46.
Kapitel
McDermott steht allein in dem Vernehmungsraum, in
dem er vor dreißig Minuten Paul Riley zurückgelassen hat.
»Er wollte plötzlich ganz dringend in seine
Kanzlei«, sagt ein Streifenbeamter. »Er meinte, Sie könnten ihn
dort erreichen.«
»Ach, tatsächlich?« McDermott starrt den Beamten
wütend an, aber Riley ist nicht in Verwahrung, also kann er gehen,
wohin er will. Er marschiert zurück zu seinem Schreibtisch, und
genau in dem Moment klingelt das Telefon. Er zuckt zusammen. Warum
passiert ihm das andauernd?
»McDermott.«
»Mike, Bentley ist gerade von diesem angeblichen
Meeting zurückgekommen.«
»Sag ihm, er soll seinen Arsch hierher in Bewegung
setzen. Und zwar sofort, sonst hol ich ihn mir, und das wird nicht
lustig.«
»Okay, Mike. Hör zu, er kommt nicht allein. Er hat
einen Anwalt dabei.«
Einen Anwalt. »Paul Riley?«
»Nein, nicht Riley. Jemand anders. Hab ihn noch nie
gesehen.«
Interessant. Bentley ließ sich nicht von Riley
vertreten.
Er legt auf, und es klingelt sofort wieder.
»Verdammt.« Er packt den Hörer. »McDermott.«
»Paul Riley hier.«
»Na, das ist ja eine Überraschung … »
»Er hat gerade einen weiteren Brief geschickt. Vor
etwa zehn Minuten hat er ihn unten in der Lobby einem Kurier
übergeben.«
»Bringen Sie mir den Brief«, sagt er zu Riley. »Und
ich schicke ein paar Beamte rüber.«
»Er trägt eine Brille und eine blaue Baseballkappe.
Ein Button-down-Hemd und eine lange Hose«, sagt Riley. »Aber
inzwischen ist er vermutlich schon über alle Berge.«
»Okay, danke, Riley. Schauen Sie zu, dass Sie
herkommen.« McDermott beordert telefonisch ein paar Streifenbeamte
zu dem Gebäude, aber er hat wenig Hoffnung.
Er muss den Wagen wechseln, jetzt, nachdem er den
Brief für Riley losgeworden ist. Er läuft zurück zur Parkgarage,
fährt mit dem Lift in den Achten, steigt in den Chrysler LeBaron
mit dem amtlichen Kennzeichen J41258, den sie gerade im Funk
beschrieben haben, Achtung, an alle Einheiten, Augen offen
halten, aber, Jungs, ratet mal, was jetzt passiert …
Fahr den Wagen rückwärts aus der Parklücke und eine
Etage tiefer, zu dem beigefarbenen Toyota Camry, ein weiterer
Mietwagen, von einer anderen Firma, er ist ja kein Idiot, andere
Verleihfirma, anderer falscher Name, eine gute Tageszeit für den
Wechsel, nicht gleich als Erstes am Morgen oder bei Büroschluss,
eine gute Zeit, nicht zu viele Autos, nicht zu viele Leute, ein
Umladen der Fracht, schnelles Umladen, okay, gut, erledigt, fehlt
nur noch eine Sache, die unterschätzen ihn immer, verrückter Leo,
der muss doch blöd im Kopf sein, auf so was kommt der nie …
Geh zu einer dunklen Ecke, eine Nische abseits der
Hauptparkfläche, such nach Autos, die an der Betonwand parken, ein
Sedan, Schnauze zur Wand, aber noch genug Platz zwischen Stoßstange
und Wagen, das reicht, um sich mit einem Schraubenzieher
dazwischenzuklemmen, das Nummernschild abzuschrauben, sie werden
nichts merken, werden sich die Vorderseite des Wagens nicht
anschauen, wenn sie einsteigen, werden es erst registrieren, wenn
es schon viel zu spät ist.
Tausch das Nummernschild mit dem des LeBaron,
vielleicht schnüffeln sie gar nicht in der Parkgarage herum, aber
falls doch, dann fahren sie vorbei, sehen einen Chrysler LeBaron,
stellen fest, dass das Kennzeichen nicht übereinstimmt und fahren
weiter, faule, dämliche Cops, es ist so einfach, euch zu
überlisten.
Reih dich in den Verkehr ein, in Richtung
Interstate. Jetzt hat er es fast geschafft.
Ich nehme ein Taxi zum Revier, mit dem braunen
Umschlag in einer Tüte, die Betty mir gegeben hat. Außerdem habe
ich den Brief vom 15. August 1989 dabei, immer noch in seiner
Plastikhülle. Ich reiche dem Taxifahrer einen Zwanziger und warte
nicht auf Wechselgeld. McDermott steht bereits auf der obersten
Stufe und winkt mich am Pförtner vorbei.
»Sie glauben wohl, Sie können hier rein- und
rausspazieren, wie es Ihnen gefällt?«
Ich händige ihm die Einkaufstüte aus und folge ihm
zu seinem Schreibtisch. Ricki Stoletti erhebt sich von ihrem
Arbeitsplatz und gesellt sich zu uns.
»Wo ist Gwendolyn Lake im Augenblick?«, fragt
sie.
Woher soll ich das wissen? »Ich hab Ihnen doch ihre
Handynummer gegeben.«
»Ja, und sie hat nicht zurückgerufen.«
»Ich habe ihr ausdrücklich gesagt, sie soll Sie
anrufen«, erkläre ich ihr, aber mein eigentliches Interesse gilt
McDermott, der Latexhandschuhe übergestreift hat und den braunen
Umschlag mit einem Brieföffner aufschlitzt. Ein einfacher weißer
Briefumschlag rutscht heraus.
Er nickt mir zu. »Was haben Sie noch in Ihrer
Tüte?«
Ich zeige ihm den Brief vom 15. August 1989.
»Gute Arbeit«, liest er von dem Zettel ab,
der auf der Plastikhülle klebt. »Irgendeine Idee, was das bedeuten
soll?«
Ich räuspere mich und erkläre es ihm. Der Brief
bezieht darauf, dass Cassies Fall aus dem Prozess ausgeklammert
wurde.
»Oh.« Er hustet es heraus, wie ein Lachen. »Und
verändert das Ihre Sichtweise des Burgos-Falles, Herr
Anwalt?«
»Sie hatte ein Geheimnis«, erwidere ich. »Und wer
immer diesen Brief geschrieben hat, war froh, dass es ein Geheimnis
blieb.«
McDermott starrt mich an. »Wissen Sie, Riley, für
einen Kerl, den alle für so clever halten …«
»Öffnen Sie den Brief, McDermott.«
Er schlitzt den weißen Umschlag auf und schüttelt
ein einzelnes Blatt Papier heraus, das dreimal gefaltet ist.
Behutsam streicht er es mit der behandschuhten Hand glatt.
Ich schnappe mir einen Notizblock und einen Stift
von seinem Schreibtisch, und zu dritt lesen wir:
Wenn Eure Niedrigkeit neuerlich
demütigt unsere Mo ral, Ihr Tugendhaftigkeit scheinheilig
postuliert in Eu rem lasterhaften, selbstgerechten Tun, wechseln
Irrende rasch die Seiten. Ich erlebe eine beständige, erhabene,
namenlose Freude, auch Lachen, Liebe. Sollen Laster hafte ewig
büßen entlarvte Niedertracht.
Ich notiere, so schnell ich kann:
W
-E-N-N-D-U-M-I-T-S-P-I-E-L-S-T-W-I-R-D-
S-I-E-E-B-E-N-F-A-L-L-S-L-E-B-E-N
S-I-E-E-B-E-N-F-A-L-L-S-L-E-B-E-N
Wenn du mitspielst, wird sie ebenfalls
leben.
McDermott sagt: »Wenn du …«
Ich dränge mich an ihm vorbei, schnappe mir sein
Telefon, und wähle die Nummer so eilig, dass ich mich beim ersten
Mal vertippe.
»Projekt Anwälte für Kinder.«
»Shelly Trotter, bitte.«
»Shelly ist nicht da. Kann ich …«
»War sie heute schon da?«
»Wer spricht da, bitte?«
»Paul Riley.«
Stimmen im Hintergrund. Ich erkenne Rena Schroeder,
die Leitende Staatsanwältin. Shellys Chefin. Mein Name fällt, und
das Telefon wird weitergereicht.
»Paul, hier ist Rena.«
»Rena, wo ist Shelly?«
»Das wollte ich dich auch gerade fragen. Sie ist
heute noch nicht aufgetaucht. Sie hat einen wichtigen
Gerichtstermin versäumt, und sie ist nicht zu unserem monatlichen
…«
Ich lasse den Hörer fallen.
McDermott sagt: »Schreiben Sie ihre Adresse auf.«
Stoletti läuft los, ihre Jacke holen. Ich kritzle die Adresse auf
einen Notizblock, renne zum Eingang und höre gerade noch, wie
McDermott ins Telefon spricht: »Einsatzzentrale, an alle Einheiten.
Wir haben möglicherweise einen Mord im Verzug.«
Drei Streifenwagen parken bereits in zweiter Reihe
vor Shelly Trotters Haus, als McDermotts Sedan vorfährt. Zum
dritten Mal weist er Riley an: »Wir gehen als Erste rein«, aber
noch bevor der Wagen richtig steht, ist Riley schon
rausgesprungen.
Die Streifenbeamten vor der Eingangstür werfen
McDermott einen fragenden Blick zu. Er zeigt auf Riley und
schüttelt den Kopf. Dann läuft er mit Stoletti in Richtung
Tür.
»Sie ist die Tochter des Gouverneurs?«, fragt
sie.
»Ja, verdammt.«
Die Polizisten versperren Riley den Weg, und er
versucht sich an ihnen vorbeizudrängen. »Paul, Sie können in einer
Minute hoch«, sagt McDermott. »Lassen Sie uns erst unsere Arbeit
machen.«
»Shelly!«, schreit Riley, während McDermott die
Stufen hochhastet. Auf dem zweiten Treppenabsatz empfängt sie ein
weiterer Beamter, der matt den Kopf schüttelt.
»So was hab ich noch nie erlebt.«
McDermott und Stoletti springen die letzten Stufen
hinauf und verlangsamen ihr Tempo erst, als sie das Apartment
betreten. Drinnen steht ein weiterer Polizist neben einer blutigen
Kettensäge.
Sie bewegen sich langsam auf das Bad zu, während
sich in McDermotts Magengegend ein Gefühl nackter Panik breitmacht.
Und obwohl er alles andere auf der Welt lieber täte – warum, zum
Teufel, ausgerechnet im Badezimmer -, steckt er den Kopf durch die
Tür, und der durchdringende Gestank ist nichts im Vergleich zu dem
Anblick.
Blutspritzer weit über den Badewannenrand hinaus,
bis zum Waschbecken, die Wände hoch, sogar bis zur Tür. Im Inneren
der Badewanne ein blutiges Chaos, wie in der Abfalltonne eines
Metzgerladens.
»Heilige Mutter Gottes«, entfährt es McDermott.
Vorsichtig setzt er einen Fuß ins Bad. Stoletti späht hinein und
schnappt nach Luft.
Er hat sie unter der Dusche erwischt. Sie scheint
nackt gewesen zu sein, zumindest sind keine Reste von Kleidung zu
entdecken. Ansonsten lässt sich vom Körper der Toten wenig ablesen,
denn von einem Körper im herkömmlichen Sinn – mit Rumpf, Gliedern,
Hals und Kopf – kann hier nicht mehr die Rede sein.
»Er hat sich Zeit mit ihr gelassen«, murmelt er in
dem Versuch, so etwas wie nüchterne Distanz zu wahren. Der Körper
wurde in über hundert Stücke zersägt. Keine Arme, keine Beine, kein
Hals, kein Kopf. Alles zerlegt. Nur noch winzige Stücke.
Eine Trim-Meter-Kettensäge verteilt das Hirn
des Cheerleadergirls wie Farbe auf besudelte Wände.
Er hört Lärm aus dem Treppenhaus. Er verlässt das
Bad und geht zur Eingangstür. Paul Riley stürmt heran wie ein
Angreifer beim Footballspiel, der entschlossen ist, die
gegnerischen Verteidigungslinien zu unterlaufen. Er hat es fast bis
in den dritten Stock geschafft, im Klammergriff von zwei
Polizisten, und schaut zu McDermott auf, immer noch einen Funken
verzweifelter Hoffnung in den weit aufgerissenen Augen.
»Es tut mir leid«, sagt McDermott.
»Ich will sie sehen.« Riley ringt erneut mit seinen
beiden Bewachern. McDermott steigt ein paar Stufen nach unten und
packt Riley am Arm.
»Da ist nichts mehr übrig, was Sie sich ansehen
könnten, Paul«, sagt er. »Es tut mir sehr leid.«
Riley bricht auf der Treppe zusammen, brüllt
Shellys Namen. McDermott blickt hoch zu Stoletti, die mit ruhiger
Stimme sagt: »Wir müssen den Gouverneur verständigen.«