41.
Kapitel
»Ja, verdammt. Ich will, dass eine
Fahndungsmeldung an alle Reviere rausgeht. Und sorg dafür, dass
sein Bild und sein Name in sämtlichen Medien erscheinen. Presse,
Fernsehen, Radio, Internet.« McDermott hämmert auf die Austaste
seines Handys und starrt durch das Beifahrerfenster auf die
Hausnummern der protzigen Villen. Als er die gesuchte entdeckt,
steuert er auf das Stahltor zu. McDermott zeigt dem Mann an der
Pforte seine Dienstmarke. »Mrs. Bentley erwartet mich.«
»Mrs. Lake«, berichtigt ihn der Mann, nimmt
den Hörer und wählt. »Folgen Sie einfach dieser Straße,
Detective.«
Wie die meisten Häuser von Megareichen liegt auch
diese Villa irgendwo auf dem Grundstück verborgen. McDermott rollt
an Fontänen und gepflegten Gärten vorbei, bis ihn die Straße in
weitem Bogen zu einer Eingangstür des Gebäudes führt.
Niemand braucht so viel Geld. Dieses Gebäude hat
doch tatsächlich drei Haupteingangstüren.
Eine ganz in Weiß gekleidete Frau wartet mit hinter
dem Rücken verschränkten Armen unter dem Vordach zwischen zwei
reich verzierten Säulen. Sie begrüßt ihn freundlich und scheint
sich nicht sicher, wie sie mit den Akten verfahren soll, die er bei
sich trägt. »Ich behalte Sie gern bei mir, danke«, teilt er ihr
mit.
Die Eingangshalle entspricht dem, was er sich von
einem solchen Palast erwartet hat, ein langer gewundener
Treppenaufgang, Kronleuchter, antike Möbel. Seine Eskorte geleitet
ihn in einen Salon mit noch mehr antikem Zeug. In McDermotts
Familie ist seine Frau die Innenarchitektin gewesen. Alles, was er
je gefordert hat, ist eine bequeme Couch.
Dankend lehnt er eine Erfrischung ab, und die Frau
entfernt sich, nachdem sie ihn auf irgendeinem unbequemen Möbel hat
Platz nehmen lassen, mit Blick auf ein kleines Piano. Sie hatten
immer davon geträumt, dass Grace ein Instrument spielen lernt, und
dabei auch über Klavierstunden gesprochen. Er wird sich in nächster
Zeit darum kümmern und irgendwo ein gebrauchtes Klavier auftreiben
müssen.
Und Geld, um es zu bezahlen
»Detective.«
McDermott erhebt sich. Natalia Lake ist schlank und
sportlich und trägt einen ärmellosen Rollkragenpullover. Ihr graues
Haar ist streng nach hinten gebunden, ihre Haut gebräunt und
straff, auf eine künstliche Art. Ihre Augenlider jedoch sind noch
eine ganze Schattierung dunkler.
»Verzeihen Sie, dass ich noch ein wenig derangiert
bin«, sagt sie. »Bei Nachtflügen schlafe ich nicht allzu gut, und
wir sind erst vor zwei Stunden gelandet. Ich hatte kaum Zeit für
ein Bad.«
»Kein Problem«, sagt er. »Wie war der Flug?«
»Turbulent.«
»Welche Fluglinie?«
Sie blinzelt. »Fluglinie?«
»Oh.« Klar. Sie besitzt natürlich einen
Privatjet.
»Es tut mir leid, dass ich erst jetzt zur Verfügung
stehe«, sagt sie. »Ich habe meinen Aufenthalt abgekürzt.«
McDermott kratzt sich an der Nase. »Ja, ich weiß
das zu schätzen. Italien, richtig?«
Sie lässt sich auf einer Couch gegenüber McDermott
nieder. »Ich habe Freunde in der Toskana, die darauf bestehen, dass
ich jeden Sommer zumindest ein paar Wochen bei ihnen
verbringe.«
»Aber absolut.« McDermott greift in einen der
Aktenorder und zieht das Foto von Harland Bentley und dem Mann im
Hintergrund heraus, dessen Namen er inzwischen kennt.
»Mrs. Lake, kennen Sie den Mann im
Hintergrund?«
»Bitte, nennen Sie mich Nat. Oh.« Sie zuckt zurück,
Grund dafür ist offensichtlich der Anblick ihres Ehemanns. »Im
Hintergrund?« Sie setzt ihre Lesebrille auf und wirft einen zweiten
Blick darauf. »Ach … ist das Leo? Das ist eine alte Fotografie.«
Sie sieht McDermott an. »Leo – Leo Koslenko«, sagt sie.
»Wissen Sie, wo er sich zurzeit befindet, Mrs.
Lake?«
»Nein, das weiß ich nicht.« Sie schüttelt den Kopf.
»Ich bin Leo schon seit Jahren nicht mehr begegnet. Ich glaube,
nicht mehr seit – seit Cassies Tod.«
»Haben Sie mal mit ihm gesprochen?«
Sie starrt ihn an. »O nein«, flüstert sie. »Hat Leo
etwas verbrochen?«
McDermott atmet tief durch und winkt ab. »Ich
brauche bloß ein paar Hintergrundinformationen«, sagt er. »Wer ist
Leo Koslenko?«
»Damals in der Sowjetunion stand Leos Familie der
unseren sehr nahe. Leo hatte Schwierigkeiten, und seine Familie
dachte, hier, in den Staaten, wäre er besser aufgehoben.«
»Was für Schwierigkeiten?«
Sie schüttelt ratlos den Kopf. »Disziplinarischer
Art, denke ich. Ich weiß es nicht. Seine Familie hat angefragt, ob
ich ihn zu mir nehmen würde, und das tat ich.«
»Wann war das?«
Laut Koslenkos Akte war er 1986 nach Amerika
emigriert. Aber McDermott will Mrs. Lakes Antwort hören.
»Mitte der Achtziger«, erwidert sie. »Während der
Reagan-Ära.«
Er nickt. »Und er hat dann bei Ihnen gelebt?« »Ja.«
Sie schlägt die Beine übereinander. »Er hat für uns gearbeitet.
Sein Wohnquartier war übrigens hier. Das war ja ursprünglich das
Haus meiner Schwester Mia. Ich lebte auf der anderen Seite der
Stadt.«
»Wo Mr. Bentley immer noch wohnt.«
Sie lächelt schwach. »Wir sind beide zu
starrköpfig, um auszuziehen.«
»Leo, wie Sie ihn nennen – Leo wohnte hier?«
»Ja. Im alten Kutschenhaus.« Ihre Augen fixieren
McDermott. Vermutlich hat sie schon viele Menschen auf diese Art
gemustert und ist dabei in den seltensten Fällen zu einem
erfreulichen Ergebnis gekommen. »Muss ich davon ausgehen, dass Leo
unter Verdacht steht? Am Telefon haben Sie etwas von einem Mord
erwähnt.«
»Nicht nur ein Mord.«
»Nicht nur – o mein Gott.« Sie berührt ihr Gesicht.
Ihre Hand zittert. »Leo war so ein lieber Junge, aber – er war in
Therapie. Ich dachte immer, er macht sich ganz gut.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen oder
mit ihm gesprochen?«
»Das muss schon eine ganze Zeit her sein.« Sie
senkt den Blick. »Cassie … Cassie starb im Juni 1989. Unmittelbar
danach habe ich Harland verlassen. Es war – nun ja, es war alles
ziemlich chaotisch damals, um es gelinde auszudrücken.« Abwesend
zupft sie an einem Fingernagel und schüttelt langsam den
Kopf.
McDermott beobachtet sie, schweigt aber. Seiner
Erfahrung nach sind die besten Befragungen die mit den kurzen
Fragen und den langen Antworten.
Sie räuspert sich mehrmals und fährt dann mit
leiser Stimme fort. »Nach meinem Auszug war ich nie wieder dort.
Ich zog hier bei Gwendolyn ein; ich wollte nicht, dass sich unser
Personal noch mischte. Harland sollte seine Leute haben und wir
unsere. Ich wollte eine endgültige und vollständige
Trennung.«
Er nickt. »Und Leo?«
»Leo wäre vermutlich besser bei uns geblieben«,
sagt sie. »Aber so war es nicht.«
»Leo blieb in Harlands Haus?«
Natalia schließt die Augen. Sie führt eine Hand zur
Stirn und streicht ihr Haar zurück, das ohnehin straff
zurückgebunden ist. »Sie denken sicher, ich müsste die Antwort
darauf wissen. Man sollte denken, dass jemand, der die
Verantwortung für Leo übernommen hat, bei ihm nach dem Rechten
sieht.«
»Aber das taten Sie nicht.«
Sie lächelt zaghaft. »Nach dem Tod meiner Tochter
ging es mir zwei Jahre nicht besonders gut. Ich hatte selbst lange
Jahre Probleme mit Alkohol- und Tablettenmissbrauch, falls Sie das
nicht wissen.«
Er schüttelt verneinend den Kopf. »Meine Tochter
war für mich immer das beste Gegenmittel gewesen.« Sie seufzt und
fährt mit ausdrucksloser Stimme fort. »Nachdem sie Cassie gefunden
hatten, war ich zwölf Monate lang keinen einzigen Tag nüchtern.
Daher kann ich nur sagen, nein, Detective, ich hatte keinen
Überblick, was aus Leo wurde.«
McDermott kritzelt etwas auf seinen
Notizblock.
»Aber vielleicht können Sie mir sagen, was
aus ihm geworden ist?«
»Ich wollte, ich könnte es. Darf ich Sie nach dem
Grund für Ihre Scheidung fragen? So kurz nach Cassies Tod?«
»Sie dürfen.« Sie zückt ein goldenes Etui und zupft
eine Zigarette heraus. »Ich hoffe, das stört Sie nicht. Es ist das
einzige Laster, dass ich mir noch erlaube.« Sie zündet die
Zigarette an und hält sie mit angehobenem Ellbogen nah an ihrem
Gesicht.
McDermott breitet fragend die Hände aus.
»Ist das wirklich von Bedeutung für Ihre
Nachforschungen?«
»Unter Umständen«, sagt er.
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum.«
»Mrs. Lake, in meinem Beruf kann man erst sagen,
was von Bedeutung ist, nachdem man es in Erfahrung gebracht
hat.«
Der Rauch wogt um ihr Gesicht, und Natalia pickt
sich mit einem ihrer langen Fingernägel einen Tabakkrümel von den
Lippen. »Sie weichen meiner Frage aus.«
»Ich brauche eine Antwort, bitte. Ich habe nicht
viel Zeit.«
Sie gönnt sich ein paar Züge von ihrer Zigarette,
als überlege sie, ob sie antworten soll. McDermott vermutet, dass
sie eher darüber nachdenkt, wie sie antworten soll.
»Mein Ehemann«, sagt sie, »hatte Probleme mit der
ehelichen Treue.«
Ah, jetzt kommen wir weiter. McDermott denkt an den
Brief aus Koslenkos Haus, die Anspielung auf Harlands Affäre mit
Ellie Danzinger.
»Ging es dabei speziell um eine bestimmte
Person?«
Mit ernstem Gesicht streifte sie ihre Zigarette in
einem luxuriösen Aschenbecher ab. »Ich nehme an, sein Problem
besteht eher darin, dass es um niemand Bestimmten geht.«
McDermott starrt auf seinen Notizblock. Oben auf
das kleine Blatt hat er ein paar bedeutungslose Linien gekritzelt.
Diese Stoßrichtung scheint ihn nicht weiterzubringen.
»Mrs. Lake, wie gut kannten Sie Cassies Freundin
Ellie Danzinger?«
»O Herr im Himmel.« Sie bedeckt die Augen, als
wolle sie sich vor allzu grellem Sonnenlicht schützen. »Mr.
McDermott, wenn Sie es ohnehin wissen, dann hätten Sie es doch
einfach sagen und mir die ganze Peinlichkeit ersparen
können.«
»Sie sprechen jetzt von Ellie.«
Sie spreizt die Hände, und ihr Gesicht wird
aschfahl. »Ist das nicht der Punkt, um den sich hier alles dreht?
Ja, Detective, ja. Harland hat mit Cassies bester Freundin
geschlafen. Sie war eine weitere wunderschöne Frau, der er nicht
widerstehen konnte. Verzeihen Sie bitte«, fügt sie hinzu, wieder
mit etwas leiserer Stimme.
McDermott schweigt einen Moment. Er kann nicht gut
mit Gefühlen umgehen, besonders bei Frauen. Aber die Sache ist zu
wichtig, um jetzt klein beizugeben.
»Es tut mir leid, Ihnen diese Fragen stellen zu
müssen, Mrs. Lake. Ich versuche, eine Serie von Morden aufzuklären.
Eine Serie, die nicht abreißt. Diese – Affäre – haben Sie darüber
auch mit Harland gesprochen?«
»O Gott, nein, natürlich nicht.« Sie hat sich jetzt
vollständig von McDermott abgewandt. »Harland hätte niemals
gewollt, dass ich von seinen außerehelichen Aktivitäten
erfahre.«
McDermott wartet einen Moment, aber sie führt den
Gedanken nicht weiter aus. »Wie haben Sie dann …«
»Durch Cassie natürlich.«
Er macht sich eine weitere Notiz. Langsam wird es
interessant. Cassie wusste also eindeutig, dass Harland etwas mit
Ellie hatte.
»Ich brauche ein paar zeitliche Eckdaten, Mrs.
Lake. Wann hat Cassie Ihnen von Mr. Bentley und Ellie erzählt? Wann
genau lief diese Geschichte?«
Natalia ist ans Fenster getreten, den Ellbogen in
die Hand gestützt, die Zigarette qualmt unmittelbar vor ihrer Nase.
»Sie wollen wissen«, fragt sie, »ob es kurz vor Cassies Tod
war?«
»Genau das will ich wissen.«
»Ja. Es war in diesem Semester. In dem Monat bevor
sie – bevor sie starb.« Sie wendet sich McDermott zu und spricht
sehr kontrolliert, mit wütendem Unterton, zwischen
zusammengebissenen Zähnen. »Mit zu den letzten Dingen, die meine
Tochter über ihren Vater erfuhr, gehörte, dass er eine intime
Beziehung zu ihrer besten Freundin hatte. Begreifen Sie jetzt,
warum ich nach ihrem Tod nicht mehr mit ihm zusammen sein konnte?«
Ihre Augen funkeln, ihr Mund ist vor Wut verzerrt.
McDermott kritzelt in seinen Block. Ein
schmerzerfüllter Laut dringt aus Natalias Kehle. Verzweifelt lässt
sie den Kopf sinken.
»Ich möchte Sie ein paar Dinge über Cassie fragen,
wenn ich darf«, sagt er.
Natalia weint leise. McDermott muss an seine
Tochter Grace denken, und wie tief der Schmerz eines Kindes die
Eltern trifft.
»Eine der Ermordeten hat Fragen über Cassie
gestellt. Wir glauben, dass sie deshalb getötet wurde. Das ist der
Grund, warum ich Sie damit belästigen muss.«
Sie bringt immer noch kein Wort heraus,
signalisiert ihm aber fortzufahren.
»Hatten Cassies Ärzte ihre Praxen im Sherwood
Executive Center? Das ist ein Gebäude in Sherwood Hights. In der
…«
»Ja«, antwortet sie mit heiserer Stimme und schwer
atmend. »Ja, dort praktizierten ihre Ärzte. Warum?«
Das Schwierige an dieser Art von Gesprächen ist,
dass es keine echten Gespräche sind. Es ist nicht seine Aufgabe, zu
antworten. »Ma’am, war Cassie schwanger?«
Der letzte Rest von Haltung, den Natalia aufgeboten
hat, bricht in sich zusammen.
Sie begräbt ihr Gesicht in den Händen und beginnt
hemmungslos zu schluchzen. McDermott, der den Blick abgewandt hat,
fühlt sich wie ein Eindringling, aber sein Adrenalinspiegel
steigt.
»Ma’am?« Die Frau in Weiß erscheint auf der
Türschwelle, auf den Zehenballen wippend. Natalia hebt eine Hand
und schüttelt den Kopf, während sie mühsam um Fassung ringt. »Mir
geht es gut, Martha, danke.« Die Frau verschwindet.
»Es tut mir leid«, sagt Natalia.
»Kein Ursache, Ma’am. Ich habe auch eine Tochter.
Und ich würde auch nicht wollen, dass jemand in ihrem Privatleben
herumschnüffelt. Aber, Mrs. Lake – damals ist etwas wirklich
Merkwürdiges passiert. Jemand arrangierte einen Einbruch in das
Gebäude. Dieser Mann ist inzwischen tot. Die Frau, die in dieser
Sache recherchierte, ist ebenfalls tot. Und wir wissen aus Cassies
Autopsiebericht, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes nicht schwanger
war.«
Im Raum herrscht Totenstille. Von draußen dringen
Geräusche herein, vermutlich aus der Küche, das Klappern von
Tellern und Töpfen, ein laufender Wasserhahn. Er beschließt, sie
für den Augenblick nicht weiter zu bedrängen. Sie wird von alleine
darauf zu sprechen kommen.
Natalia atmet tief durch. »In Ordnung, Detective.«
Sie nickt. »Einverstanden. Aber ich will, dass diese Information
absolut vertraulich bleibt, solange Sie nicht gezwungen sind, sie
zu verwenden.« Sie sieht ihn an. »Habe ich Ihr Ehrenwort?«
»Natürlich. Als Polizist und als Vater, Mrs.
Lake.«
Er hasst es, Versprechen zu geben, die er nicht
wird halten können.
»Also gut.« Sie kämpft einen Moment mit sich, als
kämen ihr im letzten Moment doch noch Zweifel. Aber sie hat
McDermott bereits die Antwort auf seine Frage gegeben.
»Ja«, sagt sie. »Cassie war schwanger in diesem
Jahr. Und es trifft zu, dass sie es zum Zeitpunkt ihres Todes nicht
mehr war. Sie hat diesen Eingriff über sich ergehen lassen«, fügt
sie rasch hinzu, um einer möglichen Frage zuvorzukommen. »Aber ich
habe erst davon erfahren, als alles vorüber war. Cassie hat mich
erst hinterher eingeweiht. Sie wusste, dass ich versucht hätte, es
ihr auszureden.«
»Und wer …«
»Ich habe keine Ahnung, wer der Vater war. Und es
wäre untertrieben, zu sagen, ich hätte sie gedrängt, es mir zu
verraten. Tatsache ist, ich habe mich viel zu sehr auf diese
Angelegenheit konzentriert und viel zu wenig darum gekümmert, wie
sich das Ganze auf meine Tochter ausgewirkt hat. Noch heute mache
ich mir Vorwürfe deswegen.«
Er denkt an den Brief aus Koslenkos Haus und die
Anspielung auf Professor Albany und Cassie. Diesmal wird er den
Namen nicht von sich aus verraten, wie bei Ellie. »Können Sie mir
irgendwelche Namen nennen? Freunde, irgendwas in der Art?«
»Sie wollte es mir nicht erzählen. Sie weigerte
sich standhaft. Sie wollte diese Person unbedingt schützen.«
McDermott beobachtet ihren Gesichtsausdruck.
»Aber?« Sie starrt ihn an, und wieder kocht die Wut in ihr hoch.
»Aber natürlich hatte ich einen Verdacht. Sie schien doch ein sehr
inniges Verhältnis zu einem ihrer Professoren zu haben.«
McDermott nickt unwillkürlich. Und seine Reaktion
bleibt Natalia nicht verborgen.
»Auch das wussten Sie bereits, nicht wahr?«, sagt
sie und stößt ein bitteres Lachen aus. »Schon wieder fragen Sie
mich etwas, das Ihnen längst bekannt ist. So springen Sie mit
Menschen um. Sie tun so...«
»Hören Sie, Mrs. Lake.« Er hebt die Hand. »Es ist
wichtig, dass ich die Informationen aus Ihrem Mund höre, und nicht
umgekehrt. Sie werden das verstehen. Bitte, geben Sie mir einfach
einen Namen.«
»Er war Zeuge bei dem Prozess«, sagt sie. »Mr.
Albany.«
Als Gwendolyn sich kurz entschuldigt und in
Richtung Damentoilette verschwindet, hole ich mein Handy heraus und
rufe McDermott an. Seine Mailbox schaltet sich ein, und ich
hinterlasse eine kurze Nachricht, dass ich ihn unbedingt sprechen
muss.
Wir haben jetzt die Identität des Täters, des
mysteriösen »Leo«. Der Verbindungen zur Bentley-Familie hat und
gemeinsam mit Harland auf dem Foto mit den Reportern
auftaucht.
Gwendolyn kehrt zurück und lässt sich mir gegenüber
in den Sitz fallen.
»Ist er wirklich ein Mörder?«, will sie wissen.
»Bitte sagen Sie es mir.«
»Leo? Mit ziemlicher Sicherheit«, gebe ich
zu.
Sie stöhnt. »Er war nie ganz von dieser Welt.
Geistig, meine ich.« Sie starrt auf den Tisch. »Ich hab nicht viel
mit dem Personal zu tun gehabt. Aber er war immer – ein bisschen
seltsam. Die Art, wie er einen so lange anstarrte oder irgendwas
vor sich hin murmelte. Meine Mutter sagte mal, er hätte in Russland
Schwierigkeiten gehabt.«
»Russland?«
»Oh ja. Er war ein Immigrant. Ich glaube, seine
Familie war mit der meiner Mutter bekannt. Meine Großmutter war
Tänzerin in Russland.«
»Ja, ich weiß.«
»Und ich glaube, seine Familie bat uns, ihn bei uns
wohnen zu lassen. Als eine Art Gefallen.«
»Was für Schwierigkeiten hatte Leo in
Russland?«
Sie schüttelt den Kopf. »Weiß nicht. Ich habe kaum
mehr als zwei Worte mit ihm gewechselt. Cassie war da anders. Das
Personal liebte sie.«
Rasch gehe ich im Kopf die nächsten Fragen durch.
Mein letztes Gespräch mit Gwendolyn verlief nicht allzu
erfolgreich. Mir wurde eine zweite Chance gewährt, und diesmal will
ich alle wichtigen Punkte abdecken.
Eine Kellnerin trabt an uns vorbei, in den Händen
ein Cholesterin-Special – Bratkartoffeln mit fetttriefenden Eiern
und Speckscheiben. Beim Geruch des gebratenen Essens dreht sich mir
der Magen um.
»Gwendolyn«, sage ich, »wo hatten Cassies Ärzte
ihre Praxis?«
»Ihre Ärzte? Keine Ahnung – doch, warten Sie«,
unterbricht sie sich. »Vermutlich ging sie zu denselben Ärzten wie
ich. Ich hatte einen Arzt namens Sor – ich glaube, er hieß
Sorenson? Ja, genau, Dr. Sorenson.« Sie nickt. »Dr. Sorenson war
praktischer Arzt. Immer wenn ich in den Staaten war, ließ ich mich
dort gründlich durchchecken.«
»Wo hatte Dr. Sorenson seine Praxis?«
»Oh.« Sie seufzt. »Das war ein Gebäude im
Nachbarort.«
»Das Sherwood Executive Center?«
Sie zuckt mit den Achseln. »Der Name des Gebäudes?
Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Auf der Lindsay Avenue in Sherwood Hights? Ein
Ziegelbau?«
»Ja.« Ihre Augen wandern zur Decke. »Richtig.
Lindsey. Das Gebäude gehört, glaube ich, zur Mercy Group. Es war so
zehn oder zwölf Stockwerke hoch, denke ich mal.« Sie sieht mich
wieder an. »Warum?«
»Die Polizei will vielleicht mit Cassies Ärzten
sprechen.«
Die Kellnerin schenkt Kaffee nach. Gwendolyn
lächelt sie an. Ich habe meinen kaum angerührt, weil er ebenso dünn
ist wie die Brühe im Büro.
Ich lehne mich zurück und versuche die Information
zu verarbeiten. Schaut so aus, als hätten Cassie und Professor
Albany etwas am Laufen gehabt. Cassie war schwanger. Vermutlich
hatte sie eine Abtreibung. Ihre Ärzte saßen in diesem Gebäude in
Sherwood Hights, in das Fred Ciancio sich drei Wochen vor der
Mordserie versetzen ließ.
»Sie müssen mit der Polizei reden«, sage ich.
Sie nickt, obwohl diese Aussicht sie nicht gerade
zu begeistern scheint.
»Wohnen Sie hier bei Nat?«
Sie wirkt überrascht. »Ich bin nur kurz in die
Stadt gekommen. Ich wollte eigentlich gleich wieder
rausfahren.«
»Sprechen Sie mit Detective McDermott.« Ich ziehe
eine Visitenkarte heraus und kritzele seine und meine Handynummer
auf die Rückseite. »Bleiben Sie in der Nähe, Gwendolyn«, sage ich
zu ihr.
Mit zitternder Hand unterschreibt Natalia Lake
ihre Einwilligungserklärung und reicht sie McDermott zurück.
»Danke, Mrs. Lake.«
»Sie werden mich wissen lassen, wie es in der Sache
weitergeht, nehme ich an.« Ihre Augen erforschen sein Gesicht.
McDermott kennt diesen Blick nur allzu gut. Angehörige von Opfern
hoffen auf die Zusicherung, dass alles gut wird, dass sie nur die
Augen schließen und beten müssen, und der geliebte Mensch kommt zu
ihnen zurück.
»Natürlich werde ich das.« Er ergreift ihre kalte
Hand und hält sie ein wenig länger als nötig.
Als er sich zur Tür wendet, packt sie ihn am Arm.
Er dreht sich zu ihr um. Durch das Gespräch wirkt sie um Jahre
gealtert. Anstelle einer eleganten distinguierten Dame hat er jetzt
eine von quälenden Erinnerungen gepeinigte Mutter vor sich.
»Hängen die aktuellen Vorkommnisse mit dieser Sache
von damals zusammen? Mit Cassies Abtreibung? Versucht jemand, das
zu vertuschen?«
McDermott tut sein Möglichstes, sieht sie
verbindlich an und äußert aufrichtig gemeinte Trostworte. Aber er
weiß keine Antwort auf ihre Fragen. Und in mehr als einer Hinsicht
ist es ihm auch gleichgültig. Es ist nicht seine Aufgabe, einen
sechzehn Jahre zurückliegenden Fall zu lösen.
Er ist hier, um Leo Koslenko zu finden.
Zurück in Shelly Trotters Apartment schiebt Leo
die Glastür wieder zu und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er
lässt sich einen Moment Zeit, bis sein Atem sich wieder beruhigt
hat. Was folgt als Nächstes?
Er blickt zurück ins Wohnzimmer, wo die Kettensäge
in der Sporttasche wartet. Dann schaut er auf die Uhr.
Bald. Bald ist es so weit.