29. Kapitel
McDermott genügt ein kurzer Blick auf die Hochglanzfotos vom Opfer. Die Details kennt er bereits – die Wunde an der rechten Schläfe, das zertrümmerte Schädeldach -, ein Hagel von Schlägen muss auf die Frau niedergegangen sein. Wer auch immer der Täter war, er hat sich ohne Mitleid und ohne Hemmungen ausgetobt.
Mehr braucht er nicht zu sehen, mehr will er auch nicht sehen.
Stoletti angelt sich die Fotos von seinem Schreibtisch und blättert sie durch. Sie ist inzwischen lange genug seine Partnerin; sie weiß, dass er ein Problem mit weiblichen Mordopfern hat. Und sie ist clever genug, zu verstehen, wo das herrührt, auch wenn sie nie darüber gesprochen haben.
Es ist kein bisschen leichter geworden. Er dachte, er bräuchte nur etwas Zeit nach Joyces Tod, um irgendwann wieder problemlos einer Leiche gegenübertreten zu können. Aber inzwischen sind vier verdammte Jahre vergangen, und noch immer zieht sich ihm alles zusammen – bei Frauen besonders. Bei Mordopfern beträgt das Verhältnis Frauen zu Männern üblicherweise vierzig zu sechzig. Das sind eine Menge Tatorte, die man lieber nicht besichtigen möchte; ein Haufen Fotos, deren Anblick man sich lieber ersparen würde.
Nachts kann er die Bilder verdrängen. Auch bei hellem Tageslicht oder in der Hektik eines arbeitsreichen Tages gelingt es ihm, sie beiseite zu schieben. Aber irgendwas an den Tatorten selbst, der Geruch, die unabweisbare Präsenz des Todes, ruft ihm alles wieder nur allzu deutlich in Erinnerung: das leere Starren ihrer Augen, die verrenkte Haltung – ihre Beine in Totenstarre überkreuzt, ihr Körper ausgestreckt auf der rechten Seite liegend, wie eine umgestürzte Statue – und dann die Blutlache, die sich bis zur Badewanne erstreckte, in der die kleine Gracie hockte, die Augen fest geschlossen, die Händchen auf die Ohren gepresst, sanft mit dem Oberkörper schaukelnd.
Er betrachtet irgendwelche Opfer, so wie die Frau hier auf den Hochglanzfotos, und malt sich die Reaktion der nächsten Angehörigen aus, die seiner eigenen ähneln muss: Nichts, absolut nichts kann schrecklicher sein.
Manchmal weist er jegliche Schuld von sich. Es gibt tatsächlich Zeiten, da packt ihn die Wut auf Joyce, und er wirft seiner Frau einen Mangel an Verantwortungsgefühl und Selbstkontrolle vor; aber im Grunde seines Herzens weiß er sehr genau, dass sie beides schon lange nicht mehr besaß.
Meistens treffen seine Vorwürfe jedoch den Richtigen. Viel früher schon hätte er die negative Entwicklung in ihrer Psyche erkennen müssen. Er hätte auf einer intensiveren Behandlung und Betreuung bestehen müssen.
Und was die Nacht vor ihrem Tod und den nächsten Morgen betraf – das konnte er definitiv niemand anders als sich selbst zuschreiben.
Komisch, dass er in der ganzen Zeit nie daran gedacht hat, seinen Job an den Nagel zu hängen. Es gäbe eine Menge guter Gründe dafür. Ein Detective der Mordkommission, der den Anblick von Tatorten nicht verkraftet, ist wie ein Artist mit Höhenangst. Aber er ist nun mal der Sohn und der Enkel eines Cops. Von diesem Job hat er immer geträumt. Für ihn hat es nie was anderes gegeben. Und er erledigt seinen Job nach wie vor zuverlässig. Da ist er sich sicher. Er ist immer noch ein guter Cop.
Genau, ein guter Polizist, aufgeschlossen und mit viel Intuition, der dummerweise nicht mitbekam, wie seine eigene Frau langsam den Verstand verlor.
»Diese ganze Geschichte«, sagt Stoletti, »ergibt einfach keinen Sinn.«
McDermott schreckt aus seinen Gedanken auf. »Was?« »Ich kann mir einfach keinen Reim drauf machen, Mike. Es ist zu merkwürdig.«
Er holt tief Luft und lässt sich in einen Stuhl fallen. Okay. Fallbesprechung. Vertrautes Terrain.
»Wie lief das Gespräch mit Albany?«, fragt McDermott.
»Gut. Erstaunlich gut«, gibt sie zu. »Riley ist es besser als mir gelungen, den Professor zum Reden zu bringen. Es ist sein Verdienst, dass Albany mit der Geschichte über die Schwangerschaft und die Abtreibung rausrückte.«
McDermott überlegt kurz. »Ich schätze, die neuen Informationen verändern deine Sichtweise ein wenig.«
Detective Koessl kommt in den Konferenzraum und schlägt seinen Notizblock auf. »Mike, wir haben acht Händler, die Trim-Meter-Kettensägen verkaufen. Zwei davon hier in der Stadt, sechs in der Umgebung.«
»Nur acht?«
»Trim-Meter hat schon vor zehn Jahre die Produktion von Kettensägen eingestellt. Nur ein paar Läden verkaufen noch gebrauchte Modelle. In den letzten drei Monaten ist allerdings keine einzige über den Ladentisch gegangen.«
»Okay, Tom.« McDermott seufzt. »Und alle Läden haben Anweisung, uns zu verständigen, falls jemand eine kaufen will?«
»Versteht sich.«
Nachdem der Detective verschwunden ist, nehmen sie den Faden wieder auf.
»Lass also in Zukunft deine persönlichen Gefühle aus dem Spiel«, sagt er zu ihr.
Sie funkelt ihn an. Das hat sie nicht verdient. Egal wie sie über Riley denken mag, Stoletti hat McDermott immer als fähige und verlässliche Polizistin zur Seite gestanden. Er arbeitet zum ersten Mal mit einer Frau zusammen, und obwohl ihn diese Aussicht anfänglich wenig begeistert hat, schätzt er sie inzwischen als seinen bisher besten Partner. Vielleicht hängt es mit dem Mangel an überschüssigem Testosteron zusammen oder mit dem weniger aufgeblasenen Ego, jedenfalls bewahrt sie immer einen kühlen Kopf. Und auf ihren Instinkt kann er sich verlassen wie auf seinen eigenen.
»Die Frage ist«, sagt sie, »ob diese neue Geschichte eine Einzeltat ist. Ohne jeden Zusammenhang.«
Er nickt. »Schwer vorstellbar, dass da kein Zusammenhang besteht.«
»Aber das würde bedeuten, Paul Riley ist ein Mörder«, sagt sie.
Ein weiterer Detective, Bax, steckt den Kopf durch die Tür. »Chief, Neuigkeiten über Fred Ciancio. Kommen Sie mal schnell und werfen einen Blick drauf.«
Stoletti wirft McDermott einen Blick zu. »Fortsetzung folgt«, sagt sie, während sie sich erheben.
Auf dem Weg nach draußen hält McDermott sie am Arm zurück. »Im Labor müssten sie eigentlich immer noch die Blutund Spermaproben von Burgos haben, oder?«
Sie bestätigt das. Die Abteilung für Spurentechnik der Bezirksstaatsanwaltschaft drüben in der West Side verfügt über ein riesiges Archiv.
»Heute haben wir was, das die 1989 noch nicht hatten«, sagt er.
Sie starrt ihn kurz an, dann versteht sie und nickt langsam. »Du willst einen DNS-Test für Burgos und die Opfer?«
»Richtig. Und wir wollen nicht zwei Monate darauf warten, Ricki. Erzähl ihnen, was du willst. Erwähne meinetwegen den Commander. Hauptsache, die Angelegenheit hat absolute Priorität.«
 
Unten im Bootshaus betätigt Gwendolyn eine große Kurbel, die auf dem Boot befestigt ist. Ich biete ihr meine Hilfe an, aber sie lehnt dankend ab. Sie scheint diese Art von Anstrengung gewohnt zu sein. Als das Boot endlich zu Wasser gelassen ist, schaut sie mich an, als gebe sie mir eine letzte Chance, einen Rückzieher zu machen. Vermutlich hat sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Sie mögen kein Wasser?«
Auch Shelly mustert mich neugierig und verkneift sich dabei ein Lächeln. Sie weiß ziemlich genau, dass ich ein kleineres Problem mit Wasser habe. Das kleinere Problem besteht darin, dass ich nicht schwimmen kann. Meine Arme und Beine bewegen sich zwar wie vorgeschrieben, trotzdem versinke ich jedes Mal wie ein Stein. Aber nötigenfalls würde ich sogar mit dem Gleitschirm über die Anden fliegen, wenn ich dadurch Gwendolyns Zunge lockern könnte.
Sie startet den Motor, während wir ins Boot steigen. Eigentlich ist es weniger ein Boot, als vielmehr ein langes, flaches Sonnendeck, das ringsum von einer Reling aus weißem Leder umgeben und mit lederbezogenen Sitzbänken sowie einer Steuerungseinheit ausgestattet ist. Dieses Deck ruht auf etwas, das mich an zwei riesige Skier erinnert. Das Ganze wirkt wie ein gigantischer Wasserschlitten.
»Ein Ponton«, erklärt sie, während sie das Ding rückwärts aus dem Bootshäuschen manövriert. »Sie sind also der Mann, der Burgos angeklagt hat«, sagt sie. »Und jetzt sind Sie Harlands Anwalt.«
Dass sie das so direkt miteinander in Verbindung bringt, bereitet mir ein gewisses Unbehagen. Ganz ähnlich hat es auch Evelyn Pendry formuliert. »Ja, das bin ich. Es geht ihm übrigens gut«, füge ich hinzu, obwohl sie nicht danach gefragt hat.
»Daran habe ich keine Zweifel«, murmelt sie. Sie lässt den Ponton über den See schießen, was durchaus angenehm ist, da der Fahrtwind die stechende Hitze abmildert. Wir fahren hinaus auf den riesigen See, bis sie das Boot stoppt. Ich befürchte, dass nun der Wellengang stärker spürbar wird, aber offensichtlich ist einer der Vorteile eines Pontons eine stabile Wasserlage. Ringsum an den Ufern stehen Hütten und kleine Bootshäuser, Kinder hüpfen von den Stegen und spielen auf großen Wasserrutschen. Man hört die Rufe von Wasserskifahrern und Windsurfern und das Brummen von Motorbooten von weither über den See hallen.
Gwendolyns Reaktion bestätigt so ziemlich Harlands Bild von ihr. Als wir im Fall Burgos ermittelten, fiel ein- oder zweimal Gwendolyns Name, weil so wenig andere Menschen Näheres über Cassie wussten. Nach allem, was wir über sie erfuhren, schien Gwendolyn das krasse Gegenteil von Cassie – Gwen war das verwöhnte, zickige Partygirl, Cassie unschuldig und scheu. Allerdings bin ich ihr nie persönlich begegnet, da sie sich immer außer Landes aufhielt.
Ungeachtet dessen kann ich bisher nichts Bösartiges oder Verdorbenes an dieser Frau wahrnehmen. Die Zeit hat offenbar Wunder gewirkt.
»Sie besitzen ein Lokal?«, frage ich.
Sie lächelt sanft. »Viele kleinere Läden und Lokale hier in der Gegend müssen schließen. Es liegt mir sehr am Herzen, dass es einen Ort gibt, wo sich die Leute aus der Umgebung treffen können.« Sie nickt und hängt einen Moment lang ihren Gedanken nach.
Ich beschließe, es langsam anzugehen. Gwendolyns Gesicht nimmt einen friedlichen Ausdruck an, während die Sonne ihr das Gesicht wärmt. Das hier ist ganz offensichtlich ihr persönlicher Zufluchtsort.
Sie bietet mir einen Drink aus der Kühlbox an, den ich dankend ablehne. Dann lässt sie sich mir gegenüber auf der Sitzbank nieder. Shelly sitzt neben mir und schweigt. Sie rollt sich die Ärmel und Hosenbeine hoch und schließt die Augen vor der Sonne. Sie macht es genau richtig. Es soll eine entspannte Unterhaltung werden, und eine Situation zwei-gegen-einen macht Menschen immer leicht nervös. Also wird sie einfach nur zuhören.
Die Brise weht den Duft von Gwendolyns Kokosnuss-Sonnenmilch zu mir herüber. Sie hat einen hellen russischen Teint und macht offensichtlich häufig von der Lotion Gebrauch, denn ihre Haut ist dunkelrosa.
Ohne den geringsten Schatten steigt die Temperatur fast ins Unerträgliche. Ich ziehe mein Jackett aus, rolle die Ärmel hoch und erwäge, ob ich auf das Angebot mit dem Drink zurückkommen soll.
»Mir gefällt es hier«, erklärt sie. »Die Menschen sind ungekünstelt und nehmen kein Blatt vor den Mund.«
Ich werfe einen Blick in meinen Aktenkoffer und stelle fest, dass ich weder Stift noch Papier dabei habe. Meine Mitarbeiter notieren normalerweise alles für mich, und im Gericht hält ein Protokollant jedes Wort fest. Aber Notizblöcke und Tonbandgeräte lähmen ohnehin die Gesprächsbereitschaft. Also lege ich stattdessen meine Arme auf die Rückenpolster, lehne meinen Kopf gegen die Reling und schließe die Augen. Hier draußen könnte ich sofort einschlafen. Stundenlang könnte ich schlafen.
»Wenn man Geld hat«, sagt sie, »muss man sich über nichts groß Gedanken machen. Alles erscheint verfügbar. Nichts liegt außer Reichweite. Also fordert man immer mehr und mehr und hofft, damit irgendwann an eine Grenze zu stoßen. Aber es gibt keine – und so geht man weiter und weiter -, bis einem irgendwann alles über den Kopf wächst.«
»Und Ihnen ist es über den Kopf gewachsen«, sage ich. Eine Welle bringt das Boot leicht zum Schwanken.
»Richtig. Ich habe getrunken, Drogen genommen und völlig wahllos Sex gehabt.«
Höflich lausche ich der Lebensbeichte eines reichen Mädchens, das von Party zu Party jettete, kreuz und quer durch Europa, und im Grunde doch nur einsam war und geliebt sein wollte.
»Was ist mit Cassie?«, frage ich schließlich und überlege kurz, ob es richtig war, sie zu unterbrechen.
»Cassie.« Gwendolin lässt sich in die Polster zurücksinken und starrt auf die Mineralwasserflasche in ihrer Hand. »Cassie hatte ein großes Herz. Sie war ein großzügiger Mensch. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte. Sie wusste nicht, ob sie bei allen beliebt sein wollte oder ehrlich und aufrecht, oder was auch immer.« Gwendolyn beißt sich auf die Unterlippe, und ihr Gesicht wird dunkelrot. »Sie hatte Todesangst.«
»Ich versuche rauszufinden, was damals in Cassies Leben vor sich ging, Gwendolyn. Dazu brauche ich Ihre Hilfe.«
Sie schüttelt langsam den Kopf. »Eigentlich dachte ich, Sie kennen sich mit Cassies Leben besser aus als jeder andere.«
»Wie Sie sich erinnern werden, wurde Cassies Fall nicht vor Gericht verhandelt. Daher haben wir nie gründlich …« Ich halte inne, als ich Gwendolyns Ausdruck bemerke. »Sie wissen doch sicher, dass Cassies Fall nicht zur Verhandlung kam, oder?«
Sie zuckt mit den Achseln.
Wusste sie tatsächlich nicht davon?
»Warum wurde der Mord an Cassie nicht verhandelt? Das verstehe ich nicht.«
Ich erläutere ihr in wenigen Worten unsere Strategie, einen Mord gewissermaßen in der Hinterhand zu behalten, falls Burgos’ Verteidigung erfolgreich war, und wir ihn ein zweites Mal vor Gericht bringen mussten. Die juristischen Details scheinen sie allerdings herzlich wenig zu interessieren, und mir ist immer noch unbegreiflich, wie wenig sie damals von der ganzen Sache mitbekommen hat.
»Wo waren Sie, während all das geschah?«, frage ich. »Wir haben versucht, Sie zu erreichen.«
Erneutes Achselzucken. »Davon habe ich nichts gemerkt.« »Wo waren Sie?«
»Ich könnte so ziemlich überall gewesen sein. Zu der Zeit war es mir ziemlich gleichgültig, wo ich mich herumtrieb. Für mich sah alles gleich aus.«
Ich seufze. Es ist, als versuchte man, Sonnenstrahlen mit den Händen zu greifen. Am liebsten würde ich diese Frau auf die Couch eines Psychiaters zerren und anschließend in den Zeugenstand. Aber ich habe keinerlei Handhabe. Sie könnte mir den Vogel zeigen. Oder sie könne mich vom Boot stoßen, und ich würde ertrinken.
»Vielleicht an der Riviera«, sagt sie. »Oder in der Karibik.«
»Anders herum gefragt – vor Cassies Mord, wann waren Sie da das letzte Mal in der Stadt?«
Sie hebt ratlos die Hände. »Vielleicht einen Monat vorher. Aber wenn Sie sagen würden, es waren drei Monate, würde ich Ihnen sofort glauben. Und falls Sie sagen, es waren drei Tage, würde ich Ihnen das ebenfalls glauben.«
»Drei Tage?« Die Skepsis in meiner Stimme ist nicht zu überhören. »Haben Sie denn überhaupt kein Gefühl dafür, wie viel Zeit zwischen Ihrer letzten Begegnung mit Cassie und der Nachricht von ihrem Tod vergangen ist?«
»Oh, das ist eine ganz andere Frage.« Sie schiebt sich eine Locke aus der Stirn, die ihr der Wind sofort wieder vor die Augen bläst. »Davon habe ich erst viel später erfahren. Monate später. Sie werden das vielleicht nicht verstehen«, fügt sie angesichts meiner Miene hinzu. »Meine Mutter war tot. Ich hatte nie einen Vater. Vermutlich hat Tante Natalia versucht, mich zu erreichen, aber sie wusste nie, wo ich steckte. Auf Briefe habe ich nicht geantwortet. Und damals gab es noch keine Handys, Mr. Riley. Außerdem habe ich nie eine Nachsendeadresse hinterlassen.«
Ich versuche, das Ganze aus ihrer Perspektive zu sehen. Womöglich ist mein erstes Urteil über sie tatsächlich etwas hart ausgefallen. Ihre Mutter starb bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluss, und offensichtlich wusste Gwendolyn nicht, wer ihr Vater war. Ich nehme an, alles Geld der Welt kann so was nicht wiedergutmachen.
»Hört sich nach einer sehr einsamen Kindheit an«, sagt Shelly.
Gwendolyn lächelt sie an. Dann wendet sie sich wieder mir zu. »Stellen Sie Ihre Fragen, Mr. Riley.«
»War Cassie lesbisch?«
»Nicht dass ich wüsste.« Sie lächelt ein wenig vorwurfsvoll. »Man muss nur auf eine reine Mädchen-Uni gehen, und schon denkt jeder, man wäre lesbisch.«
Okay, berechtigter Einwand. Erst kurz vor Cassies Tod hatte man angefangen, in Mansbury auch männliche Studenten aufzunehmen.
»Glauben Sie, Sie hätten etwas davon mitgekriegt, wenn es so gewesen wäre?«
Das scheint sie zu amüsieren. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Hatte Cassie damals eine Beziehung?«
»Meines Wissens nach nicht«, erwidert sie. »Aber das will nichts heißen. Ich kann mich nur nicht daran erinnern, dass Cassie groß mit Jungs ausgegangen wäre. Was das betraf, war sie ausgesprochen gehemmt. Das war das Merkwürdige an ihr. Sie konnte ziemlich kontaktfreudig sein – sich die ganze Nacht rumtreiben, auf Partys gehen -, trotzdem hatte sie meines Wissens nach nie was mit einem Mann.«
Der Songtext fällt mir ein – die Stelle aus dem Deuteronomium, in der es um die Steinigung einer Frau mit häufig wechselnden Partnern ging.
»Könnte sie noch Jungfrau gewesen sein?«, frage ich.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Dann wissen Sie vermutlich auch nicht, ob sie schwanger war?«
»Schwanger?« Sie weicht zurück. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Es gibt keinen Grund, es ihr zu verschweigen. Verdammt, schließlich habe ich deswegen den ganzen Weg hier heraus gemacht. »Unter den kürzlich Ermordeten war auch eine Journalistin. Sie hat diese Frage in Zusammenhang mit Cassie aufgebracht.«
Sie nickt langsam, dann schüttelt sie den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob Cassie mir so was anvertraut hätte.«
Na wunderbar. Der Ausflug erweist sich immer mehr als reine Zeitverschwendung.
»Was können Sie mir über Brandon Mitchum erzählen?« Er war Student im ersten Semester in Mansbury und war häufig mit Cassie und Ellie zusammen. Lightner hatte mich daran erinnert.
Ihr Gesicht hellt sich auf. Der Name sagt ihr was. »Brandon Mitchum«, sagt sie erfreut. »Wie geht es Brandon?«
»Sie kennen ihn?«
»Klar doch.« Sie nickt, mit einem stillen Lächeln auf den Lippen. »Natürlich habe ich Brandon gekannt. Gott.« Einen Augenblick lang hängt sie alten Erinnerungen nach. »Er war ein netter Kerl. Oh …«, sie runzelt die Stirn, »… das muss ihn hart getroffen haben. Cassie und Ellie.«
»Erzählen Sie mir ein bisschen was über Ellie.«
»Ellie.« Sie zieht ein Gesicht. »Also, Ellie war mehr wie ich. Eine Partygängerin. Und sie hatte Angst vor ihm.« Sie hebt den Zeigefinger. »Sie hatte eine Heidenangst vor ihm.«
»Vor Brandon?«
»Nein, doch nicht vor Brandon.«
Ich betrachte sie mit versteinerter Miene.
»Sie meinen Terry Burgos«, wirft Shelly ein.
»Sie hat befürchtet, er würde ihr was antun«, fährt Gwendolyn fort. »Sie war der Überzeugung, eine Schutzanordnung könnte so einen kranken Typen nicht aufhalten.« Sie nickt bekräftigend. »Nein, sie hatte wirklich Panik wegen diesem Kerl.«
Eine milde Brise bringt etwas Abkühlung. Eine absolut merkwürdige Situation. Ich vernehme eine Zeugin auf einem Boot. Heimvorteil, nehme ich an – für Gwendolyn.
»Kannten Sie Burgos?«, frage ich.
Sie zieht die Stirn kraus und schüttelt dann den Kopf. »Gott, nein. Aber Ellie hat oft über ihn gesprochen. Sie hat sich wirklich schrecklich vor ihm gegruselt.«
»Was wissen Sie sonst noch über Brandon?«
»Also, wie schon gesagt, er war ein netter Kerl.«
»Und ein gut aussehender noch dazu, soweit ich mich erinnere«, sage ich. »Lief irgendwas zwischen ihm und Ellie?«
Sie breitet die Hände aus. »Ich glaube, eher nicht, aber so genau kann ich das nicht sagen. Ich hing zwar immer mit ihnen ab, wenn ich in die Stadt kam, aber allzu oft kam ich nun mal nicht in die Stadt. Die meiste Zeit war ich in Europa unterwegs oder in L.A. – oder weiß Gott wo.«
Ich schweige kurz und gehe innerlich meine Liste mit Fragen durch. »Cassie und Ellie waren mit einem ihrer Lehrer befreundet. Der Kerl, der auch Terry Burgos in seinen Kurs holte. Ein gewisser Professor Albany.«
Unsicher neigt sie den Kopf. »Ein Professor, sagen Sie?«
»Genau. Klingelt da was bei Ihnen?«
Sie blickt in die Ferne. »Ich weiß nicht – vielleicht.«
Vielleicht. Vielleicht ist dieser ganze Ausflug ein verdammter Schlag ins Wasser.
»Wie sieht’s mit Drogen aus, Gwendolyn?«, frage ich. »Cassie. Oder Ellie. Haben die welche genommen?«
Sie senkt den Blick. Sie nickt kaum merklich.
»Kokain?«, frage ich. »Marihuana?«
»Koks.« Sie zieht die Stirn kraus. »Oder wahrscheinlich beides. Studentenzeit eben.«
»Waren Sie je dabei? Haben Sie sie mal dabei beobachtet?«
Sie beißt sich auf die Lippen. »Ich glaube, wir haben sogar gemeinsam Drogen genommen.«
»Sie glauben.«
Ihre Augen blitzen mich wütend an. Sie mag diese bohrenden Fragen nicht. »Haben Sie nie in Ihrem Leben versucht, etwas zu vergessen? Haben Sie nie Erinnerungen so lange beiseite geschoben, bis sie irgendwann nicht mehr existent für Sie waren? Sie in eine geheime Kammer Ihres Hirns gestopft, die Tür verschlossen und den Schlüssel weggeworfen?«
Ich breite versöhnlich die Hände aus. »Gwendolyn …«
»Ja«, zischt sie. »Ich bin mir sicher, dass ich zusammen mit ihnen was geschnupft habe.«
»Mit ihnen heißt -«
»Cassie und Ellie – und gelegentlich Brandon, und manchmal Frank, und manchmal irgendwelche anderen Leute. Wer eben den verdammten Stoff mit zur Party gebracht hat. Okay?«
Sie erhebt sich, aber selbst diese plötzliche Bewegung bringt das schwere Boot kein bisschen ins Schwanken. Sie beschirmt ihr rotes Gesicht mit der Hand.
»Ich hatte auch eine harte Kindheit«, sagt Shelly. »Ich weiß, was Sie meinen. Man blättert nicht einfach locker um zum nächsten Kapitel. Man schlägt das ganze Buch zu und schmeißt es weg.«
Gwendolyn lässt sich einen Moment Zeit, dann nickt sie. »Genau.«
»Es war nicht unsere Absicht, Sie zu belästigen«, fügt Shelly hinzu. »Aber wir haben keine andere Wahl. Menschen werden ermordet.«
»Also …« Gwendolyn hebt die Hand, als wollte sie uns um Ruhe bitten, während sie hinaus über den See blickt. »Das tut mir aufrichtig leid. Wirklich. Aber das alles hat nichts mit mir zu tun.« Sie stellt sich hinter das Steuerrad und bedient ein paar Hebel. »Ich fahre jetzt zurück zu meinem Restaurant«, sagt sie. »Zurück in mein jetziges Leben.«
Gwendolyn beschleunigt den Ponton in Richtung Ufer. Sie manövriert das Boot in den Bootsschuppen und schaltet den Motor aus. Dann dreht sie die schwere Kurbel, diesmal in die andere Richtung, um den Ponton wieder an Land zu ziehen.
Höflich gibt sie uns beiden zum Abschied die Hand und schenkt mir ein überraschend sanftes Lächeln. Offensichtlich bereut sie ihren Ausbruch bereits. Aber man hat mich schon schlechter behandelt.
Shelly und ich schlendern schweigend zum Wagen zurück. Ich lasse den Motor an und fahre ein Stück, bis wir außer Sichtweite sind, dann erst frage ich sie nach ihrer Meinung.
»Sie hat Angst«, sagt Shelly.
Das mag sein. Behutsam formuliert, ist sie unaufrichtig gewesen. Erst behauptet sie, Professor Albany nicht zu kennen, nur um ihn dann im Lauf des Gesprächs Frank zu nennen.
»Ich glaube, sie ist ein guter Mensch«, fügt Shelly hinzu. »Aber sie war sich unsicher, was sie dir verraten darf und was nicht.«
»Und vermutlich sollte ich genau daraus meine Schlüsse ziehen. Aber welche? Deckt sie irgendjemanden?«
»Du wirst es noch früh genug herausfinden.« Shelly kurbelt das Fenster herunter und legt das Gesicht in den Wind. »Sie wird sich bei dir melden, sobald sie so weit ist.«
»Ach wirklich?«
»Vertrau einer Frau.« Spielerisch tätschelt sie meine Hand.
Schweigend fahren wir weiter, bis wir den Interstate erreichen. Ich setze großes Vertrauen in Shellys Menschenkenntnis, und vermutlich hat sie auch diesmal recht. Gwendolyn wirkt wie ein aufrichtiger Mensch, der nur ungern Fragen ausweicht, es sei denn, er sieht sich dazu gezwungen. Ich wünschte nur, ich wüsste, was sie am Sprechen hindert.
Ich spüre Shellys Blick auf mir ruhen und sehe zu ihr hinüber.
»Irgendwas Merkwürdiges muss sich damals in Cassies Leben abgespielt haben«, sagt sie. »Glaubst du nicht auch?«
Ich erwidere nichts. Stattdessen gehe ich die in meinem Handy gespeicherten Rufnummern durch. Als U.S.-Staatsanwalt arbeitete ich oft mit einem gewissen Pete Storino vom Dezernat für Alkohol, Tabak und Schusswaffen zusammen. Später ging er dann zum Zoll, und inzwischen ist er ein hohes Tier bei der Zoll- und Immigrationsbehörde am Flughafen.
Ich erreiche ihn auf seinem Handy, und die nächsten zehn Minuten verbringen wir mit dem Austausch von Belanglosigkeiten. Als unser kleiner Smalltalk endlich vorbei ist, komme ich zum Punkt.
»Du musst mir einen Gefallen tun, Pete«, bitte ich ihn. »Der Name des Fluggasts ist Gwendolyn Lake.«
In Gottes Namen
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