36. Kapitel
Wir betreten Harlands Büro, von dem aus man über den Südteil der Stadt schaut und weiter bis zum Fluss und dem neu errichteten Theater. Ihm gehören große Grundstücke im Süden, zu beiden Seiten des Expressways, und er plant dort Bauvorhaben in großem Maßstab.
Ich betrachte den roten Eichenboden und den riesigen Perserteppich, den Harland aus dem Nahen Osten mitgebracht hat, wobei er alle möglichen Ausfuhrbeschränkungen unterlief.
Harland steht am Fenster und massiert sich mit Zeigefinger und Daumen die Augenlider, vorsichtig, wie alles, was er tut. »Wissen Sie, warum ich Sie eingestellt habe, Paul?«
Ich glaube schon, aber mir gefällt die Frage nicht. Daher schweige ich.
»Nicht aus Dankbarkeit. Man hätte es vielleicht so sehen können. Aber das war es nicht. Wenn ich mich dafür hätte bedanken wollen, dass Sie den Killer meiner Tochter seiner Strafe zugeführt haben, hätte ich das nicht mit Geld getan. Denn das hätte Ihre Leistung herabgewürdigt. Als hätte man ein Preisschild darauf geklebt.«
»Da haben Sie recht.«
»Ich habe Sie angestellt, weil Sie für mich der fähigste Anwalt der Stadt waren. Und ich wollte den fähigsten Anwalt der Stadt. Hier, an meiner Seite.«
Ich habe keine Ahnung, was er jetzt von mir hören will. Zum Teufel, ja, er ist ein absoluter Traumklient, aber er hat auch viel von mir bekommen. Ich habe immer mein Bestes gegeben.
»Harland, das Sherwood Executive Center. Hatten Cassies Ärzte ihre Praxis dort?«
Er antwortet nicht gleich. Ich muss an meine eigene Tochter Elizabeth denken und daran, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo die Ärzte praktizierten, zu denen sie früher ging. Ich habe sie kein einziges Mal zum Arzt gebracht; das hat immer meine Ex-Frau Georgia übernommen. Und um ehrlich zu sein, habe ich die Bentleys auch nie für die klassische Familie gehalten. Schwer vorzustellen, dass Harland oder Natalia das Kind in den Kombi gepackt haben, um es in die Sprechstunde zu karren. Dazu fällt einem eher eine Limousine mit Chauffeur ein.
»Ich kann mich an das Gebäude erinnern«, erwidert er schließlich zu meiner Überraschung. »Sie war damals acht oder so. Sie musste sich die Zähne reinigen lassen. Sie hatte panische Angst, sie könnte ein Loch haben. Sie …«, er holt kurz Luft, »sie bettelte mich an, mitzukommen. Sie hatte solche Angst, solche Angst vor den Schmerzen.«
Ich wende den Kopf ab. Es ist mir unangenehm, jemanden anzugaffen, der gerade eine quälende Erinnerung durchlebt.
»Ich ließ mir einen Stuhl bringen und setzte mich neben Cassie, während sie ihr die Zähne reinigten. Sie hat die ganze Zeit meine Hand umklammert. Sie drückte sie ganz fest. Sehr fest, für so ein kleines Mädchen.«
Ich räuspere mich. Mir wäre es lieber, wenn er wieder auf meine Frage zurückkäme.
»Ich glaube, all ihre – alles, was ihre Gesundheitsvorsorge betraf, spielte sich in diesem Gebäude ab«, fügt er hinzu. »So eine Art Rundum-Service.«
»Auch der Allgemeinarzt, der Frauenarzt, solche Dinge?«
Er wedelt mit der Hand. Er vermutet es, aber er weiß es nicht.
»War sie schwanger, Harland?«, frage ich in einem etwas sanfteren Ton.
Er lässt sich einen Moment Zeit, dann gibt er ein Geräusch von sich, irgendwas zwischen einen Räuspern und einem Lachen. »Als ob sie mir so was erzählt hätte«, sagt er dann ruhig. »Das kleine Mädchen, das sich beim Zahnarzt in meine Hand gekrallt hat? Als sie ins College ging, gab es dieses kleine Mädchen schon lange nicht mehr. Nein, ich habe es geschafft, alle Frauen in meiner Familie zu vergraulen.«
Er fährt mit der Hand über den Walnusstisch, als wollte er ihn auf Staub hin überprüfen. Aber vielleicht versucht er auch nur, meinem Blick auszuweichen, was normalerweise ebenfalls nicht seine Art ist.
»Warum haben Sie mich kommen lassen, Harland?«
Er studiert seine Fingernägel. »Sie wissen wahrscheinlich, dass mir in puncto Frauen ein gewisser Ruf vorauseilt.«
»Ich weiß, dass Sie einen ausgezeichneten Geschmack haben«, antworte ich. »Auch wenn er ein wenig unbeständig ist.«
Das gefällt ihm. »Ein wenig unbeständig. Allerdings.« Er starrt mich an. »Ein wenig unbeständig. Und vermutlich wissen Sie auch, dass ich mir diesen Ruf bereits vor dem Ende meiner Ehe erworben habe?«
»Ich höre nicht auf Gerüchte«, sage ich, was einem Ja entspricht. Man munkelte, dass Harland seine Frau Natalia schon seit Jahren betrogen hatte. Mein Herzschlag beschleunigt sich wieder.
Harland dreht sich zum Fenster. Er hat das Licht eingeschaltet, das meinen Sitzplatz an der Tür hell erleuchtet, ihn aber im Halbdunkel belässt, und außerdem einen eindrucksvollen Blick durch das Fenster gewährt, vor dem die Lichter der Großstadt blinken wie ein Flipperautomat.
»Es ist eine Schwäche von mir«, fährt er fort. »Jüngere Frauen. Nicht so jung natürlich. Wir reden hier nicht von Teenagern.«
»Harland«, sage ich.
»Okay, in Ordnung.« Er braucht einen Moment, blickt in meine Richtung und dann zum Fenster, bevor er es ausspuckt.
»Diese Schwäche«, sagt er, »dehnte sich auch auf Ellie Danzinger aus.«
 
Brandon Mitchum windet sich in seinem Bett. Was er den Detectives gerade anvertraut hat, bereitet ihm eindeutig Unbehagen.
McDermott starrt an die Wand über Mitchums Kopf und versucht zu begreifen, wie das alles zusammenpasst. »Wollen Sie damit sagen, Cassie hat geglaubt, ihr Vater hätte Sex mit Ellie Danzinger?«
Mitchum schweigt, aber McDermott hat ganz offensichtlich richtig gehört.
»Wann hat Cassie Ihnen das erzählt?«, will Stoletti wissen.
»Oh, etwa um dieselbe Zeit. Kurz vor den Prüfungen. Im Mai oder Juni. Ich weiß«, fügt er mit nervösem Lachen hinzu, »das ist ein ziemlicher Hammer.«
Ein ziemlicher Hammer, das war eine Art, es auszudrücken. Aber es deckte sich mit Harland Bentleys Ruf, ein reicher Playboy zu sein. Es schien, als hätte Cassie Bentley wirklich ein hartes Semester durchgemacht. Sie verdächtigte ihre beste Freundin, mit ihrem Vater zu vögeln, und sie war schwanger.
»Das war aber nur eine Vermutung«, hakt Stoletti nach. »Kein erwiesener Fakt.«
»Richtig. Cassie glaubte es, konnte es aber nicht beweisen. Sie wollte es rauskriegen.«
»Woher wissen Sie, dass ihr das nicht gelungen ist?«, fragt McDermott. »Es könnte doch sein, dass sie ihren Verdacht bestätigt fand.«
Mitchum schüttelt langsam den Kopf, was ihm anscheinend Schmerzen bereitet. Er berührt seinen Gesichtsverband. »Das hätte sie mir gesagt«, erklärt er bestimmt. »Sie hätte es mir erzählen müssen. Ich hatte ihr das Versprechen abverlangt.«
»Sie haben ihr ein Versprechen abverlangt?«
»Ja.« Mitchum befeuchtet seine trockenen Lippen mit der Zunge. »Ich hatte Sorge, wie sie darauf reagieren würde. Ich wollte in ihrer Nähe sein, damit sie …« Seine Augen werden schmal, sie fixieren eine sechzehn Jahre zurückliegenden Erinnerung.
»Damit sie sich nicht das Leben nimmt?«
»Ja, ich hielt das immerhin für vorstellbar. Wer konnte schon wissen, wie sie reagiert?«
Mitchums Kopf fällt zurück ins Kissen. McDermott tauscht einen Blick mit Stoletti, während er sich fragt, ob auch sie darüber nachdenkt, wie Cassie Bentley reagiert hätte.
Ob sie vielleicht mit ihrem Wissen zu ihrem Vater gegangen war.
 
Lange Zeit schweigen Harland und ich. Schließlich wiederhole ich seine Worte, um sicherzugehen, dass ich richtig gehört habe.
»Sie und Ellie hatten eine Affäre?«
»Oh, eine Affäre nicht unbedingt. Aber von Zeit zu Zeit, das ja. Sie war so …«
In der schützenden Dunkelheit auf seiner Seite des Raums hebt er den Kopf. Dann seufzt er ironisch. Jesus, dieser Bursche hatte seinen Schwanz wirklich nicht im Griff. Konnte er nicht mal die Pfoten von der besten Freundin seiner Tochter lassen?
»Sie war so – was, Harland? Jung? Sexy? Verboten?«
»Lebensfroh.«
»Oh, sie war so lebensfroh. Das erklärt natürlich alles.«
»Das kann ich von meinem Anwalt am allerwenigsten gebrauchen«, sagt er ruhig. »Moralische Urteile. Was ich bei meinem Anwalt suche, ist Schutz. Ich will nicht, dass das an die Öffentlichkeit gelangt, Paul. Das geht niemand etwas an.«
In gewissem Sinn hat er sogar recht, trotzdem dreht sich mir der Magen um. Ich mag es überhaupt nicht, über Dinge im Unklaren gelassen zu werden, wenn ich mit einem Fall vor Gericht ziehe. Er hätte es mir damals schon sagen müssen. Wir hätten es ohnehin als Nebensächlichkeit betrachtet, als einen zu vernachlässigenden Umweg. Wir hatten Burgos quasi mit blutigen Händen verhaftet, und es dauerte nur wenige Stunden, bis er den Mord an allen Frauen zugab. Ellie Danzingers Aktivitäten außerhalb der Universität hätten an seiner Schuld nicht das Geringste geändert.
»Wer wusste davon?«
Er räuspert sich. »Ellie«, sagt er, »und ich.«
»Sind Sie sicher?«
»Wir haben beide größten Wert auf Diskretion gelegt.«
»Ich glaube es einfach nicht«, murmele ich.
»Es ist mir gleichgültig, was Sie glauben oder nicht.« Harland tritt aus den Schatten hervor. »Sie haben Mörder verteidigt. Sie haben Manager verteidigt, die ihre Aktionäre betrogen haben. Sie haben uns bei diesem Umweltskandal in Florida vertreten. Hier handelt es sich um eine weit geringere Schuld. Also verteidigen Sie mich, Paul. Halten Sie das alles unter Verschluss.« Er steht mir jetzt direkt gegenüber. »Oder ich werde jemand anders finden, der es tut.«
Ich starre ihn an. Wieder erpresst er mich mit seinem Geld. Er weiß, dass ohne seine Aufträge ein Dutzend Anwälte meiner Firma auf der Straße säßen.
»Dann finden Sie jemand anders«, sage ich.
Er wirkt verblüfft, jedenfalls für seine Verhältnisse. Seine Augen forschen in meinem Gesicht nach einem plötzlichen Umschwung.
»Sie haben Angst.« Er nickt langsam. »So kenne ich Sie gar nicht.«
Er spricht dabei nicht von unserer Beziehung. Er spricht nicht von den Millionengeschäften, die er mir jedes Jahr überträgt.
Und er hat recht.
»Wer hat meine Tochter ermordet?«, fragt er mich.
Ich sage rasch: »Terry Burgos«, aber die Antwort überrascht uns beide – weil sie zu überhastet kommt, und weil ich damit der Frage überhaupt eine gewisse Berechtigung einräume. Vor drei Tagen wäre das noch undenkbar gewesen.
Sein Ausdruck wird ein wenig freundlicher, er wirkt fast amüsiert, zumindest will er, dass ich das glaube. Als hätte er vor nichts Angst.
»Ich werde rausfinden, was da vorgeht«, erkläre ich ihm.
»Selbst wenn sich Ihr Verdacht als unbegründet erweist.«
»Sogar dann.«
Ich wende mich zur Tür. Mit zittrigen Beinen steuere ich durch das Stockwerk. Der britische Leibwächter mustert mich misstrauisch, als ich die Ausgangstür aufstoße und in Richtung Aufzug eile.
 
»Es war ohnehin nicht von Belang«, sagt Brandon. »Warum also das Leben dieser Menschen grundlos in den Schmutz ziehen?«
»Ich habe Sie nicht gefragt, warum Sie es damals nicht der Polizei erzählt haben«, sagt McDermott. »Sondern warum Sie es uns heute nicht erzählen wollten. Fürchten Sie sich vor jemand, Brandon?«
Brandon winkt ab, als wäre McDermott auf einem ganz falschen Dampfer. Aber das ist er nicht. Mitchums ganze Haltung verrät es ihm.
»Harland Bentley«, tippt er.
Brandons Augen funkeln McDermott wütend an, dann schaut er wieder zur Seite. Ebenso gut hätte er nicken können.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Verhältnis zu Harland Bentley, Brandon.«
»Hören Sie, ich bin nicht der Einzige.« Das allein klingt schon wie ein Schuldeingeständnis, egal was da noch folgt. »Mr. Bentley ist einer der wichtigsten Mäzene dieser Stadt. Er spendet eine Menge Geld für Künstler.«
Oh. Richtig. Mitchum ist ja Künstler.
»Er hat mir durch die City Arts Foundation ein Stipendium zukommen lassen«, gibt er zu. »Okay?«
McDermott senkt den Kopf und blinzelt rüber zu Stoletti.
»Wann war das?«, fragt Stoletti.
»Nach meinem Abschluss in Mansbury. Etwa 92.«
»Er hat Ihnen 1992 ein Stipendium gewährt?«
»Ja. Okay – es ist ein Stipendium, das noch läuft. Es wird jedes Jahr erhöht.«
»Um wie viel?«, fragt McDermott.
»Oh.« Brandon wedelt mit der Hand. »Es fing bei fünfundzwanzigtausend an. Inzwischen sind es fünfundsiebzigtausend im Jahr.«
»Fünfundsiebzigtausend?« McDermott runzelt die Stirn. »Und was tun Sie dafür, Brandon? Warum ausgerechnet Sie?«
Das Gesicht des jungen Künstlers verfärbt sich ins Rötliche. Augenscheinlich kein Thema, über das er gerne spricht. »Er meinte, Cassie hätte gewollt, dass er mich unterstützt. Es sei ein Zeichen der Dankbarkeit, weil ich immer für sie da war.«
Ein Arzt kommt herein und will wissen, wann sie fertig sind. McDermott sagt, sie bräuchten noch fünf Minuten. Mitchum hat offenbar bereits auf ein Ende des Gesprächs gehofft. Der Arzt stellt sich neben McDermott, um zu unterstreichen, dass die Uhr tickt.
»Es war nichts falsch daran, dieses Stipendium zu akzeptieren«, sagt Mitchum.
McDermott nickt. »War zwischen Ihnen und Mr. Bentley je die Rede von den Dingen, die wir gerade besprochen haben?«
Brandon schüttelt den Kopf. »Nie.«
Stoletti fragt: »Hat er geahnt, dass Sie über ihn und Ellie Bescheid wussten?«
»Nein«, beharrt Brandon. »Es ist ja nicht mal sicher, ob es da überhaupt was zu wissen gab. Es war schließlich nur ein Verdacht, den Cassie hatte.« Er seufzt. »Ich wusste, dass mich das in Ihren Augen verdächtig machen würde. Aber Mr. Bentley spendet jährlich Millionen für die Kunst. Ich bin nur einer unter vielen. Ich hab nichts verbrochen.«
Der Arzt schiebt sich zwischen die Detectives und den Patienten. »So, das reicht für heute. Er braucht jetzt wirklich Ruhe.«
»Wir werden eine Wache vor der Tür aufstellen«, sagt McDermott zu Brandon. »Wenn Ihnen noch was einfällt, möchte ich, dass Sie mich anrufen.«
Sie treten hinaus auf den Flur. Stoletti verarbeitet noch das Gespräch, während McDermott das Display seines Handys überprüft. Keine Nachrichten.
Also, Cassie ist schwanger und führt ein unerfreuliches Gespräch mit dem jede Verantwortung ablehnenden Vater. Dann wird Cassie ermordet. Und kurz darauf bringt jemand Fred Ciancio dazu, ihm beim Einbruch in das Gebäude zu helfen, in dem Cassies Krankenakten lagern. Nichts davon ist eine bewiesene Tatsache, bis auf Cassies Tod. Aber es scheint durchaus logisch.
Ebenso unsicher ist, ob Cassies Vater wirklich was mit ihrer besten Freundin Ellie hatte. Entspricht das allerdings den Fakten, musste Cassie vor ihrer Ermordung eine ziemlich harte Zeit durchgemacht haben.
»Glaubst du, Cassie hat ihren Vater darauf angesprochen?«, fragt Stoletti. »Immerhin hat er eine Milliarde Dollar geheiratet und befürchtet dann vielleicht, seine Frau könnte rausfinden, dass er mit der besten Freundin seiner Tochter vögelt.«
»Wir hätten da noch jemand, der nicht wollen würde, dass Cassies Schwangerschaft publik wird. Professor Albany macht sich recht gut in der Rolle des Scheißvaters.«
»Und gerade zu diesem Zeitpunkt«, antwortet sie, »werden Cassie und Ellie zufällig tot aufgefunden.«
Richtig. Nur haben sie weder Belege dafür, dass Cassie schwanger war, noch dass Harland Bentley etwas mit Ellie Danzinger hatte.
Es gibt nur einen Weg, sich Klarheit zu verschaffen. McDermott muss sich mit Natalia Bentley Lake treffen, die morgen früh aus dem Urlaub zurückkehrt. Und gleich danach um zehn werden sie sich Harland Bentley vorknöpfen.
»Und den Professor setzen wir auch auf unseren morgigen Terminplan«, sagt er.
In Gottes Namen
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