5.
Kapitel
18.45 Uhr
Zeit spielte keine Rolle mehr. Befehle wurden
erteilt, Fakten recherchiert. Neue Erkenntnisse kamen im
Minutentakt herein. Das Team der Rechtsmedizinischen Abteilung
hatte sofort die Arbeit aufgenommen und bereits erste
Zwischenergebnisse zu jeder Toten geliefert. Langsam begannen auch
Hintergrundinformationen über die Opfer einzutreffen – und über
Burgos. Der Löwenanteil der Informationen musste vorläufig warten.
Es würde Tage in Anspruch nehmen, alles zu verarbeiten und zu
kategorisieren.
Riley blickte auf seine Uhr und stellte erstaunt
fest, dass es schon Abend war. Es hatte einen Schichtwechsel
gegeben, aber keiner der diensthabenden Cops war gegangen, und
alle, die heute eigentlich ihren freien Tag hatten, hatten sich ins
Revier aufgemacht, um freiwillig zu helfen. Die Polizeiwache quoll
über von Strafverfolgern, die bereit waren, alles Erforderliche zu
tun, um Terry Burgos hinter Gitter zu bringen.
Marion Park lag in der Nähe der City und war doch
etwas anderes. Zwar schlug man sich auch in Marion Park mit einem
gewissen Maß an Kriminalität herum, doch dieses Verbrechen spielte
in einer anderen Liga. Obendrein hatte sich das Ganze am Mansbury
College ereignet, einer der renommiertesten liberalen
Kunsthochschulen im Land und in gewissem Sinn die Lebensader dieser
kleinen Vorstadtsiedlung, die vom Ruhm des Colleges zehrte. Die
Stadt war nicht nur schockiert. Sie war zutiefst empört.
Terry Burgos hatte jede weitere Befragung
abgelehnt. Detective Lightner hatte die Miranda-Rechte verlesen und
gezielt Fragen zu jedem der inzwischen namentlich bekannten Opfer
gestellt – Elisha Danzinger, Angela Mornakowski, Jaqueline Davis,
Sarah Romanski, Maureen Hollis und Cassandra Bentley. Burgos hatte
sich geweigert, zu antworten oder Ligthner auch nur anzusehen,
hatte stumm in einer Ecke gesessen und leise mit dem Fuß gegen die
Wand geklopft. Also hatte Lightner ihn abführen lassen, und die
Ermittlungen hatten sich auf andere Aspekte verlagert, um die
Beweisführung hieb- und stichfest zu machen.
Riley suchte gerade in der Bibel nach den Stellen
auf dem Zettel aus Burgos’ Keller, als das hektische Stimmengewirr
in der Polizeiwache schlagartig verstummte. Riley hob den Kopf und
entdeckte Bezirksstaatsanwalt Edward Mullaney in Begleitung zweier
Leute, beide elegant gekleidet und makellos frisiert. Er war den
Bentleys noch nie persönlich begegnet, trotzdem erkannte er sie
sofort. Mullaney warf Riley einen Blick zu, und er folgte ihnen ins
Büro des Chiefs.
Chief Clark schüttelte gerade Harland Bentley die
Hand, als Riley eintrat. Natalia Lake Bentley saß teilnahmslos auf
einem Stuhl, das Gesicht rot und geschwollen. Mullaney fasste Riley
am Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Mrs. Bentley hat gerade Cassie
identifiziert.«
Riley nickte und stellte sich vor. Harland Bentley
trat betont geschäftsmäßig auf und nannte forsch seinen Namen,
während er Rileys Hand schüttelte. Er bediente sich der
verbindlichen Floskeln eines Geschäftsmeetings, ein ihm vertrautes
Terrain. Doch sein Gebaren war bloß aufgesetzt, ein
Abwehrmechanismus. Riley konnte die Qualen in Mr. Bentleys Gesicht
lesen, das verzweifelte Bemühen, seine Gefühle zu
unterdrücken.
Mrs. Bentley schaute kurz zu Riley auf. Sie war
wohlerzogen und wahrte nach außen hin die Haltung, auch wenn ihr
Gesicht gezeichnet war und die Augen tief in den Höhlen lagen – die
Augen einer Mutter, die gerade den entstellten Leichnam ihres
einzigen Kindes identifiziert hatte.
»Mrs. Bentley«, sagte Riley. »Mein tief empfundenes
Beileid. Wir haben den Mann gefasst, der das getan hat.«
»Ich will genau wissen, was er getan hat«, forderte
Harland Bentley mit rauer Stimme. »Sagen Sie mir, was passiert
ist.«
Riley zögerte und nickte mit dem Kopf in Richtung
von Mrs. Bentley.
»Ich habe gerade meine Tochter identifiziert – oder
das, was noch von ihr übrig ist«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
»Glauben Sie ernsthaft, irgendwas, das Sie zu sagen haben, könnte
mich jetzt noch schockieren?«
Der Gerichtsmediziner hatte bereits erste
Ergebnisse geliefert. Riley stellte sich das Ganze lieber in
klinischen Termini vor – Frakturen der Mandibulla, der Maxilla, des
Os lacrimale, Os nasale und hyoides, also Frakturen nahezu jedes
Gesichtsknochens und der allermeisten Schädelknochen -, aber in
schlichten Worten lief es darauf hinaus, dass die Vorder- und die
Oberseite von Cassies Schädel mit zahlreichen Schlägen zertrümmert
worden waren. Knochensplitter waren bis tief in ihr Gehirn
gedrungen. Die meisten ihrer Zähne hatte man im Hals gefunden. Sie
würden zahnärztliche Unterlagen heranziehen müssen für eine
offizielle Identifikation, auch wenn Riley nur in Mrs. Bentleys
Gesicht zu schauen brauchte, um zweifelsfrei zu wissen, dass es
sich um ihre Tochter handelte.
Die Bentleys wussten, was Burgos mit Cassies
Gesicht angestellt hatte. Das war es demnach nicht, wonach Mr.
Bentley gefragt hatte.
Riley atmete tief durch. »Nach Eintritt des Todes«,
erklärte er, »hat er ihr eine Kugel Kaliber.38 durch den Hals
geschossen.«
Mr. Bentley starrte ihn unverwandt an. Auch das war
ihm längst bekannt.
»Es kam zum Geschlechtsverkehr«, erklärte Riley
behutsam. »Nach Eintritt des Todes.«
Harland Bentley schloss die Augen, seine
Kiefermuskeln mahlten. Eine Weile sagte er gar nichts. Er schien
leicht zu schwanken.
»Bei Ellie auch?«, wollte Mrs. Bentley
wissen.
»Ja, Ma’am.«
Natalia Bentley legte sich eine Hand auf die Brust
und kämpfte einen Moment mit sich. In den nächsten Tagen wäre
sicher noch ausreichend Zeit, sie zu befragen, aber Riley erledigte
die Dinge gerne ohne Verzögerung.
»Mrs. Bentley, es tut mir leid, dass ich Sie das
fragen muss, aber es kursiert das Gerücht, Cassie hätte Probleme
gehabt. Disziplinarischer Natur.«
»Disziplinarische Probleme haben meine Tochter
nicht umgebracht«, sagte Mr. Bentley.
Riley ignorierte den Einwand. Selbst in ihrem
Schmerz mussten die Bentleys den Grund für seine Frage
verstehen.
»Ich würde eher sagen, emotionale Probleme.«
Mrs. Bentleys Augen wurden feucht, als Erinnerungen in ihr
aufstiegen. »Sie hat nach ihrem Platz im Leben gesucht. Sie hatte
ihn noch nicht gefunden.«
»Wie jedes Mädchen in ihrem Alter«, ergänzte
Harland.
»Nein, nicht wie jedes Mädchen.« Mrs.
Bentley schwenkte den Kopf in seine Richtung, vermied es aber, ihn
unmittelbar anzusehen. »Nicht jedes Mädchen wird in eine Welt des
Reichtums und der Privilegien hineingeboren. Das bedeutet eine
Bürde, an die man sich erst gewöhnen muss. Es ist nicht leicht,
funktionierende Beziehungen aufzubauen, wenn alle immer nur daran
denken, wie viel Geld man hat, und wie sie davon profitieren
könnten.«
Das mochte stimmen. Allerdings fragte sich Riley,
ob Natalia über ihre Tochter sprach oder über sich selbst. Zwischen
den beiden Ehepartnern schien eine gewisse Distanz zu herrschen.
Ihm war aufgefallen, dass Mrs. Bentley ihren Mann bisher nicht ein
einziges Mal angesehen hatte.
»Für mich war es mehr ein Ausloten von Grenzen«,
fügte sie hinzu. »Sie hatte dramatische Gefühlsausbrüche. Aber sie
hat nie jemandem wehgetan außer sich selbst.« Sie blickte zu Riley
auf, der ihr durch seine Miene zu verstehen gab, dass er gerne
etwas spezifischere Informationen gehabt hätte. »Sie hat sich
abgekapselt. Sie ging nicht mehr zum Unterricht, rührte kein Essen
mehr an, weigerte sich, mit irgendwem zu sprechen. Aber sie hat nie
jemand beschuldigt oder angegriffen. Und in ihrem Inneren war sie
ein reizender und großherziger Mensch.«
»Genug davon«, sagte Mr. Bentley. Er wandte sich an
den Bezirksstaatsanwalt. »Ich will, dass dieser Mann stirbt.«
Mullaney nickte. »Wir werden selbstverständlich die
Todesstrafe beantragen, Harland.«
Bentley schoss einen Blick auf Riley ab. »Können
Sie beweisen, dass er es war?«
»Zweifelsfrei, Sir.«
»Keine Deals mit dem Anwalt, keine Absprachen. Ich
will diesen Mann tot sehen.« Seine Augen wanderten wieder hinüber
zu Ed Mullaney, dann langte er nach dem Arm seiner Frau. Sie entzog
sich seinem Griff. Sie wollte sich nicht trösten lassen.
Nach weiteren Beileidsbekundungen seitens des
Bezirksstaatsanwalts schüttelte Harland Bentley ihm und Riley die
Hand und verschwand mit seiner Frau. Mullaneys förmliche Haltung
fiel in sich zusammen, sobald sie das Büro verlassen hatten.
»Jesus, du hättest dabei sein müssen, als Nat aus dem
Leichenschauhaus kam«, murmelte er. »Ich dachte, wir bräuchten auch
gleich noch einen Leichensack für sie.«
Riley nickte. Als U.S.-Bundesanwalt hatten
zerrüttete Familien nicht zu seiner Klientel gehört. Er bewegte
sich auf neuem Terrain. Und es sagte ihm nicht sonderlich zu.
Mullaney trat auf Riley zu. Der Mann wusste genau,
welches Gesicht er bei Pressekonferenzen zu Mordfällen aufsetzen
musste; Riley hatte schon öfter miterlebt, wie er dann betroffen
seine buschigen irischen Augenbrauen runzelte. Aber das hier war
nicht sein gewöhnlicher Ausdruck. Es war auch kein gewöhnlicher
Mord. Es war ein Massaker. Und die Tochter seines wichtigsten
Wahlkampfspenders befand sich unter den Opfern.
»Ich war öfter bei ihnen zu Hause«, sagte Mullaney.
»Ich hab Cassie kennengelernt. Ein wunderhübsches und absolut
reizendes Mädchen.« Er packte Pauls Arm. Eine Ader schwoll auf
seiner Stirn.
»Unnötig zu betonen, Paul«, sagte er, »aber wir
können uns hier keine Fehler erlauben.«