12.
Kapitel
Paul Riley, sage ich zu dem Mann hinter der langen
Theke vor dem Empfangssaal. Er findet mich auf seiner Liste, zieht
mein Namensschildchen hervor und reicht es mir. Es ist recht hübsch
gemacht, zumindest im Vergleich zu den üblichen nervigen
Ansteckern. Mein Name ist in einer ausgefallenen Schrift gedruckt,
und darunter ist der Schriftzug meiner Anwaltsfirma zu lesen. Wenn
man mit dem Gouverneur anstößt und der Champagner nicht unter
fünfhundert die Flasche kostet, dann dürfen ruhig auch die
Namensschildchen etwas origineller sein.
Joel Lightner neben mir nennt seinen Namen und
buchstabiert ihn dann erneut, weil er nicht zu den geladenen Gästen
gehört. Er ist für den heutigen Abend mein Begleiter, später wollen
wir zusammen ein Steak essen gehen und dazu den einen oder anderen
Martini trinken. Für Joel war der Burgos-Fall das Sprungbrett zu
einer florierenden privaten Ermittlungsfirma, deren bester Kunde
ich bin. Joel wollte eigentlich nicht mitkommen, da er, anders als
ich und viele der Geladenen hier, keinen Smoking besitzt, aber ich
habe ihn dazu überredet, ein wenig seiner Zeit zu opfern.
»Zwanzig Minuten«, erinnert er mich an mein
Versprechen, als wir den Ballsaal im Zwischengeschoss des Maritime
Club betreten. Der Raum ist ganz in Weiß gehalten, mit schwarzer
Eichentäfelung und einer zehn Meter hohen Decke, unter der eine
Wolke aus Zigarrendunst hängt. Ich winke jemandem, den ich kenne,
und Joel zeigt auf die Bar an der Seitenwand. »Zwanzig Minuten«,
mahnt er erneut. »Und sie ist sowieso nicht hier.«
»Ich bin auch nicht wegen ihr gekommen«, sage ich,
aber er winkt ironisch ab. Jeder weitere Richtigstellungsversuch
würde nur noch mehr Sticheleien provozieren, also stürze ich mich
ins Getümmel der Smokingträger, ins angeregte und unaufrichtige
Partygeschwätz, mitten ins Treiben der Mächtigen und
Machthungrigen. Ich stelle mich zu ein paar bekannten Gesichtern –
Firmenanwälte aus der Stadt und einige Vorstandsvorsitzende. Eine
gute Gelegenheit, sich mal wieder in Erinnerung zu bringen und die
Leute wissen zu lassen, dass sie einen anrufen können, wenn sie was
brauchen. Am liebsten würde ich ihnen sagen: Rufen Sie mich an,
wenn ein Prozess ansteht, denn das ist immer noch mein
bevorzugtes Arbeitsfeld – Strafprozesse -, auch wenn ich mich im
Grunde fast nur noch mit privatrechtlichen Angelegenheiten
herumschlage, mit Bergen von Papierkram, Eingaben und
Vorverhandlungsanträgen, die lukrativ sind, aber langweilig wie die
Hölle.
Ich nippe gerade an meinem ersten Martini, den ich
mir vom Tablett einer Kellnerin geschnappt habe, als ich in einer
Gruppe Harland Bentley entdecke, der soeben Gouverneur Langdon
Trotter die Hand schüttelt.
Ein mächtiges Duo. Ein Gouverneur in seiner zweiten
Amtszeit, mit Aussichten auf den Posten im Weißen Haus, im Verein
mit dem reichsten Mann der Stadt und einem der finanzstärksten der
ganzen Nation. Harland Bentleys persönliches Vermögen wird auf
knapp eineinhalb Milliarden Dollar geschätzt, mit Anteilen an
Hotelketten, Immobilien, Industriebetrieben und
Finanzdienstleistungsunternehmen, die alle seinen Namen tragen.
Jeder Anwalt würde über Leichen gehen, um einen solchen Klienten an
Land zu ziehen.
An Harlands Arm hängt sein neuestes Schmuckstück,
groß, endlos lange Beine, ein Gesicht wie gemeißelt und eine blonde
Mähne, die über ihr tief ausgeschnittenes Abendkleid fällt. Man
könnte sie als »Flamme des Monats« bezeichnen, aber vermutlich
würde man damit die Halbwertszeit von Harlands Beziehungen schon
überschätzen. In seinem Bett herrscht momentan fliegender
Wechsel.
Während ich auf die Gruppe zusteuere, legt Harland
Bentley dem Gouverneur die Hand auf den Rücken und dreht ihn sanft
in meine Richtung. »Gouverneur«, sagt er, »Sie wissen sicher, dass
ich den besten Anwalt des Landes habe.«
Lächelnd schüttle ich die Hand des Gouverneurs.
Trotter ist ein großer, kräftiger Kerl, sehr fotogen, mit stets
sonnengebräunter Haut, die seine blauen Augen und das weiße Haar
vorteilhaft zur Geltung bringt, und mit einem Händedruck, der einem
Bären das Wasser in die Augen treiben könnte. »Schön, Sie zu sehen,
Paul«, sagt er warmherzig. Der direkte persönliche Kontakt war
immer schon eine seiner Stärken, er vermittelt jedem das Gefühl,
der einzige Mensch im Raum zu sein. Dann sagt er zu Harland, mit
einer Stimme vom Umfang der Basspfeife einer Orgel: »Eines Tages
werde ich ihn dir wegschnappen, Harland.« Die kleine Gruppe um den
Gouverneur lacht höflich, auch wenn sie sich nicht ganz sicher
sind, ob sie den Witz verstanden haben.
Harland Bentley ist eine ebenso eindrucksvolle
Erscheinung, wenn auch nicht im physischen Sinn. Er ist von kleiner
Statur, vielleicht ein Meter sechzig, schlank, durchtrainiert, mit
kurz geschnittenen Haaren und Ansätzen typisch männlicher
Glatzenbildung. Aber der Mann strahlt Macht aus – angefangen bei
seinem Zehntausend-Dollar-Maßanzug über den durchdringenden Blick
bis hin zu der umsichtigen und präzisen Art, mit der er spricht,
was nicht sehr oft geschieht. Daher ist die Gruppe auch mehr mit
ihm beschäftigt als mit dem Gouverneur. Harland stellt mich seiner
Begleiterin vor, Jennifer, die mir ihre manikürte Hand reicht und
erklärt, sie arbeite im PR-Bereich. Ja, darauf möchte ich
wetten.
Während ich die anderen in der Runde begrüße –
einige Politiker und ein wichtiger Wahlkampfspender -, beobachte
ich aus den Augenwinkeln, wie der Gouverneur Harland etwas
zuflüstert. Daraufhin klopft Harland einem der Politiker auf den
Rücken. »Lassen wir die beiden hier kurz allein miteinander
reden.«
Plötzlich stehen der Gouverneur und ich alleine da,
und ich wünschte, ich hätte noch einen Martini.
»Wie läuft’s denn so, Lang?«, frage ich ihn.
»Immer der gleiche Zirkus, Paul. Immer der gleiche
Zirkus.« Er legt mir seine Hand auf die Schulter. »Und bei Ihnen,
mein Freund?«
»Sie kennen mich ja, Gouverneur. Immer hart am
Limit unterwegs.«
Ein breites Lächeln erscheint auf seinem gebräunten
Gesicht. Dieser Kerl wird eines Tages Präsident, da bin ich mir
sicher. »Ich hab davon erfahren. Tut mir wirklich leid«, sagt er,
und sein Ausdruck wird ein Spur ernster.
»War wahrscheinlich für alle Beteiligten am besten
so.« Ich versuche, überzeugend zu klingen, und frage mich
gleichzeitig, ob ich nicht zu rasch geantwortet habe. Aber es hat
keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Irgendwann wäre
ohnehin die Sprache darauf gekommen.
»In meinen Augen war es das nicht. Aber wer hört
schon auf mich? Ich bin ja nur der Gouverneur.« Erneut setzt er
sein breites Grinsen auf. »Ich glaube übrigens nicht, dass sie
heute Abend auftaucht.«
»Immer dabei, die Welt zu retten.« Hoffentlich ist
meine reflexartige Antwort nicht zu bitter ausgefallen. Jetzt
glauben schon zwei Leute, Lightner und der Gouverneur, dass ich
wegen ihr hier bin.
»Ja, so ist sie, unsere Shelly«, pflichtet er mir
bei.
Nein, rutscht es mir beinahe heraus. Deine
Shelly. Meine nicht mehr.
»Wissen Sie, das vorhin war kein Scherz.« Er beugt
sich etwas vor, als wollte er mich in einer vertraulichen
Angelegenheit konsultieren. Seine Augen mustern verstohlen die
nähere Umgebung, dann heften sie sich wieder auf mich. »Sie müssen
nur zustimmen. Sie haben eine beachtliche Karriere als
Strafverfolger hinter sich. Sie haben Terry Burgos vor Gericht
gebracht. Sie haben Ihr Geld als privater Anwalt verdient – Harland
gibt niemandem auch nur Feuer, ohne vorher Sie um Rat zu fragen –
und jetzt ist es an der Zeit, Ihre Karriere mit der Richterrobe zu
krönen.«
Er erwähnt das nicht zum ersten Mal, aber in diesem
Zusammenhang erscheint es mir eher wie eine Geste des Mitleids.
Sorry, dass meine Tochter Sie hat sitzen lassen – wollen Sie
stattdessen vielleicht Bundesrichter werden?
»Passt nicht zu mir«, sage ich.
»Denken Sie noch mal darüber nach.« Die typische
Antwort eines Machtmenschen. Ein Nein bedeutet für ihn: vielleicht
später. Er selbst kann niemanden direkt als Bundesrichter berufen,
nur der Präsident kann das. Aber der Präsident ist Republikaner,
genau wie Trotter, und die ungeschriebenen Regeln besagen, dass der
Gouverneur die Bundesrichter in seinem Staat ernennen darf. »Ich
hab die Nase voll davon, Leute in dieses Amt zu hieven, denen ich
was schulde. Wäre schön, zur Abwechslung mal jemand zum Richter zu
machen, der dafür wirklich qualifiziert ist.«
Ich lächele ihn an, als würde ich mich für das mir
entgegengebrachte Vertrauen bedanken, aber die Antwort ist immer
noch nein.
»Passt nicht zu Ihnen«, sagt er.
»Ich will fair sein, Gouverneur.«
Das gefällt ihm, und er schlägt mir auf die
Schultern, so dass ich fast das Gleichgewicht verliere. »Ja, das
wäre in dem Job das Berufsrisiko. Sie müssten fair sein.« Er
lacht und ergreift meine Hand. »Danke fürs Kommen, Paul. Lassen Sie
es mich wissen, wenn Sie Ihre Meinung ändern.«
»War schön, Sie zu treffen, Gouverneur«, sage ich,
während er bereits der nächsten, ihn anhimmelnden Gruppe ein
herzliches Hallo zuruft.
Ich hole mir einen frischen Martini an der Bar und
muss mich bremsen, ihn nicht auf einen Sitz hinunterzustürzen. Ich
begrüße einen Anwalt, dessen Namen ich eigentlich kennen müsste. Er
beginnt auf mich einzureden, und gerade, als mir sein Name wieder
einfällt, entdecke ich sie.
Also ist sie doch hier.
Sie ist in eine Unterhaltung mit zwei Männern und
einer Frau vertieft. Der Frau gehört eine
Unternehmensberatungsfirma. Die beiden Männer sind Anwälte, und sie
glotzen Shelly offen an, während sie mit ihnen redet. Smalltalk ist
eigentlich nicht ihr Ding. Außerdem habe ich sie noch nie in einem
schwarzen Abendkleid gesehen, mit tiefem Rückenausschnitt, der
ihren langen Hals und die schmalen Schultern betont.
Ich hole tief Luft und habe das Gefühl, ein
Rasiermesser schneidet durch meine Brust.
Sie will ihnen Geld für ihr wohltätiges
juristisches Projekt aus den Rippen leiern. Der perfekte Ort für so
was, zumal sie die Tochter des Ehrengastes ist. Sie macht einen
Scherz, legt einem der Kerle die Hand auf den Arm, und mir ist, als
schlüge eine Faust gegen meine Kehle. Sie wendet den Kopf, unsere
Blicke treffen sich, und schlagartig wird mir bewusst, dass ich
hier ganz allein herumstehe und sie anstarre.
Ich hebe mein Glas und verziehe meinen Mund zu
etwas, das hoffentlich einem Lächeln ähnelt. Sie blinzelt mir zu
und bemüht sich um einen freundlichen Ausdruck, während sie weiter
mit ihren Begleitern spricht. Sie ist geistesgegenwärtig genug,
ihre Reaktionen zu beherrschen, aber ich weiß, was sie denkt. Für
sie bin ich das Haar in der Suppe.
Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt für
mich, hat sie gesagt. So, als ob es nichts Persönliches wäre.
Als wäre einfach nur ihr Terminkalender schon zu voll.
Mit einem miesen Gefühl im Bauch drehe ich mich zum
Barkeeper um und ordere verärgert den nächsten Drink, obwohl meine
Zunge bereits schwer wird. Ich sollte mein Tempo drosseln.
»Hi Paul.«
Ich fahre herum, und da steht sie. Mühsam
unterdrücke ich den Impuls, sie zu berühren. Es fühlt sich so
natürlich an. Es war leichter, als sie noch zehn Meter entfernt
stand.
»Unterwegs, um Kontakte zu knüpfen?«, frage
ich.
»Wie alle anderen auch.« In der Hand hat sie ein
Glas, das vermutlich nichts anderes enthält als das, wonach es
aussieht: Orangensaft. Shelly ist ein Fitnessfreak: Kickboxerin,
Marathonläuferin, Selbstverteidigungslehrerin. Sie ist fast dreißig
Zentimeter kleiner als ich, könnte mich aber in zwei Sekunden zu
Boden schicken.
Sie wirkt irgendwie verändert, mit dem ganzen
Make-up, der Frisur, den Perlen und dem Abendkleid, und ich fühle
mich tief gekränkt. Sie hat kein Recht, sich so zu verändern.
»Wie geht’s dir so?«, erkundigt sie sich.
Ich suche nach einer unverfänglichen Antwort –
ging mir nie besser, so in der Art -, aber irgendwas an
Shelly hat immer das rohe Gefühl in mir hervorgelockt. Außerdem
habe ich schon zu viel intus, um noch diplomatisch zu sein.
Sie nickt, als verstünde sie mein Dilemma. »Ich
habe gehört, du vertrittst Senator Almundo in dieser
Public-Trust-Angelegenheit.«
»Ja, und warum plaudern wir nicht noch ein bisschen
über’s Wetter?« Ich stelle meinen Drink auf der Bar ab. Smalltalk.
Genauso gut könnte sie mich mit Nadeln spicken wie eine
Voodoo-Puppe.
Sie mustert mich, und ich bin nicht stolz auf das,
was sie dabei zu Gesicht bekommt. Keine Ahnung, welche Reaktion ich
gerne von ihr hätte. Auf alle Fälle nicht das. Kein Mitleid. Ich
will sie aufrütteln, sie kämpfen sehen.
Aber das ist nicht Shellys Art. Sie ist der
herzlichste und großzügigste Mensch, den ich kenne, sie widmet sich
voll und ganz diesen Kindern, die mit dem Gesetz in Konflikt
geraten sind, doch ihre eigenen Wunden hat sie immer geschickt
verborgen, und sie ist Expertin im Aufsetzen von Masken. Bloß
nichts zeigen, bloß nichts preisgeben.
»Die Situation beginnt langsam peinlich zu werden«,
informiert sie mich.
»Du hast recht. Ich wollte, ich könnte sagen, dass
ich mich freue, dich zu treffen.« Ich trete näher an sie heran.
»Aber ich hab nun mal keine Lust auf diese Art von Gespräch. Wenn
du wirklich mit mir reden willst – jederzeit. Du hast meine
Nummer.«
Sie lächelt, zumindest ein bisschen, und ich ziehe
los, um Lightner aufzustöbern. Er unterhält sich gerade mit einem
Typen, der für die Polizei arbeitet, aber auch er ist sofort
bereit, von hier zu verschwinden.
»Hast du sie gefunden?«, fragt er.
»Ich hab nicht nach ihr gesucht.«
Lightner boxt mir gegen den Arm. »Wie du meinst,
Riley. Können wir jetzt endlich unser Steak essen gehen?«