14. Kapitel
»Das Problem mit einem perfekten Martini ist«, erläutere ich Lightner, »dass er einfach perfekt ist.« Ich hebe ein leeres Glas. Vor drei Stunden sind Lightner und ich vom Speisesaal an die Bar des Sax gewechselt. Ich habe schon ein paar intus, gut ein halbes Dutzend, also bestelle ich mit der üblichen Geste die Rechung, kritzele etwas in die Luft, bloß dass meine Handschrift zu dem Zeitpunkt längst nicht mehr leserlich wäre. »Ich muss jetzt sofort mit Trinken aufhören, bevor ich vollkommen verblöde.«
»Zu spät.« Lightner hat einen Zahnstocher im Mund. Er lässt sich ins Polster der Sitzecke zurücksinken, einen Arm über der Rücklehne, und sein Blick schweift durchs Lokal. Es ist das Ende einer langen Nacht. Die Luft ist schwer von Parfum, Rauch und Alkohol. Überall noch angeregte Unterhaltungen, aber die Reihen haben sich bereits gelichtet. Mein Magen ist voll, und durch meine Blutbahnen kreist zu viel Wodka. Wie immer ist Lightner härter im Nehmen, aber auch seine Augen sind blutunterlaufen und seine Wangen eine Spur rosiger als gewöhnlich. Er glaubt noch immer, mich damit aufziehen zu müssen, dass ich ihn zum Empfang beim Gouverneur mitgeschleppt habe, und ich bin es leid, ihm zu versichern, dass mein Besuch dort rein gar nichts mit meiner Ex zu tun hatte.
Er nickt in Richtung Bar, nimmt den Zahnstocher aus dem Mund und will gerade etwas sagen, als die Bedienung mit der Rechnung kommt. Lightner starrt auf den Beleg, als wäre er radioaktiv. Ich bin schon Schaufensterpuppen begegnet, die lebendiger wirkten.
»Nein, lass nur«, murmele ich und schnappe mir die Rechnung. »Ich hab schon das Dinner bezahlt. Da kann ich das hier auch noch übernehmen.«
»Gehört schließlich zur Kundenpflege.«
»Ja. Nur leider bin ich dein Kunde. Eigentlich müsstest du mich einladen.«
»Nächstes Mal.« Lightner zeigt mit dem Zahnstochter in Richtung Bar. »Du wirst es nicht glauben, Riley, aber diese Lady dort schaut die ganze Zeit zu dir her.«
Was ich an Lightner schätze, ist, dass er sich in den sechzehn Jahren, seit wir uns kennen, kein bisschen verändert hat. Seine Brieftasche ist dicker, seine Kleidung eleganter und sein Haar ein bisschen grauer, aber er verbreitet immer noch den gleichen jugendlichen Enthusiasmus.
»Ihr Hintern ist zum Anbeißen.«
Das ist es, was ich mit jugendlichem Enthusiasmus meinte. Ich werfe meine Kreditkarte auf den Tisch. »Großartig. Schick ihr eine Nachricht. Frag sie, ob sie mich mag.«
»Bitte vermassel es nicht wieder«, zischt er aus dem Mundwinkel, als die Frau auf unseren Tisch zusteuert. »Hallo, junge Frau. Mein Name ist Joel.«
»Hallo zusammen«, sagt die junge Frau mit so viel Begeisterung, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch für nichts aufgebracht habe, nicht mal, als ich in Harvard angenommen wurde, oder als ich auf der Saint Mary High den alles entscheidenden Wurf in einem fast verloren geglaubten Basketballspiel erzielte, indem ich den Typen vor mir mit einem Wurf aus vollem Lauf austrickste, erst mit einem Head-fake und dann mit einem angedeuteten Sprungwurf nach hinten. Kein nahtloser Wurf, aber er war drin. Nicht dass ich mich an jedes Detail erinnern würde. Den Namen des Verteidigers zum Beispiel hab ich vergessen.
»Darf ich mich nach Ihrem Namen erkundigen?«, sagte Lightner.
Ach ja – Ricky Haden. So hieß der Bursche. Ein langer schlaksiger Typ. Hatte meinem Angriff nichts entgegenzusetzen.
»Ich heiße Molly.«
Molly trägt hautenge Jeans, hochhackige Schuhe und ein weites weißes Oberteil, das ihr über die eine Schulter gerutscht ist. Sie kann sich unmöglich für mich interessieren. Sie muss eine Professionelle sein. Manchmal klappern sie solche Lokale ab, auf der Suche nach Typen mit dicken Brieftaschen, die ein paar über den Durst getrunken haben und sich einsam fühlen.
Mit anderen Worten: Kerlen wie mir.
»Also, Molly, mir gegenüber sitzt der große Paul Riley. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Aber im Moment, Molly«, Paul macht ihr Platz, und sie setzt sich zu uns, »im Moment ist Paul traurig.«
»Und warum ist Paul traurig, Joel?«
Eigentlich war der Ball gar nicht für mich bestimmt, aber alle anderen hatten sich auf unseren Center Joey Schramek gestürzt, also hatte ich freie Bahn. Haden stand nicht gut, daher fiel er auf mein Manöver herein, und dann weiß ich nur noch, wie der Ball durch die Luft segelte und die Punktanzeige summte.
»Paul ist traurig, Molly, weil ihm das Herz gebrochen wurde.«
Zisch. In meiner Erinnerung zischt der Ball nur so durch die Luft.
»Eiskalt versenkt«, sage ich.
»Ich weiß, wer Paul Riley ist«, sagt die Frau – Molly war ihr Name, glaube ich. »Vor ein paar Wochen haben sie im Fernsehen eine Sondersendung über Terry Burgos gebracht.«
»Hast du das gehört, Paul? Sie hat dich im Fernsehen gesehen.«
Okay, also keine Professionelle. Soweit ich das beurteilen kann, ist Molly Mitte dreißig, nicht allzu stark geschminkt und eigentlich ganz nett frisiert. Ihr Gesicht ist oval, und auch der Rest von ihr wäre sicher recht ansehnlich, wenn ich noch einen klaren Blick hätte. Wenn ich noch einen klaren Blick hätte, wüsste ich außerdem, dass diese Frau für mich unerreichbar ist. Aber leider ist es nun mal so: Männer fliegen aufs Aussehen. Zielstrebig wählen sie die attraktivste Frau im Raum aus und hecheln ihr dann hinterher. Kann gut sein, dass Frauen es ähnlich machen; das würde zumindest erklären, weshalb ich die meiste Zeit mit sympathischen, aber eher unscheinbaren weiblichen Wesen verbringe. Trotzdem, die meisten Frauen suchen wohl immer noch nach substantielleren Dingen …
»Er schien mir sehr selbstbewusst«, sagt sie zu Lightner. Genau. Frauen schätzen an einem Mann Hirn, Humor, Erfolg und Selbstbewusstsein. Und das bringt Typen wie mich wieder ins Rennen. Mir fehlt zwar das strahlende Äußere, aber ich bin clever, schlagfertig und kann ein echter Charmebolzen sein, wenn man mich erst mal näher kennenlernt.
»Gewinnen Sie eigentlich alle Ihre Fälle?«, will sie wissen. Joel lehnt sich zurück. Ihm gefällt die Frage.
»Klar«, sage ich.
»Oh, wie bescheiden.« Molly lächelt mir zu und lässt ihren Blick auf mir ruhen.
Ich recke zwei Finger in die Luft. »Die zweite Regel bei Rechtsstreitigkeiten lautet: Lass die Finger von aussichtslosen Fällen, prozessiere nur in aussichtsreichen.«
Sie breitet fragend die Hände aus und starrt mich weiterhin an. Als von mir nichts mehr kommt, erwidert sie: »Aber wenn jeder diese Regel beherzigen würde, käme es nie zu irgendeinem Prozess.«
»Doch, denn die erste Regel lautet: Erkenne den Unterschied.« Ich winke der Kellnerin. »Darf ich Sie auf einen Drink einladen, Molly?«
»Ursprünglich wollte ich Sie einladen.«
»Umso besser.«
Joel Lightner wirkt äußerst zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. Sein gönnerhaftes Getue ärgert mich ein wenig. »Ich habe leider noch das eine oder andere zu erledigen«, sagt er. »Molly, ich muss mich verabschieden. War mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
Molly protestiert nicht, sondern steht auf, damit er aus der Nische rutschen kann. Ich werde wieder ein wenig wacher.
»Sie erinnern sich nicht an mich, oder?«, fragt sie, als sie erneut Platz nimmt.
Nein. Ich überlege kurz, ob ich schwindeln soll, aber damit stellt man sich meist nur selbst ein Bein. Und ich bin zu betrunken, um noch sonderlich einfallsreich zu sein.
»Ist schon okay. Ich war letzte Woche hier. Und Sie waren in Begleitung von jemand, der auf mich wie ein Klient gewirkt hat. Ihr Freund war es jedenfalls nicht. Sie haben an der Bar einen Drink bestellt und einen Witz gemacht. Sie haben mich zum Lachen gebracht. Sie waren sehr nett.«
»Und nüchtern«, sage ich.
»Das ist allerdings richtig, Sie waren nüchtern. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
»Keine schlechte Idee.« Ich richte mich auf. »Normalerweise hinterlasse ich einen guten ersten Eindruck. Das müssen Sie mir glauben.«
»Auf mich haben Sie einen guten ersten Eindruck gemacht.«
Ach ja, das hat sie schon gesagt. Ich fühle mich nicht so übel wie erwartet, höchstwahrscheinlich wegen des Adrenalins, das jetzt durch meine Blutbahnen pumpt und das Gift darin bekämpft. Trotzdem ist so was nicht mein Ding. Ich habe acht oder zehn Jahre keusch wie ein Priester gelebt, bevor ich Shelly begegnet bin. Frauen in Bars aufzugabeln war mir immer fremd. Und ich habe keine Lust, jetzt damit anzufangen.
»Ich denke, das Beste wäre, wenn ich Sie jetzt in ein Taxi setze, Molly.«
Sie lächelt mich an, ein wenig skeptisch. »Entweder sind Sie ein echter Gentleman – oder nicht interessiert.«
»Weder noch. Aber im nüchternen Zustand bin ich definitiv eher ein Gentleman.«
Tatsächlich aber hat sie zur Hälfte recht. Ich bin nicht interessiert. Mein Herz schlägt für eine, die nichts mehr von mir wissen will, die andere Wege geht.
Sie deutet in Richtung Ausgang. »Ich wohne nur drei Blocks von hier. Bringen Sie mich noch nach Hause?«
Drei Blocks weiter bedeutet, sie lebt in der Nähe von Lilly. Das Sax liegt in der West Side, also wohnt sie vielleicht in einem der kürzlich ausgebauten Lofts. Vielleicht ist sie Künstlerin, Tänzerin oder Musikerin. Tänzerin wäre gut.
Ich mag diesen Teil der Stadt, weil ihn die Reichen und Schönen noch nicht für sich mit Beschlag belegt haben. In der West Side gibt es immer noch Fabriken, und nur einige wenige exzellente Bars mischen sich unter die Industriebetriebe und Lagerhallen. Aber selbst diese zaghaften Ansätze von Modernisierung stoßen auf Widerstand bei den Bürgern. Als vor ein paar Monaten die Straße runter ein Starbucks eröffnete, protestierte das halbe Viertel dagegen – die andere Hälfte orderte Mocca Lattes.
Die Gegend wird allmählich immer weißer und trendiger. Die heranschwappende Welle des Forschritts wird in absehbarer Zeit auch das händeringende Häufchen Widerspenstiger wegschwemmen.
Es hat geregnet, und in den Straßen hängt dieser feuchte Geruch, den ich so liebe. In den Schlaglöchern haben sich kleine Seen gebildet; hier draußen fehlt das Geld für Instandsetzungsarbeiten, und die Stadträte haben keinen Einfluss auf den Bürgermeister.
»Vertreten Sie immer noch Leute in Kriminalprozessen?«, fragt sie.
»Wenn Gelegenheit dazu ist.« Aufregende Kriminalprozesse gehören bei Anwälten meines Schlages zur Ausnahme. Mein Honorar ist astronomisch, und die einzigen Angeklagten, die es sich leisten können, sind Schreibtischtäter, deren Verbrechen nicht von Cops, sondern von Finanzbuchhaltern aufgeklärt werden.
»Sprechen wir doch mal über Sie«, schlage ich vor.
Wir biegen in eine Straße ein, die wegen der hohen Gebäude zu beiden Seiten eher den Eindruck einer Gasse vermittelt. Wir spazieren über längst stillgelegte, im Asphalt eingelassene Eisenbahngleise, und ich frage mich allmählich, wo sie wohl wohnt. Einige dieser alten Lagerhallen sind inzwischen sicher zu Wohnhäusern umgebaut worden, aber von außen ist davon nichts zu bemerken. Der Deal ist: Die Lofts hier sind zwar traumhaft groß und billig, dafür geht man in dieser Gegend aber nur ungern zu Fuß, und man hat Glück, wenn man aus dem Fenster etwas anderes sieht als die Fabrikfassade gegenüber.
»Also?«, frage ich.
Molly bleibt stehen, sieht zu mir auf und errötet. Zumindest halte ich es für ein Erröten. Im Zwielicht wirkt ihr Gesicht verändert. Die Straße ist relativ dunkel. Eine einzelne Straßenlaterne wirft aus einiger Entfernung einen schwachen Schein auf ihr Gesicht, unterstreicht die Zartheit ihrer Haut und die wunderschönen Augen, die zu mir aufblicken.
»Ich möchte Ihnen meine Karte geben«, sagt sie.
»Oh, danke«, bringe ich hervor, aber als sie in ihre Handtasche greift, rutscht der Schulterriemen herunter, landet hart auf ihrem Unterarm, und durch den Aufprall fällt ihr das Portemonnaie aus der Hand. Der gesamte Inhalt ihrer Tasche verteilt sich über das Pflaster.
Ich bücke mich, um ihr zu helfen, und wir kauern beide am Boden. Jetzt käme eigentlich der Teil, wo wir einander tief in die Augen schauen und der sexuellen Spannung freien Lauf lassen. Aber dazu bin ich im Moment nicht in der Lage, weder körperlich noch geistig, und außerdem gehört mein Herz nun mal leider einer anderen. Also konzentriere ich mich auf die Kreditkarten, den Lippenstift, den Geldclip und die Puderdose auf dem Gehsteig, obwohl ich mich womöglich besser auf die Schritte hinter mir konzentriert hätte.
Als sie über meine Schultern späht und ihre Lippen sich erwartungsvoll öffnen, spüre ich ein merkwürdiges Prickeln am Hinterkopf. Sie ist doch eine Professionelle. Aber von anderer Art als vermutet.
Einen Sekundenbruchteil später trifft mich ein Schlag, hammerhart und metallisch, auf den Hinterkopf.
In Gottes Namen
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