26.
Kapitel
McDermott verliert fast eine ganze kostbare Stunde
im Büro des Lieutenants beim Gespräch mit Commander Briggs, einigen
hohen Tieren der Bezirksstaatsanwaltschaft und dem Pressesprecher
des Departments. Eine Versammlung von Politikern, die ständig den
Abstieg fürchten und nach Aufstiegschancen schielen. Die meiste
Zeit verwendet er nicht etwa darauf, sie über den aktuellen Stand
der Ermittlungen zu informieren, sondern ihnen beim Formulieren
einer Pressemeldung zu helfen, die sie irgendwann werden
herausgeben müssen. Diese Typen haben es zu einer regelrechten
Kunst entwickelt, auf hundert verschiedene Weisen nichts zu
sagen.
Als er endlich zu seinem Schreibtisch zurückkehrt,
wartet dort Carolyn Pendry auf ihn, tigert auf und ab und spricht
in ihr Handy. Ihr Schmerz hat sich in stählerne Entschlossenheit
gewandelt, was ihm den Umgang mit ihr etwas erleichtert. McDermott
mag keine Gefühlsausbrüche bei Opfern oder deren Angehörigen, und
im Moment ist das einzige Anzeichen von Trauer ihre leicht
verschmierte Wimperntusche. Er hat keine Ahnung, mit wem sie redet,
aber es scheint kein sonderlich erfreuliches Gespräch zu
sein.
»Ich weiß das zu schätzen«, sagt sie. »Und ja, ich
habe Ihre Handynummer.«
Er wirft einen kurzen Blick auf seinen
Schreibtisch, der inzwischen überquillt von Unterlagen zu den
Mordfällen Fred Ciancio und Evelyn Pendry. Inventarlisten,
vorläufige Obduktionsberichte, Fotos, Laboruntersuchungen von
Spuren am Tatort beziehungsweise dem Fehlen von solchen.
Schwer zu sagen, ob es sich um einen
Nachahmungstäter handelt oder nicht. Aber sein Instinkt verrät ihm,
dass der Täter, wer auch immer es ist, lustig so weitermachen wird.
Als Nächstes steht ihnen ein Mord mit einem verdammten Rasiermesser
ins Haus. Das bietet keinerlei verwertbaren Hinweis. Aber der
vierte Mord soll mit einer »Trim-Meter-Kettensäge« verübt werden.
Da sieht die Sache schon anders aus. Sie haben nicht nur die Art
der Waffe, sondern sogar das Modell. Er braucht unbedingt die
Adressen sämtlicher Händler in der Gegend, die diese Marke
verkaufen.
»Ich versichere Ihnen, Sie sind der Erste, der
einen Kommentar von mir kriegt, sobald ich einen habe.« Carolyn
Pendry klappt mit trotziger Miene das Handy zu. Unter anderen
Umständen würde diese Frau einen starken erotischen Reiz auf
McDermott ausüben. Sie hat wirklich Mumm. Das kurze Gefühl der
Erregung lässt ihn an Joyce denken. Man vermisst alles an einer
Frau, wenn sie erst mal weg ist. Bevor sie Grace bekamen, und bevor
alles den Bach runterging, mein Gott, da waren sie wie hungrige
Tiere.
»Meine Kollegen lassen mir keine ruhige Minute«,
erklärt sie. »Jeder ruft mich an, um mir sein Beileid
auszusprechen, aber irgendwann taucht unvermeidlich die Frage nach
einem Kommentar auf. Alle wollen die Insiderstory. Sie sind mir
permanent auf den Fersen.« Sie bemerkt den Ausdruck auf McDermotts
Gesicht. »Und nein, Detective, die Ironie daran entgeht mir
nicht.«
»Ich hatte nicht vor, mich dazu zu äußern.«
»Es gibt einen Grund, warum ich hier bin.« Sie
räuspert sich mehrfach. »Vor zwei Wochen habe ich eine
Sondersendung über Terry Burgos gemacht. Am Jahrestag seiner
Hinrichtung. Am fünften Juni.«
»Okay.«
Sie senkt den Kopf, kämpft mit sich. Der Job dieser
Frau erfordert extreme Selbstbeherrschung, und sie meistert die
Herausforderung mit Brillanz. »Ich sagte in dieser Sendung, er sei
geisteskrank gewesen.« Sie zwingt sich, das Wort auszusprechen.
»Und dass man ihn nicht hätte verurteilen dürfen. Man hätte ihn
einsperren und behandeln müssen, anstatt ihn hinzurichten.«
Ihm drängen sich ein paar Fragen dazu auf, aber sie
bleiben unausgesprochen.
»Ich nehme an, ich habe damit jemand von der Leine
gelassen.« Sie schüttelt langsam den Kopf. »In der Sendung habe ich
auch gesagt, dass jeder, der solche Texte in die Tat umsetzt und
sie als Wort Gottes betrachtet, einfach geisteskrank sein muss.
Gleichgültig, wie man Geisteskrankheit juristisch definiert.«
Okay. Sie befürchtet also, dass sich jemand mit
ähnlichen Fantasien wie Burgos darüber aufgeregt hat, als
durchgeknallt bezeichnet worden zu sein, und nun etwas dagegen
unternehmen will.
»Aber warum Ihre Tochter?«, fragt er.
»Weil es keine …« Sie stockt und legt sich eine
Hand auf die Brust, um ihre Gefühle im Zaum zu halten. Flüsternd
bringt sie den Satz zu Ende. »Weil es keine grausamere Art gibt,
mich zu treffen.« Sie wendet McDermott den Rücken zu und beginnt
leise zu weinen.
»Ich verstehe Ihre Befürchtungen«, sagt McDermott
sanft. »Aber da ist noch Fred Ciancio, der Sie damals wegen
angeblicher Informationen angerufen hat und es jetzt erneut bei
Evelyn probiert hat. Wir haben den Eindruck, als wäre Evelyn dem
nachgegangen. Und jetzt sind beide tot. Wenn hier jemand von der
Leine gelassen wurde, dann nicht unbedingt aufgrund Ihres
Fernsehkommentars.«
Sie dreht sich um. McDermotts Ausführungen scheinen
sie ein wenig zu trösten, trotzdem kann sie das Gefühl der Schuld
anscheinend nicht abschütteln. »Ich hätte damals an Fred Ciancio
dranbleiben müssen«, erklärt sie mit erstickter Stimme. »Er klang
so verängstigt am Telefon. Und als ich ihn dann besuchte und ihm
klar wurde, dass ich seinen Anruf bis zu seinem Haus zurückverfolgt
hatte, wurde er regelrecht panisch. Ich hatte wirklich den
Eindruck, es ging um etwas sehr Schwerwiegendes. Aber er weigerte
sich, auch nur ein Wort mit mir zu wechseln. Er hatte kalte Füße
gekriegt. Und kurz darauf fing ja der Prozess an.«
»Jeder hätte die Sache an dieser Stelle auf sich
beruhen lassen«, beschwichtigt er sie. »Sie haben es mehrfach
versucht, Sie haben Informationen über ihn eingeholt, er war
Wachmann in einem Einkaufszentrum, aber er weigerte sich, mit Ihnen
zu sprechen. Mehr hätten Sie nicht tun können.«
Sie schüttelt den Kopf. »Lass nie locker, hab ich
immer zu Ev gesagt. Versuch es auf allen denkbaren Wegen. Hol dir
deine Story.«
Was sie im Fall von Fred Ciancio ganz
offensichtlich auch getan hatte.
»Haben Sie Ciancio Ihrer Tochter gegenüber je
erwähnt?«, fragt er.
Sie nickt. »Das muss schon eine ganze Weile her
sein.« Ihre Augen richten sich auf einen unbestimmten Punkt im
Raum. »Einige Jahre, nehme ich an. Viele Jahre. Ich hab ihr immer
von meiner Arbeit erzählt. Sie hat sich alles gemerkt. Deshalb ist
sie so eine …«, es schnürt ihr die Kehle zu, »… ich meine, war sie
… Entschuldigung, tut mir leid.« Sie beißt auf ihre Faust und
schließt die Augen.
»Kein Problem, Miss Pendry.« Er kann sich gut
vorstellen, wie Evelyn Pendry reagiert hat – vor so langer Zeit
hatte sie von ihrer Mutter die Geschichte über Fred Ciancio gehört,
eine Spur, die ins Leere verlief, ein nagender Zweifel -, und dann
meldete sich plötzlich eben dieser Mr. Ciancio bei ihr, um mit ihr
zu sprechen.
McDermotts Handy klingelt.
»Haben Sie schon ihren Computer gefunden?«, fragt
Carolyn.
»Nein.« Evelyn hat einen Laptop besessen, aber er
ist weder in ihrer Wohnung noch in ihrem Büro. Die Vermutung liegt
nahe, dass der Mörder ihn mitgenommen hat.
McDermott wirft einen Blick auf das Display und
entschuldigt sich für einen Moment.
»Kopecky, was gibt’s?«
»Mike, diese weibliche Leiche im Müll, die in
deiner Nachbarschaft.«
»Die Leiche im Müll? Kopecky, was zum Teufel soll
das? Du müsstest eigentlich längst …«
»Wir haben gerade einen Anruf aus dem Labor
erhalten«, unterbricht ihn Kopecky. »Du wirst nicht glauben, was
die rausgefunden haben.«