53. Kapitel
Am nächsten Tag erwache ich auf einer schmalen Liege am Fußende von Shellys Krankhausbett. Sie ist allein in einem großen Privatzimmer untergebracht, so dass Gouverneur Trotter und seiner Frau das Nachbarbett zur Verfügung steht. Mein Kopf lässt sich nur mit Mühe anheben. Die Ärzte schauen gerade nach Shelly, die sich relativ gut von den Torturen erholt hat.
Die toxikologische Untersuchung hat ergeben, dass ihr Gamma Hydroxybutyrat – GHB – injiziert wurde, ein Wirkstoff, der das zentrale Nervensystem lahmlegt. Sie vermuten, dass ihr im Abstand von etwa zwölf Stunden zweimal eine größere Dosis davon verabreicht wurde, so dass sich ihr Körper praktisch die ganze Zeit in einer Art künstlichem Koma befand. Das Ganze wird jedoch keinerlei bleibende Schäden hinterlassen.
Außerdem hat sie vermutlich eine Gehirnerschütterung, die nicht weiter gravierend ist und von dem Überfall im Bad herrührt. Sie ist nicht vergewaltigt worden. Abgesehen davon, dass er sie als Druckmittel benutzen wollte, hatte Leo Koslenko kein weiteres Interesse an ihr.
Gestern um die Mittagszeit hat Shelly das Bewusstsein wiedererlangt. Sie leidet unter einer retrograden Amnesie, daher kann sie sich an nichts erinnern: nicht an den Angriff und auch nicht an den Tag danach. Dafür bin ich sehr dankbar.
Vermutlich hat er sie unter der Dusche erwischt, wo sie wehrlos war, denn normalerweise lässt sich Shelly nicht leicht einschüchtern.
So gegen Mittag verlasse ich das Krankenhaus wieder. Ihre gesamte Familie umsorgt sie, streichelt und hätschelt sie. Ihr Verhältnis mir gegenüber ist momentan eher gespannt, was nur verständlich ist. Ich habe sie zwar gefunden, aber andererseits wäre sie ohne mich gar nicht erst in die ganze Sache reingeraten. Jedenfalls fühle ich mich wie ein Außenseiter bei einem Familientreffen. Ich küsse Shelly auf die Wange und verspreche ihr, dass ich bald wieder zurück bin.
Ich benutze den Notausgang, um den Heerscharen von Medienvertretern vor dem Haupteingang zu entgehen. Während ich hinaus in die helle Mittagssonne trete, ziehe ich mein Handy hervor. Ich bitte die Auskunft um eine Nummer. Als man mich durchstellt, nimmt eine Frau meinen Anruf entgegen.
»Dr. Morse, bitte«, sage ich. »Hier ist Paul Riley.«
»Möchten Sie einen Termin vereinbaren, Mr. Riley?«
»Nein. Ich will ihn nur kurz was fragen. Es ist dringend.«
Ich blicke mich um, stelle sicher, dass ich unbeobachtet bin, keine Reporter, keine Polizei, niemand. Dann warte ich, dass Dr. Morse ans Telefon kommt, obwohl ich seine Antwort bereits kenne.
 
Im Polizeirevier sagen sie mir, McDermott sei im Observationsraum, und überraschenderweise erklärt sich auch sofort jemand bereit, mich dorthin zu eskortieren. Als ich den Raum betrete, lehnt er am Beobachtungsfenster und starrt in einen der Vernehmungsräume, den Hemdkragen aufgeknöpft, die Ärmel hochgerollt. Er mustert mich aus dunklen, leblosen Augen.
Im Vernehmungszimmer sitzt Natalia Lake in aufrechter Haltung, Zigarettenqualm umhüllt ihr verwittertes Gesicht.
»Natalia hat zugegeben, dass Cassie Ellie getötet hat.« Er nickt in ihre Richtung.
Ich stelle mich neben ihn. Ich war mir nicht sicher, ob Natalia damit rausrücken würde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass jemand anders sie dazu veranlasst hat.
»Allerdings weiß sie nicht, was danach geschah. Sie sagt, sie hätten sich vor der Polizei zu Tode geängstigt, aber es sei nie jemand gekommen. Sie vermutet, dass Terry Burgos mitgekriegt hat, was in Ellies Apartment geschah, und später die Leiche mitgenommen hat. Ihrer Ansicht nach hat Burgos kurz darauf Cassie getötet, um sich an ihr zu rächen.«
Die gleiche Story hat sie mir schon gestern in ihrem Haus aufgetischt. Cassie hat Ellie zwar umgebracht, aber der ganze Rest ist frei erfunden.
Bloß das werde ich McDermott nicht verraten. Nicht jetzt jedenfalls. Vielleicht nie.
»Glauben Sie ihr?«, frage ich.
Er überlegt einen Moment, seine Kiefer mahlen. »Keine Ahnung. Zumindest kann ich im Moment nichts anderes beweisen.« Er nickt mir zu. »Auf jeden Fall deutet alles darauf hin, dass Burgos die Nutten tatsächlich getötet hat.«
Das hat er. Koslenko hat es mir verraten. Aber was macht McDermott in diesem Punkt so zuversichtlich?
»Ich habe einen schnellen DNS-Test für die Mansbury-Mädchen angeordnet. Gerade sind die Ergebnisse eingetroffen. Die Prostituierten hatten seinen Samen in sich und auch sein Blut. Der Geschlechtsverkehr fand vor dem Tod statt, also ist es ziemlich sicher, dass er sie getötet hat.«
So weit, so gut. Aber im Falle von Ellie und Cassie fand der Sex post mortem statt. Und inzwischen weiß McDermott auch, dass Cassie Ellie getötet hat. Also wird er sich jetzt sicher fragen, wer Cassie auf dem Gewissen hat.
»Das ging aber flott mit dem DNS-Test«, bemerke ich, um das Thema zu wechseln.
»Die Sache hatte höchste Dringlichkeit.« Er klopft mir auf den Arm. »Das sollte Sie eigentlich glücklich machen. Damit ist bewiesen, dass Sie nicht völlig danebenlagen, Riley. Zumindest hat er vier der Frauen getötet.«
Ich habe McDermott unterschätzt. Er hatte von Anfang an den richtigen Riecher. Und mit noch etwas hat er recht – ich verspüre tatsächlich eine gewisse Erleichterung, dass Terry Burgos nicht völlig unschuldig war.
Unschuldig. Schuldig. Was für fadenscheinige Begriffe.
»Cassie bereitet mir noch Kopfzerbrechen«, fügt er hinzu.
Es ist keine Frage, also schweige ich.
»Haben Sie eine Meinung zu diesem Thema, Riley?«
Jetzt ist es eine Frage. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, daher speise ich ihn mit der einfachsten Antwort ab.
»Terry Burgos hat sie getötet«, sage ich. »Ich wüsste nicht, wer es sonst getan haben sollte.«
Die Antwort gefällt ihm nicht. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Aber die Mansbury-Morde sind nicht sein Fall. Sein Job war lediglich, die aktuellen Morde aufzuklären und den Killer, Leo Koslenko, zu fassen. Der Mord an Cassie fällt nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.
Gut für ihn. Denn Michael McDermott könnte diesen Fall bis ans Ende seiner Tage untersuchen und käme doch zu keinem Ergebnis.
»Koslenko hat Ihnen nichts verraten, während Sie dort im Keller zusammenhockten?«
Ich schüttle den Kopf. Nein. Ich wüsste nicht, warum ich die Informationslücken der Polizei schließen sollte.
Nicht im Moment jedenfalls. Und vielleicht nie.
Er atmet tief durch. »Ich hab im Fernsehen gehört, was Sie diesen Reportern hingeworfen haben. Sie haben mehrfach betont, dass Terry Burgos alle Mädchen getötet hat. Vermutlich wollten Sie damit Leo Koslenko auf Ihre Seite ziehen. Sein Vertrauen gewinnen. Sein Spiel mitspielen. Und als ich am nächsten Morgen bei Ihnen geklingelt habe, waren Sie nicht da. Also ließ ich über Funk nach Ihrem Wagen fahnden. Und da ich ohnehin auf Zwangsurlaub war, dachte ich, fahr ich doch mal zum Mansbury Campus, weil es da so schön sein soll im Sommer.«
Ich lächle ihn an. Auch in diesem Punkt habe ich ihn unterschätzt. Ihm war klar, dass Koslenko den Eindruck eines Nachahmungstäters vermitteln wollte und daher vermutlich den gleichen Ort nutzen würde. Zum Teufel, den Versuch war es wert.
»Und was ist mit Fred Ciancio?«, fragt er mich. »Ging es bei dem Einbruch in dieses Gebäude um den Diebstahl von Abtreibungsakten?«
Ich spiele den Ahnungslosen. In Wirklichkeit aber weiß ich, dass Cassie Bentley nie eine Abtreibung hatte. Denn sie war nie schwanger.
Ich vermute, dass Gwendolyn Lake irgendwann einen Vaterschaftstest hat machen lassen, weil Cassie es so wollte, oder weil sie selbst es wollte, um hundertprozentige Sicherheit zu haben. Inzwischen weiß die halbe Welt, dass Gwendolyn Harlands Tochter ist. Harland selbst hat es eingestanden. Daher biete ich McDermott jetzt diese Version an.
»Vermutlich hat der Vaterschaftstest Cassie mehr als alles andere in Rage gebracht«, sage ich. »Und als sie dann mitbekam, wie Ellie mit ihrem Vater schlief, mein Gott, da sind bei ihr die Sicherungen durchgebrannt.«
»Und Koslenko hat anschließend die Testergebnisse gestohlen, weil sie ein Hinweis auf Cassies Motiv gewesen wären?« Er schüttelt den Kopf. »Möglich, aber eher unwahrscheinlich.«
Ratlos hebe ich die Hände. McDermott hakt nicht weiter nach. Das Verbrechen ist aufgeklärt. Leo Koslenko hat sich selbst getötet, durch einen Schuss in den Mund. Es wird keinen Prozess geben. Und deshalb auch keine Suche nach Motiven.
»Haben Sie damit gerechnet, dass Shelly da unten und noch am Leben ist?«, fragt er.
Natürlich habe ich das. Aber das kann ich ihm schlecht verraten. Denn dann muss ich ihm auch erklären, wie ich es rausgefunden habe.
»Ich hatte keinen blassen Schimmer«, erwidere ich.
Er schluckt das. Er hat keinen Grund, etwas anderes zu vermuten. Aber er ist mit seinen Fragen noch nicht am Ende.
»Glauben Sie, Koslenko hat auf eigene Faust gehandelt?«
»Ganz sicher«, sage ich, erleichtert, wenigstens einmal die Wahrheit sagen zu können. »Natalia ist keine Mörderin«, füge ich hinzu, womit mein kurzer Ausflug in die Welt der Ehrlichkeit auch schon wieder zu Ende ist.
»Und er bringt all diese Leute um – Ciancio, die Reporterin, all die anderen -, nur um zu vertuschen, dass ein Vaterschaftstest gestohlen wurde?« Seine Augen werden schmal. »Finden Sie das plausibel?«
»Er war komplett durchgeknallt«, antworte ich. »Wer weiß, was in seinem Hirn vorging.«
Eine bequeme Hintertür, eine simple Erklärung für das Unerklärliche. Koslenko war verrückt – wer konnte schon sagen, warum er was tat? Doch natürlich ist das nur die halbe Wahrheit. Er war clever und organisiert. Seine Weltsicht war heillos verwirrt, aber seine Handlungen waren es nicht. Er wusste genau, was er tat.
Plötzlich fällt mir McDermotts Frau ein, ihre manisch-depressiven Zustände und ihr Selbstmord, und ich bereue es, den Ausdruck komplett durchgeknallt verwendet zu haben.
»Und wie hätte Koslenko Ihrer Meinung nach weitergemacht? Er hatte das Küchenmesser und die Machete.«
Richtig. Im Keller des Auditoriums, wo alles endete, fand die Polizei eine Machete. Das gleiche Modell, das ich als Andenken an den Burgos-Fall aufbewahre, eine stabile, sechzig Zentimeter lange Barteaux-Machete mit einer Klinge aus gehärtetem Karbonstahl. Mit Schaudern denke ich daran, dass Leo Koslenko irgendwann in meinem Haus gewesen sein muss, um die Machete zu betrachten und sich das identische Modell zu besorgen. Wenn er schon als Nachahmungstäter galt, dann wollte er die Rolle wenigstens so perfekt wie möglich ausfüllen.
»Soll ich raten? Koslenko hatte vor, Harland Bentley zu töten«, sage ich. »Und dann wäre Frank Albany an die Reihe gekommen. Es wäre leichter gewesen, dem Professor alles in die Schuhe zu schieben, wenn er tot war und nicht mehr widersprechen konnte. Vermutlich hätte er Albany getötet, es dann aber wie einen Selbstmord aussehen lassen.«
»Jesus.« McDermott seufzt. »Es klingt vielleicht komisch aus dem Mund eines Cops, aber Koslenko tut mir richtig leid.«
»Das klingt gar nicht komisch, Mike. Er wusste nicht, was er tat.«
McDermott hebt den Kopf und nickt in Richtung Vernehmungsraum. »Ich war mir sicher, dass entweder Professor Albany oder Harland Bentley hinter all dem stecken.«
Das hatte Koslenko natürlich auch beabsichtigt. Bereits damals hatten sie es so geplant – falls die Wahrheit über den Mord an Ellie Danzinger jemals bekannt zu werden drohte. Sie wollten alles auf Albany abwälzen. Doch dann war Burgos durchgedreht, nachdem er Ellies Leiche gefunden hatte, und hatte sie praktisch von jedem Verdacht befreit, indem er mehrere Prostituierte in rascher Folge tötete. Wäre Ciancio nicht diese Woche mit Evelyn Pendry und Leo Koslenko in Kontakt getreten, nichts davon wäre je ans Tageslicht gekommen.
»Ciancio hatte Beziehungen zur Russenmafia«, erklärt McDermott. »Das haben wir heute rausgefunden. Über diese Kanäle hat Koslenko ihn aufgespürt. Russische Beziehungen.«
Ja, so verlief die Verbindung. Aber sie war nicht von Koslenko hergestellt worden. Vielmehr hatte Natalia dafür gesorgt. Sie besaß das nötige Geld, um weit gespannte Drähte zu ziehen, bis hinein in die Kreise der russischen Mafia, die dann eine Absprache mit dem Wachmann traf. Vermutlich hat sie ihren Namen aus der ganzen Angelegenheit hübsch herausgehalten. Und das wird sie auch weiterhin so handhaben.
Und ich werde sie nicht verraten. Zumindest im Moment nicht. Vielleicht nie.
Ich nicke in Richtung Fenster, in Richtung Natalia Lake. »Was wird mit ihr passieren?«
Natalia steckt womöglich in echten Schwierigkeiten. Sie hat den Mord ihrer Tochter an Ellie Danzinger vertuscht. Und womöglich hat sie diese Woche mehr als einmal eine falsche Aussage gemacht. Aber aus der Perspektive der Cops hat sie letzten Endes nur die Schuld von jemandem verschwiegen, der dann selbst zum Opfer von Burgos wurde. Außerdem werden sie echte Probleme haben, ihr all diese Dinge nachzuweisen. Sie müssen ihr beweisen, dass sie von Cassies Mord an Ellie wusste und dass sie aktiv half, die Spuren zu verwischen. Das werden sie wohl kaum schaffen.
»Wir wissen lediglich, dass ihre Tochter vor sechzehn Jahren jemanden getötet hat. Sie muss das nicht zur Anzeige bringen. Vielleicht hat sie Koslenko befohlen, in das Gebäude einzubrechen und den Vaterschaftstest zu stehlen, aber wir können es nicht beweisen. Koslenko und Ciancio sind tot, und sie ist clever genug, um zu wissen, dass wir nichts in der Hand haben.«
»Richtig«, stimme ich zu.
»Sie hat versucht, ihre Tochter zu schützen«, fährt er unaufgefordert fort. »Womöglich hat sie dabei gelegentlich die Wahrheit etwas verdreht, aber sie tat es für ihre Tochter. Was mich betrifft …«
Er hält inne. Atmet tief durch.
»Sie hat niemandem Schaden zugefügt«, sagt er. »Ihre Tochter hat etwas getan, und sie hat das Beste aus der Situation gemacht. Ist das so falsch?«
Er wendet sich mir zu, mit grimmigem Blick, das Gesicht von aufwallenden Gefühlen gerötet.
»Wollen Sie mir vielleicht erzählen, Sie würden nicht das Gleiche für Ihre Tochter tun?«
Ich hebe kapitulierend die Hände, obwohl ich kein Wort gesagt habe. Offenbar trägt er einen inneren Kampf mit sich selbst aus.
»Ja«, erwidere ich. »Ich würde meine Tochter auch schützen.«
Er lässt sich wieder gegen das Observationsfenster sinken. »Sorry. Tut mir leid.«
»Es war eine lange Woche«, sage ich.
Lange starrt er mich an. Schlafentzug und Stress können einen Menschen verändern. McDermott machte auf mich immer den Eindruck eines Felsens in der Brandung, aber jetzt wäre ich nicht überrascht, wenn er in Tränen ausbräche.
»Es war mir ernst vorhin, Riley. Das mit Burgos. Er wurde zu Recht verurteilt. Schauen Sie, er hat vier Mädchen getötet, vielleicht auch fünf.« Wieder klopft er mir auf den Arm. »Zum Teufel, selbst sein eigener Anwalt hat nur einen kurzen Blick auf die Sache geworfen und sofort auf Schuldunfähigkeit plädiert. Er hat die Fakten niemals angezweifelt. Es ist nicht Ihr Job …«
»Es ist mein Job. Ich hatte es in der Hand. Burgos war geistig verwirrt, Mike. Ein Fall wie aus dem Psychiatrielehrbuch. Er glaubte, Gott persönlich würde ihn lenken.«
»Meinetwegen«, knurrt McDermott, »aber ihm war sehr wohl bewusst, dass er ein Verbrechen beging. Er verschaffte sich ein Alibi. Er versteckte die Mädchen im Keller. Würden Sie auch nur das Geringste an Ihrer Argumentation ändern, wenn Sie noch mal vor die Jury treten könnten?«
»Nur eines«, sage ich. »Ich würde diese Argumente überhaupt nicht bringen.«
Ich entferne mich ein paar Schritte von ihm. Ja, Terry Burgos war sich bewusst, dass es Gesetze gab, die Mord unter Strafe stellten. Und, ja, er hatte Schritte unternommen, um nicht gefasst zu werden.
Er hatte sich ein Alibi besorgt. Er hatte die Leichen versteckt, damit niemand sie fand, bis er seine blutige Serie zum Abschluss gebracht hatte. Er verschleppte seine Opfer aus verschiedenen Teilen der Stadt, damit er nicht zweimal an den Ort einer Entführung zurückkehren musste. Was bedeutet, dass auf ihn die juristische Definition von Schuldunfähigkeit nicht zutraf – eine Definition, die ein Haufen von Politikern festgelegt hatte, der nicht zu weich gegenüber Kriminellen erscheinen wollte.
»Auch Leo Koslenko wusste, dass er gegen das Gesetz verstieß«, sage ich. »Ebenso wie er wusste, dass er ein Superspion war, mit der Aufgabe betraut, die Welt vor Undercover-Agenten zu schützen, die sich als Prostituierte tarnten. Und er wusste, dass ich ein Agent war, der zusammen mit ihm für diese weltweite Geheimorganisation arbeitete.« Ich lasse die Arme fallen. »Und Sie wollen mir sagen, Koslenko war nicht verrückt?«
McDermott zuckt mit den Achseln. »Sie kennen die Gesetzeslage besser als jeder andere …«
»Ach, kommen Sie, Mike. Ich rede hier nicht von einer juristischen Definition von Schuldfähigkeit. Ich will einfach nur sagen, Burgos’ Denken bewegte sich in einer ganz anderen Galaxie. Er glaubte, Gottes Wort zu folgen, und wenn Sie von so was überzeugt sind, was für eine Rolle spielt da noch die dämliche staatliche Gesetzgebung?«
McDermott schweigt.
»Man hätte ihn für den Rest seines Lebens einsperren sollen«, sage ich. »Er hätte behandelt werden müssen. Aber nicht hingerichtet.«
McDermott hat offensichtlich keine Lust auf eine Diskussion. Was ihn betrifft, kann ich mich ruhig selbst verdammen, wenn ich so scharf drauf bin. Er tritt zu mir und schüttelt mir die Hand. Es gab eine Zeit – und das ist kaum ein paar Tage her -, da hätte ich niemals erwartet, dass wir uns einvernehmlich voneinander verabschieden würden.
»Es geht mich zwar nichts an«, sagt er. »Aber nur so aus Neugier.«
»Schießen Sie los«, sage ich.
»Werden Sie bei Ihrem millionenschweren Klienten Mr. Bentley bleiben?«
Eine gute Frage. Harland hat sich mir gegenüber unmöglich verhalten. Aber er hat seine Tochter nicht umgebracht, und er hatte auch nichts mit dem Vertuschungsmanöver zu tun. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, so, als sei nie etwas geschehen.
»Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch Anwalt sein möchte«, sage ich.
Er starrt mich einen Augenblick an, als warte er auf die Pointe. »Na, schon gut.« Er winkt mich hinaus. »Verziehen Sie sich, Riley. Und kümmern Sie sich gut um Shelly.«
Ich werfe einen letzten Blick in den Verhörraum, wo Natalia bewegungslos auf ihrem Stuhl sitzt. Vielleicht wird sie angeklagt, je nachdem wie viel Druck die Medien auf die Strafverfolger machen. Womöglich werde ich dabei sogar als Zeuge aufgerufen, weil ich von ihr, von Koslenko und von anderen eine Menge erfahren habe. Das wäre natürlich Hörensagen, aber man könnte eine Ausnahmeregelung beantragen und es gewissermaßen als Aussage eines Mitverschwörers gelten lassen, unter der Voraussetzung der Offenlegung sämtlicher …
Ich reiße mich zusammen. Ich kann es einfach nicht lassen, alles unter dem rechtlichen Aspekt zu betrachten. McDermotts Reaktion hat ins Schwarze getroffen. Es liegt mir einfach im Blut, das Gesetz. Es ist das Einzige, worin ich wirklich gut bin. Die einzige Arbeit, die mich wirklich interessiert.
Ich verlasse das Revier, und diesmal sage ich nichts zu den Reportern.
Nicht jetzt, jedenfalls. Und womöglich nie.
In Gottes Namen
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