammer Ihres Hirns gestopft, die Tür
verschlossen und den Schlüssel weggeworfen?«
Ich breite versöhnlich die Hände aus. »Gwendolyn
…«
»Ja«, zischt sie. »Ich bin mir sicher, dass ich
zusammen mit ihnen was geschnupft habe.«
»Mit ihnen heißt -«
»Cassie und Ellie – und gelegentlich Brandon, und
manchmal Frank, und manchmal irgendwelche anderen Leute. Wer eben
den verdammten Stoff mit zur Party gebracht hat. Okay?«
Sie erhebt sich, aber selbst diese plötzliche
Bewegung bringt das schwere Boot kein bisschen ins Schwanken. Sie
beschirmt ihr rotes Gesicht mit der Hand.
»Ich hatte auch eine harte Kindheit«, sagt Shelly.
»Ich weiß, was Sie meinen. Man blättert nicht einfach locker um zum
nächsten Kapitel. Man schlägt das ganze Buch zu und schmeißt es
weg.«
Gwendolyn lässt sich einen Moment Zeit, dann nickt
sie. »Genau.«
»Es war nicht unsere Absicht, Sie zu belästigen«,
fügt Shelly hinzu. »Aber wir haben keine andere Wahl. Menschen
werden ermordet.«
»Also …« Gwendolyn hebt die Hand, als wollte sie
uns um Ruhe bitten, während sie hinaus über den See blickt. »Das
tut mir aufrichtig leid. Wirklich. Aber das alles hat nichts mit
mir zu tun.« Sie stellt sich hinter das Steuerrad und bedient ein
paar Hebel. »Ich fahre jetzt zurück zu meinem Restaurant«, sagt
sie. »Zurück in mein jetziges Leben.«
Gwendolyn beschleunigt den Ponton in Richtung Ufer.
Sie manövriert das Boot in den Bootsschuppen und schaltet den Motor
aus. Dann dreht sie die schwere Kurbel, diesmal in die andere
Richtung, um den Ponton wieder an Land zu ziehen.
Höflich gibt sie uns beiden zum Abschied die Hand
und schenkt mir ein überraschend sanftes Lächeln. Offensichtlich
bereut sie ihren Ausbruch bereits. Aber man hat mich schon
schlechter behandelt.
Shelly und ich schlendern schweigend zum Wagen
zurück. Ich lasse den Motor an und fahre ein Stück, bis wir außer
Sichtweite sind, dann erst frage ich sie nach ihrer Meinung.
»Sie hat Angst«, sagt Shelly.
Das mag sein. Behutsam formuliert, ist sie
unaufrichtig gewesen. Erst behauptet sie, Professor Albany nicht zu
kennen, nur um ihn dann im Lauf des Gesprächs Frank zu
nennen.
»Ich glaube, sie ist ein guter Mensch«, fügt Shelly
hinzu. »Aber sie war sich unsicher, was sie dir verraten darf und
was nicht.«
»Und vermutlich sollte ich genau daraus meine
Schlüsse ziehen. Aber welche? Deckt sie irgendjemanden?«
»Du wirst es noch früh genug herausfinden.« Shelly
kurbelt das Fenster herunter und legt das Gesicht in den Wind. »Sie
wird sich bei dir melden, sobald sie so weit ist.«
»Ach wirklich?«
»Vertrau einer Frau.« Spielerisch tätschelt sie
meine Hand.
Schweigend fahren wir weiter, bis wir den
Interstate erreichen. Ich setze großes Vertrauen in Shellys
Menschenkenntnis, und vermutlich hat sie auch diesmal recht.
Gwendolyn wirkt wie ein aufrichtiger Mensch, der nur ungern Fragen
ausweicht, es sei denn, er sieht sich dazu gezwungen. Ich wünschte
nur, ich wüsste, was sie am Sprechen hindert.
Ich spüre Shellys Blick auf mir ruhen und sehe zu
ihr hinüber.
»Irgendwas Merkwürdiges muss sich damals in Cassies
Leben abgespielt haben«, sagt sie. »Glaubst du nicht auch?«
Ich erwidere nichts. Stattdessen gehe ich die in
meinem Handy gespeicherten Rufnummern durch. Als U.S.-Staatsanwalt
arbeitete ich oft mit einem gewissen Pete Storino vom Dezernat für
Alkohol, Tabak und Schusswaffen zusammen. Später ging er dann zum
Zoll, und inzwischen ist er ein hohes Tier bei der Zoll- und
Immigrationsbehörde am Flughafen.
Ich erreiche ihn auf seinem Handy, und die nächsten
zehn Minuten verbringen wir mit dem Austausch von
Belanglosigkeiten. Als unser kleiner Smalltalk endlich vorbei ist,
komme ich zum Punkt.
»Du musst mir einen Gefallen tun, Pete«, bitte ich
ihn. »Der Name des Fluggasts ist Gwendolyn Lake.«