4. Kapitel
14.20 Uhr
Zwei der Detectives im Raum klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Der Chief klatschte erleichtert in die Hände. Riley hatte über die Jahre hinweg an zahllosen Vernehmungen teilgenommen und diesen Augenblick in vielen Variationen erlebt. Den Durchbruch. Den Moment, in dem der Verdächtige auspackte, aus Eitelkeit, schlechtem Gewissen, Frustration, aus Erleichterung oder aus Angst.
Dann kommt jetzt der harte Teil, dachte er. Im Grunde hatte Burgos’ Schuld außer Frage gestanden, seit sie einen Blick ins Innere seines Hauses geworfen hatten. Bei dem, was jetzt folgte, ging es um etwas völlig anderes.
»Ich habe Ihnen die Fotos von sechs ermordeten Frauen vorgelegt«, sagte Detective Joel Lightner, dem offenbar eingefallen war, dass das Tonband nichts aufzeichnen konnte, was nicht zu hören war. »Sie haben sie in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet. Und Sie haben gefragt …«
»Wo ist die Erste? Ellie?« Terry Burgos wedelte mit einem der Fotos herum und klatschte es dann auf den Tisch. Er sprang von seinem Stuhl auf und starrte in die Ferne. Riley hätte alles gegeben, um sein Gesicht besser sehen zu können. Dass Burgos ihm nur das Profil zuwandte, war Rileys eigenes Versäumnis. Eigentlich hätte der Verdächtige frontal zum Einwegspiegel sitzen sollen.
Außerdem konnte Riley immer noch nicht erkennen, in welcher Reihenfolge Burgos die Fotos sortiert hatte, obwohl er sich inzwischen hundertprozentig sicher war, dass sie genau der Abfolge der Leichen im Putzraum entsprach.
Drinnen begann Burgos mit einem Mal zu keuchen, obschon er weiterhin wie angewurzelt verharrte. Im Observationsraum waren bei Burgos’ heftiger Reaktion sofort einige Männer aufgesprungen, aber Riley hob die Hand. Joel Lightner, ganz der Profi, zeigte sich nicht im Mindesten beeindruckt von Burgos’ kleinem Ausbruch, auch wenn er seine Pistole vor der Tür gelassen hatte.
Er wusste, dass auf den kleinsten Wink hin ein Dutzend Beamte hereinstürzen würden.
Immer noch aufrecht vor seinem Stuhl stehend deutete Burgos auf das erste Foto der Sequenz, vermutlich das zweite Opfer, da Paul Ellie Danzigers Foto herausgenommen hatte. Es war das Mädchen, dessen Kehle aufgeschlitzt worden war.
»Columbian necklace«, sagte Burgos.
»Kolumbianische was?«, flüsterte Chief Clark.
Columbian necklace. Kolumbinanische Halskette. Paul zog sich den Finger quer über die Kehle. Slang. Eine Redewendung unter Drogendealern. Die Kolumbianer schlitzen ihren Konkurrenten die Kehle auf.
Burgos wandte sich dem nächsten Foto zu, vermutlich das dritte Opfer. »Assault with a battery.«
Assault and battery war im Englischen der juristische Fachausdruck für einen tätlichen Angriff. Darum schien es Burgos aber nicht zu gehen. Er hatte nicht gesagt assault and battery. Er hatte gesagt assault with a battery, Anschlag mit einer Batterie. Das dritte Opfer war mit Säure verbrannt worden.
»Batteriesäure«, murmelte Riley. »Nehmt euch seine Bücher vor«, rief er in den Raum hinein. »Und seine Musik. Es könnte auch ein englischer Song sein, den er da zitiert. Sofort.« Riley hörte, wie hinter ihm Befehle erteilt wurden und jemand den Raum verließ.
Burgos zeigte auf das nächste Opfer, vermutlich das Mädchen, dessen Gliedmaßen abgetrennt und dessen Augen herausgerissen worden waren. »Eye for eye, limb for limb.«
Auge um Auge, Glied um Glied. Eine Anspielung auf die Bibel, die dem entsprach, was Riley in Burgos’ Keller gesehen hatte.
Burgos wies auf das nächste Mädchen, das ertränkt worden war. »Someone taught her to sleep underwater.«
»Jemand hat sie gelehrt, unter Wasser zu schlafen? Dieser verfluchte Dreckskerl«, murmelte einer der Beamten hinter Pauls Rücken.
Burgos zeigte auf das nächste und letzte Opfer, Cassie Bentley. Cassies Gesicht war durch Schläge bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden – oder bis fast zur Unkenntlichkeit. Paul dachte an seine eigene Tochter und daran, wie es sich anfühlen mochte, sie so zerschmettert und blutig aufzufinden. Joel Lightner hatte Riley erklärt, es werde Jahre dauern, bis er wieder Lasagne essen könne.
»Now it’s time to say goodbye to someone’s family«, fuhr Burgos fort.
Paul lief es eiskalt den Rücken runter. Burgos sprach die Worte zur Titelmelodie des Mickey Mouse Club. »Stick it right between her teeth and fire so happily.«
Jetzt muss sich jemand von seiner Familie verabschieden. Schieb’s zwischen die Zähne und drück fröhlich ab. In beiden Räumen – im Observationsraum wie im Verhörzimmer – herrschte schlagartig Stille. Riley konnte das kollektive Entsetzen seiner Kollegen spüren. Der Verdächtige beschrieb die grausamen Details seiner Morde zur Melodie eines Kinderliedchens, und eines ziemlich dämlichen noch dazu.
Schieb’s zwischen die Zähne, hatte Burgos gesagt. Genau. Obwohl Cassies Gesicht zertrümmert worden war, hatten die Gerichtsmediziner an ihrem Hinterkopf den Austrittskanal einer Kugel und in ihrem Mund Pulverspuren entdeckt.
Detective Lightner schien Burgos nicht in seinem Vortrag stören zu wollen, doch als er nach gut einer Minute immer noch vor seinem Stuhl stand und stumm auf die Fotos starrte, war klar, dass er eines Anstoßes bedurfte. Riley, der seine Gefühle nur mühsam beherrschen konnte, war beeindruckt, dass Lightner dazu noch imstande war.
»Sie haben von der Ersten gesprochen, Terry.« Lightners Stimme zitterte leicht. »Haben Sie da auch einen Namen erwähnt?«
»Ellie.« Der Verdächtige – der Mörder, daran konnte jetzt kein Zweifel mehr bestehen – zeigte auf einen unbestimmten Punkt. »He openend a heart once so cruel.«
Er öffnete ein Herz. Ellie Danzingers Herz war herausgerissen worden.
Paul bemerkte erst jetzt, dass er stockend atmete und heftig schwitzte. Er blickte hinüber zum Chief, dessen Mimik Pauls eigenen Ausdruck widerspiegelte – unsicher, was er von diesem Spektakel halten sollte. Es war entsetzlich, bizarr – und faszinierend.
Und sie hatten den Täter gefasst, in weniger als einem halben Tag.
»Sie meinen Ellie?«, fragte Lightner.
Burgos schien einen Moment lang in Gedanken versunken.
Natürlich wusste Riley, dass Burgos Ellie Danzinger gemeint hatte. Er öffnete ein Herz. Er hatte ihr den Brustkorb aufgeschnitten, den ersten Untersuchungen zufolge nach Eintritt des Todes. Beamte bemühten sich bereits, Kontakt zu den Danzingers in Südafrika herzustellen. Das hier war der Mann, der ihre Tochter verfolgt und belästigt hatte und gegen den sie eine Schutzanordnung erwirkt hatte. Paul fragte sich, wie stark die Familie wohl auf Ellie eingewirkt hatte, Mansbury zu verlassen, um Abstand von Burgos zu gewinnen. Eines wusste er jetzt schon: Der Gedanke, sie hätten die Tragödie unter Umständen noch verhindern können, würde ihre Familie nie mehr loslassen.
»Sie war ein Geschenk«, murmelte Burgos.
Lightner reckte den Kopf vor. »Können Sie das bitte wiederholen, Terry?«
»Ellie.« Burgos hob eine Hand und führte sie langsam zur Stirn. »Sie war ein Geschenk Gottes.«
»Ellie war ein Geschenk Gottes. Okay.« Lightner war sich nicht sicher, was er damit anfangen sollte. Er hielt kurz den Atem an, warf sogar einen Blick in Richtung Riley und der anderen, obwohl er sie durch den Spiegel nicht ausmachen konnte.
»Was haben Sie vorhin über Ellie gesagt?«, fragte er. »Ihr Herz wurde geöffnet?«
Burgos hatte die Arme um sich geschlungen. Sein Kopf hing nach vorn, als wäre er tief in Gedanken versunken. Einen schier endlosen Moment verharrte er so. Lightner blieb vollkommen ruhig und beobachtete Burgos.
Dann legte Burgos den Zeigefinger an die Lippen. Sein Mund öffnete sich, und alle im Nebenraum beugten sich unwillkürlich vor.
Es war kaum mehr als ein Flüstern. »A girl who is cool to someone at school until he opens her heart once so cruel.«
Soweit Paul verstehen konnte, ging es um ein Mädchen, das in der Schule jemanden abblitzen lässt. Er musste an die Schutzanordnung denken, die Ellie Danzinger gegen Burgos erwirkt hatte.
»Hm.« Im Verhörzimmer bemühte sich Joel, ungezwungen und beiläufig interessiert zu klingen. Er zuckte mit den Achseln. »Hört sich fast an wie ein englisches Gedicht oder ein Lied oder so was.«
Auf der anderen Seite der Glasscheibe wandte sich Chief Clark an Paul. »Wir werden seine Bücher durchforsten.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Song ist.« Paul wies auf die Kopfhörer und den Walkman neben Burgos. »Fangen Sie am besten gleich mit dem Ding da an«, sagte er.
Irgendjemand hinter Pauls Rücken meldete sich zu Wort. »Was soll dieser Scheiß mit dem Geschenk Gottes?«
»Erzählen Sie mir von Cassie Bentley«, forderte drinnen Lightner Burgos auf. »War sie auch ein Geschenk Gottes?«
»Cassie.« Burgos schüttelte langsam den Kopf, und legte sich eine Hand auf’s Herz. »Cassie hat mich gerettet.«
»Wie das?« Lightner kratzte sich an der Wange, bemüht, so lässig wie möglich zu wirken. »Wie hat Cassie Sie gerettet, Terry?«
Burgos rieb sich heftig die Augen, dann verschränkte er die Arme über seiner Baseballkappe. Es schien, als hätte er Lightner nicht gehört.
»Sie haben von einem Mädchen gesprochen, das in der Schule jemanden abblitzen ließ, Terry.« Lightner versuchte es jetzt auf einem anderen Weg. »Dieser Jemand, sind Sie das, Terry? Hat eine Person in Mansbury Sie nicht gut behandelt? Hatte sie eine Strafe verdient? Sie meinen Ellie, stimmt’s?«
Paul bewegte sich unruhig hinter seiner Scheibe. Lightner gab sich alle Mühe, Burgos wieder ins Gespräch zu ziehen. Versuchte es mit allen Tricks – im Moment sogar mit Einfühlung. Aber vielleicht bemühte er sich etwas zu sehr.
»Waren Sie wütend auf Ellie? Hatte sie eine Lektion verdient?«
Terry Burgos’ Blicke huschten durch den Raum, er stützte die Hände in die Hüften. Seine Augen zuckten in alle Richtungen außer in die von Detective Joel Lightner.
»Ich glaub, ich will jetzt nach Hause«, erklärte er.
In Gottes Namen
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