1. Kapitel
Montag, 26. Juni 1989, 8.23 Uhr
Paul Riley folgte der motorisierten Polizeieskorte, manövrierte seinen Wagen durch die Absperrung und bremste neben einem Polizei-Jeep. Er schob den Schalthebel auf Parken, würgte den Motor ab und schickte ein leises Stoßgebet zum Himmel.
Bereit für den Sturm.
Er stieß die Tür auf, heiße, feuchte Luft quoll ins Wageninnere, und mit einem Mal schien es, als hätte jemand die Lautstärke aufgedreht. Ein Polizist kommandierte durch ein Megafon Schaulustige und Reporter hinter die Absperrgitter zurück. Journalisten schleuderten jedem Beamten in Sichtweite Fragen entgegen, und einige stürzten sich jetzt auch auf Riley, ein neues, unbekanntes Gesicht. Cops, Sanitäter und Techniker von der Spurensicherung schrien sich Anweisungen zu. Mit Mikrofonen bewaffnete TV-Reporter verkündeten vor laufenden Kameras die Sensationsnachricht. Und Hunderte von Neugierigen spekulierten darüber, was genau man im Inneren des Bramhall Auditorium gefunden hatte.
Riley wusste kaum mehr als sie. Es hieß, sechs Leichen lägen dort, alles junge Frauen und alle auf unterschiedliche Art verstümmelt. Und dann gab es noch die Information, die ihm sein Chef am Telefon mit nervöser Stimme weitergegeben hatte. »Angeblich ist eine von ihnen Cassie.«
Gemeint war Cassandra Bentley, Studentin am Mansbury College, und, was das Ganze noch bedeutsamer machte, Tochter des Milliardärehepaars Harland und Natalia Bentley. Alter Geldadel. Beziehungen bis in die höchsten Kreise der Politik. Allein schon der Name verströmte einen Geruch nach Macht und Wohlstand.
Riley spähte hinauf in den blutroten Himmel, wo drei Nachrichten-Helikopter über dem Mansbury College Campus kreisten. Er heftete sich die Dienstmarke ans Revers – sie war gerade mal drei Wochen alt – und hielt Ausschau nach einer Uniform. Davon gab es hier genügend und obendrein in allen Farben: Blau waren die Beamten der Marion Park Police, braun die Deputys des Bezirkssheriffs, weiß trugen die Mansbury-Sicherheitsleute und schwarz die Beamten eines anderen Gerichtsbezirks, die man wahrscheinlich eingeflogen hatte, um mit der Menschenmenge fertig zu werden.
Er nannte seinen Namen und seinen Rang, der ihm immer noch etwas ungewohnt über die Lippen kam. »Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt«. Nach seinem Chef war er der zweitwichtigste Mann in der lokalen Strafverfolgungsbehörde.
»Wer ist hier zuständig?«, fragte er.
»Lightner«, sagte der Cop und wies in Richtung Auditorium. Das Bramhall Auditorium erstreckte sich über den halben Block, ein gewaltiges, überkuppeltes Gebäude mit einem breiten Treppenaufgang aus Beton, einem von Granitsäulen flankierten Portal und gepflegten Rasenflächen zu beiden Seiten. Riley zählte die Stufen – es waren zwölf – und betrat die Lobby des Auditoriums.
Drinnen war es kaum weniger stickig. Die Klimaanlage war außer Betrieb. Ferien. Niemand hielt sich zu dieser Jahreszeit im Auditorium auf. Zutritt, dachte Riley. Wer hat hier befugten Zutritt?
Riley bewegte sich vorsichtig. Er war neu in seinem Job, aber mit Tatorten kannte er sich aus. Als junger Strafverfolger hatte er lange Jahre für die Bundesstaatsanwaltschaft gearbeitet und es dabei auch mit einer Straßengang zu tun gehabt, die vor blutiger Gewalt nicht zurückschreckte. Riley seufzte, als er die Unmengen von Untersuchungsbeamten im Inneren des Auditoriums entdeckte. Auch in solchen Fällen waren weniger immer mehr. Als er sich jedoch genauer umsah, wurde ihm rasch klar, dass das ganze beflissene Fingerabdrucknehmen um ihn herum ohnehin fruchtlos war. Dieses Auditorium, bestehend aus einer Lobby und einem gigantischen Hörsaal, fasste, die Ränge mit eingeschlossen, sicher ein paar tausend Leute. Vermutlich wäre es leichter, festzustellen, wer seine Fingerabdrücke hier nicht hinterlassen hatte.
In diesem Moment flog an einer Seitenwand der Lobby eine Tür auf – vermutlich führte sie ins Untergeschoss, zum Putzraum, wo man die Leichen entdeckt hatte. Ein Polizeibeamter torkelte heraus, riss sich die Gasmaske – mit integriertem Geruchsfilter aus Aktivkohle – vom Gesicht und übergab sich auf den Steinboden.
Riley fluchte stumm. Vorortcops. Als ehemaliger Bundesbeamter hegte er zwar auch gegen anmaßende Großstadtpolizisten eine natürliche Abneigung, aber alles war besser als ein Vorortcop. Doch Zuständigkeitsbereich war nun mal Zuständigkeitsbereich. Er arbeitete eben nicht mehr fürs FBI.
Riley befreite den bleichen, sich den Mund wischenden Polizisten von seiner Gasmaske. Er wies ihn an, die Sauerei zu beseitigen und draußen frische Luft zu schnappen. Dann atmete er tief ein und öffnete die Tür.
Sie führte zu einem Treppenhaus, das von unzähligen Fußabdrücken verschmutzt war. Er vermied es, das hölzerne Geländer zu berühren. Als er den Treppenabsatz erreichte, hielt er kurz inne, bevor er die letzten Stufen in Angriff nahm.
Unten im Kellergeschoss entdeckte Riley nur zwei Streifenbeamte. Einer von ihnen stand im stillgelegten Aufzug. Offensichtlich war die Hektik der Spurensicherung schon vorüber.
Der Kellerflur war breit, auf beiden Seiten gähnten schwere Eisentüren, einige der Lagerräume hatte man bereits erfolglos durchsucht. Auf dem Weg den Gang hinunter zum letzten, entscheidenden Raum merkte Riley, wie sich seine Schritte unwillkürlich verlangsamten.
Er wappnete sich innerlich, bevor er den Fuß über die Schwelle der letzten Tür setzte.
Ein großer Raum mit Reihen von verschlossenen Spinden und Regalen, in denen sich Chemikalien und Putzmittel stapelten. Es gab Schrubber, Besen und einen überdimensionierten Abfalleimer, an dem Sprayflaschen mit lila und blau gefärbten Reinigungsflüssigkeiten hingen. Und auf dem nackten Boden, sorgsam aufgereiht, die Arme am Körper, die Beine eng zusammen, lagen sechs Leichen.
Es war schwer zu erklären. Zwar hieß es immer, bestimmte Dinge könnte man nicht in Worte fassen. Aber das traf es nicht. Er wusste einfach nicht, wo er anfangen und wo er aufhören sollte. Er hatte Fotos von Dachau und Auschwitz gesehen, aber das waren Bilder gewesen, die das Grauen nur in zwei Dimensionen einfingen. Jetzt versuchte er, sich diese Erfahrung zunutze zu machen, als eine Art Abwehrmechanismus; versuchte, diese sechs grausam entstellten Mädchen zu betrachten wie ein Foto in einem Buch und den Aufruhr in seinem Magen und das durch den Körper pulsende Adrenalin zu ignorieren. Er bemühte sich, ruhig zu atmen, klar und analytisch zu denken.
Das erste Opfer war blond, ein junges und dem oberflächlichen Eindruck nach ausgesprochen hübsches Mädchen, auch wenn die gelbliche Färbung ihrer Haut sie eher wie eine Wachsfigur wirken ließ. Die tiefe Platzwunde an ihrem Hinterkopf war aus seinem momentanen Blickwinkel kaum zu erkennen. Unübersehbar dagegen war die Wunde in ihrem Brustkorb, dort, wo früher ihr Herz geschlagen hatte. Der Ausdruck Wunde traf es allerdings nicht ganz. Vielmehr schien ihr das Leben selbst mit äußerster Brutalität entrissen worden zu sein.
Zweites Opfer: Der Schnitt in ihrem Hals klaffte so tief, dass es aussah, als würde der Kopf gänzlich abfallen, wenn man sie anhob. Auch ihre Haut war bleich und wächsern. Auf Riley wirkte sie mehr wie eine Schaufensterpuppe und weniger wie ein Mensch; aber vielleicht war auch das nur eine Art Abwehrmechanismus seinerseits. Möglicherweise war es für den Moment leichter, die Frauen als bloße Objekte zu betrachten. So wie es auch die Angreifer taten.
Das Opfer neben ihr war ebenfalls nackt. Ihr ganzer Körper war von Säure verbrannt, bis hinab zu den Händen und Füßen. Die Gesichtshaut hatte sich abgeschält, der blanke Schädelknochen ragte hervor, und die Augäpfel starrten gespenstisch aus ihren Höhlen. Man würde sie mit Hilfe eines Gebissabdrucks identifizieren müssen. Und möglicherweise befand sich an ihrer einen Hand noch ausreichend Haut für einen Fingerabdruck.
Der Tod des vierten Opfers schien weniger lange zurückzuliegen als bei den vorigen drei. Die Haut besaß noch einen Anflug natürlicher Färbung, dennoch war auch sie nach Rileys Einschätzung nicht erst kürzlich gestorben. Ihre Arme und Beine waren abgetrennt worden, ruhten jedoch wieder an ihrem ursprünglichen Ort, wie bei einer zerrissenen Gliederpuppe. Ihre Augenhöhlen waren blutige Löcher. Die Augäpfel waren mit einem stumpfen Gegenstand herausgehebelt worden.
Die Augen des fünften Opfers waren weit aufgerissen, ebenso ihr Mund, und die geplatzten Äderchen an Hals und Gesicht ließen auf Erstickungstod schließen.
Das letzte Opfer schien auch das frischeste zu sein, wie Riley aus der Farbe der Haut schloss – und weil die Anordnung der Leichen offenbar einer Chronologie folgte. Ihr Gesicht war von Schlägen verunstaltet, die vor dem Tod erfolgt sein mussten, die Nase war mehrfach gebrochen, die Knochen über Augen und Wangen zertrümmert, die Schädeldecke zu Brei geschlagen. Ihr dunkles Haar, verklebt mit getrocknetem Blut und Hirnmasse, stand in alle Richtungen ab. Bei der Toten musste es sich, nach allem, was man ihm erzählt hatte, um Cassandra Bentley handeln.
Sechs junge Frauen waren hier aufgereiht worden wie Vieh auf dem Schlachthof, nachdem man sie bestialisch ermordet und auf unterschiedliche Arten verstümmelt hatte.
Gut, er hatte es gesehen. Es war wichtig, einen Eindruck vom Tatort zu bekommen, wenn man den Fall vor Gericht bringen wollte. Und es bestand kein Zweifel, dass Riley diesen Fall übernehmen würde.
Den ganzen Körper wie unter Strom und mit benommenem Schädel stieg Riley die Stufen wieder hinauf. Weder im Flur noch im Treppenhaus gab es Blutspuren. Der Täter hatte sich nicht hier mit ihnen vergnügt. Sie waren woanders ermordet und dann ins Auditorium geschafft worden.
Als er die Tür zur Lobby aufstieß, nickte ihm ein hoch aufgeschossener Mann mit dunklen Locken zu. »Paul Riley? Joel Lightner. Chief Detective der Marion Park Police.«
Riley setzte die Gasmaske ab und schüttelte Lightner die Hand. Joel Lightner war schätzungsweise Mitte dreißig und hatte ein rundliches Kindergesicht. Riley fragte sich, wie viele Detectives eine Kleinstadt wie Marion Park wohl beschäftigte.
»Chief Harry Clark«, sagte Lightner und deutete hinter sich. Clark gehörte zu dem Schlag von Polizisten, die ohne Uniform teigig und konturlos wirken. Schlaffe Haltung, fett um die Hüften, fliehendes Kinn, kleine Augen, und das schüttere Haar militärisch kurz geschnitten.
»Und Walter Monk, der Sicherheitsbeauftragte von Mansbury.«
Alle begrüßten sich mit Handschlag und begannen Informationen auszutauschen. Lightner klappte sein Notizbuch auf und las die Liste der Verletzungen vor. Das erste Mädchen, Schlag gegen den Schädel und Herz entfernt; zweites Mädchen, Kehle aufgeschlitzt bis fast zur Enthauptung; drittes Mädchen, mit Schwefelsäure verbrannt; viertes Mädchen, Arme und Beine abgetrennt, Augen ausgestochen; fünftes Mädchen, stranguliert oder ertränkt; letztes Mädchen, schwere Schläge gegen Gesicht und Schädel, einzelne Schusswunde im Gaumen.
»In allen Fällen kam es zum Geschlechtsverkehr«, fügte Lightner hinzu. »Laut Gerichtsmediziner ist das erste Opfer etwa eine Woche alt. Jede in der Reihe scheint etwas frischer als die … Also möglicherweise ein Mord pro Tag, über eine Woche hinweg. Der letzte vermutlich gestern.«
»Sie lagen eine Woche hier unten, ohne dass jemand was davon mitgekriegt hat?«
Monk, der Sicherheitstyp, musste an die sechzig sein. Er nickte bedächtig mit seinem schnabelartigen Gesicht. »Zwischen Frühjahrssemester und den Sommerkursen sind zwei Wochen Ferien. Da macht die ganze Schule dicht.«
Und der Täter, überlegte Riley, hat das gewusst.
»Das letzte Opfer ist Cassie Bentley?«, fragte er. »Das reiche Mädchen?«
Monk seufzte. »Schwer, das mit Bestimmtheit zu sagen. Sie wurde übel zugerichtet.«
Riley musste ihm recht geben. Das Gesicht des armen Mädchens war vollkommen zerstört. Wie auch beim dritten Opfer würden sie zahnärztliche Unterlagen zur zweifelsfreien Identifikation heranziehen müssen.
»Ich gehe aber davon aus«, sagte Monk. »Zumal Ellie die Erste in der Reihe ist.«
Riley merkte auf. Er warf einen fragenden Blick in die Runde.
»Elisha Danzinger«, klärte ihn Lightner auf. »Kurz Ellie. Sie und Cassie haben sich ein Zimmer im Studentenwohnheim geteilt. Busenfreundinnen.«
Riley wandte sich an Monk. »Wie viele Studenten haben Sie hier in Mansbury?«
Monk runzelte die Stirn. »Etwa viertausend.«
»Viertausend. Und wieso kennen Sie ausgerechnet die beiden so gut?«
Monk stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Jeder hier kennt Cassie Bentley. Schließlich ist sie eine Bentley.« Sein Ausdruck wurde säuerlich. »Außerdem hat sie immer wieder für Ärger gesorgt. Disziplinarische Probleme. Cassie ist ein bisschen – also, sie ist ein schwieriges Mädchen.«
Lightner stieß Monk an. »Erklär ihm, was du mir gerade über Ellie erzählt hast.«
»Tja, Ellie.« Monk holte tief Luft. »Ellie hatte Probleme mit einem Angestellten vom College. Einem Aushilfshausmeister. Der Kerl hat alle möglichen Arbeiten erledigt. Anstreichen, asphaltieren, Instandhaltung. Er war damals dem Block hier zugeteilt.«
»Und?«
»Er hat Ellie auf dem Campus verfolgt. Ein Stalker. Letztes Jahr ging sie vor Gericht und hat eine Unterlassungsklage erwirkt. Und natürlich haben wir ihn gefeuert.«
Riley dachte kurz nach. Eine Aushilfe des Hausmeisters. Schlüssel für alle Gebäude und das Auditorium. Kannte die Stundenpläne und Ferienzeiten. »Ellie ist die, der das Herz rausgerissen wurde? Die Erste?«
Alle nickten.
»Kennen Sie den Kerl? Diese Aushilfskraft?«
»Er heißt Terry Burgos«, sagte Monk. »Ich hab seine Adresse hier.«
Riley warf Lightner einen Blick zu. Brauchte er eine Extraaufforderung?
»Ich nehme ein paar Streifenwagen mit«, sagte Lightner.
»Warten Sie«, sagte Riley rasch. »Ich brauche ein Telefon. Und holen Sie mir einen von den Staatsanwälten ran. Wir gehen kein Risiko ein. Umstellen Sie vorerst nur das Haus. Wenn er einer Durchsuchung zustimmt, gehen Sie rein. Andernfalls unternehmen Sie nichts, bis Sie von mir hören.«
Lightner starrte Riley an. Cops verschafften sich mit allen möglichen Methoden Zutritt und redeten sich nachher auf irgendeine Zwangslage heraus.
»Niemand vermasselt mir die Durchsuchung durch eine voreilige Aktion«, erklärte Riley bestimmt. »Haben wir uns verstanden?«
Nachdem Lightner verschwunden war, trieb Riley eine junge Assistenz-Staatsanwältin auf und schickte sie wegen des Durchsuchungsbefehls zu einem Richter. Dann fand er ein Telefon im Verwaltungstrakt der Schule und rief seinen Boss an, Bezirksstaatsanwalt Ed Mullaney. »Sie sollten lieber Harland Bentley verständigen«, erklärte Riley. Er blickte aus dem Fenster hinauf zu dem kreisenden Nachrichten-Helikopter. »Wenn er es nicht ohnehin schon weiß.«
In Gottes Namen
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