25.
Kapitel
Kopf tief gesenkt halten. Baseballkappe,
Sonnenbrille. Schnurrbart, Koteletten, Augenbrauen, alles nicht
echt, merkt man auch beim näheren Hinsehen, ist aber okay, weil dir
der Typ ohnehin nicht ins Gesicht glotzen wird, nur auf’s
Geld.
Nicht der perfekte Weg, aber die Zeit ist knapp,
muss mich beeilen, da ist er schon, parkt sein Rad vor dem Gebäude,
leuchtfarbene Weste, setzt seinen Fahrradhelm ab, sperrt sein Rad
ab, jetzt, jetzt -
Leo nähert sich dem Kurier, der eine Tasche mit
Päckchen umhängen hat, Leo räuspert sich, streckt ihm das Päckchen
hin, schau auf das Paket, nicht in mein Gesicht -
Er gibt sein Bestes, zeigt dem Mann das Päckchen,
murmelt den Namen: Shaker, Riley & Fleming. Zeigt ihm auch den
Fünfzig-Dollar-Schein.
»Ja, die sind da oben. Soll ich … wollen Sie, dass
ich das Päckchen dort abliefere?« Seine Augen sind auf die fünfzig
Dollar geheftet, nicht auf das Päckchen, nicht auf Leos
Gesicht.
Leo nickt.
»Ist das …«, der Junge schüttelt den Umschlag, »…
ist das ein Brief?«
Leo nickt. Klar, ein Brief.
»Warum geben Sie ihn nicht selbst ab? Ist das’ne
Überraschung oder so was?«
Eine Überraschung. Das gefällt ihm. Er versucht, zu
lächeln. Wie so häufig gelingt es ihm nicht.
Der Junge starrt auf den Fünfziger und zuckt mit
den Achseln. »Okay, Mann.«
Leo sieht zu, wie der Bursche durch die Drehtür
verschwindet.
»Alles«, sage ich am Telefon zu meiner Assistentin
Betty. »Zeugenlisten mit persönlichem Hintergrund, Auflistung der
Beweismittel, Protokolle – was immer wir haben. Ich brauche von
allem ein paar Kopien. Ja, von allem. Und Betty, falls irgendwer
fragt, ich bereite eine Rede vor … oder so was. Der wahre Grund
bleibt jedenfalls unter uns. Setz dich mit Detective McDermott in
Verbindung, sobald du alles hast.«
Ich schalte das Handy aus. Ich hocke im Wagen neben
Ricki Stoletti und genieße das große Privileg, mit ihr zusammen
Professor Frankfort Albany besuchen zu dürfen. Stoletti wirkt müde,
und vermutlich trifft das auch auf mich zu. Sie trägt eine Bluse
unter einem karierten Jackett und dazu Bluejeans. Kleidungsstücke,
die sie sicher nicht erst kürzlich erworben hat.
Sie erzählt mir, dass sie seit zwei Jahren
McDermotts Partnerin ist. Vor vier Jahren kam sie zur City Police,
nachdem sie fünfzehn Jahre bei der Major Crimes Unit in den
Vororten gewesen war. Major Crimes ist ein Zusammenschluss
verschiedener Police Departments in den nördlichen Vorstädten, eine
bezirksübergreifend arbeitende Einsatzgruppe von Detectives. Ich
weiß deshalb so gut darüber Bescheid, weil ich bei einem ihrer
Mordfälle als Verteidiger fungiert habe. Wahrscheinlich erklärt das
auch Stolettis Feindseligkeit. Ich vertrat einen Typen, der wegen
vorsätzlichen Mordes angeklagt war, und ließ die Cops während des
Prozesses nicht gut aussehen.
»Warum zuerst Albany?«, will sie wissen und biegt
mit dem Camry auf den Zubringer zum Expressway und in Richtung
Mansbury College ein. »Weil er mit dem Song so vertraut ist?«
»Weil ich davon ausgehe, dass Evelyn ihn bei ihrer
Recherche ebenfalls kontaktiert hat. Und weil er alle wichtigen
Personen des Falls kennt. Er hat Ellie Danzinger und Cassie Bentley
unterrichtet. Er war Burgos’ Boss. Und er hat alle drei mit dem
Songtext bekannt gemacht.«
»Und vielleicht weil er krank im Kopf ist?« Sie
blinzelt mich von der Seite an.
»Sie fahren gleich auf den Lexus auf«, teile ich
ihr mit. Sie steigt auf die Bremsen. »Irgendwie schon, ja, ich hab
diesem Kerl nie wirklich über den Weg getraut.«
»Warum?«, fragt sie. »Spezielle Gründe?«
Keine speziellen Gründe. Nur ein merkwürdiges
Gefühl. Irgendwas an diesem Professor hat mich seit jeher
irritiert.
»Er war einer Ihrer wichtigsten Zeugen,
oder?«
»Könnte man so sagen. Er bezeugte vor Gericht, dass
Burgos versucht hatte, sich ein Alibi zu verschaffen. Burgos
fälschte die Listen mit seinen Arbeitszeiten, damit es so aussah,
als wäre er in der Druckerei gewesen, während er in Wahrheit
unterwegs war, um seine Opfer zu verschleppen. Laut diesen Listen
hat er immer von sechs bis Mitternacht gearbeitet, aber wir wissen,
dass er die Mädchen zwischen neun und zehn Uhr abends entführt hat.
Die Listen mit den Arbeitszeiten waren also gefälscht.«
Ich blicke Stoletti an, die den Sinn des Ganzen
nicht zu begreifen scheint.
»Sein Versuch, sich ein Alibi zu verschaffen«,
erkläre ich, »weist darauf hin, dass er sehr wohl ein
Unrechtsbewusstsein hatte. Er versuchte, die drohenden Konsequenzen
abzuwenden …«
»Ja, ja, schon klar.« Sie wendet sich kurz zu mir,
scheint etwas sagen zu wollen, verkneift es sich dann aber.
»Burgos hatte flexible Arbeitszeiten«, sage ich.
»Er konnte arbeiten, wann und wie viel er wollte, solange er das
Minimum von sechs Stunden nicht unterschritt. Vorsätzlich schrieb
er sechs bis Mitternacht auf. Was ist daran unklar?«
»Nichts, gar nichts.« Sie gibt ein Geräusch von
sich, eine Art nervöses Kichern. »Andersherum betrachtet, hatte
Burgos somit tatsächlich ein Alibi.« Sie schaut mich an. »Oder etwa
nicht? Er war bei der Arbeit, also konnte er die Mädchen nicht
ermordet haben.«
Jetzt lache ich, allerdings deutlich entspannter
als sie. »Aber es war ein gefälschtes Alibi. Stoletti, wenn er
einräumt, dass er diese Mädchen getötet hat – was er getan hat –
und anschließend auf Schuldunfähigkeit plädiert – was er ebenfalls
getan hat -, dann beweist das Alibi nicht mehr seine Unschuld,
sondern das genaue Gegenteil.«
Resigniert hebt sie die Hand.
»Und genau deshalb haben wir den Professor
gebraucht. Burgos wollte nicht aussagen, also konnten wir ihn nur
mit Hilfe von Albanys Aussage über die gefälschten Arbeitzeitlisten
festnageln.«
Stoletti nimmt die Auffahrt des Expressways, und
schon sind wir in Richtung Süden unterwegs. Es erweist sich, dass
sie noch schneller fährt als ich, was einem vermutlich besonders
reizvoll erscheint, wenn man eine Polizeimarke besitzt. Wir
entgehen haarscharf einem tödlichen Unfall, als sie einen Lastwagen
überholt und wir uns plötzlich einem dieser kleinen Saabs direkt
gegenübersehen. Macht richtig Spaß, mit dieser Frau unterwegs zu
sein.
»Also war Albany Ihr Hauptzeuge«, folgert
sie.
»Einer der Hauptzeugen, sicher. Das gefälschte
Alibi schwächte die Verteidigungsstrategie erheblich. Sie konnten
zwar nachweisen, dass er unter einer psychischen Störung litt, aber
in Sachen Unrechtsbewusstsein hatten sie keine Chance. Nicht nach
Albanys Aussage. Ich hatte eigentlich gehofft, lebend anzukommen«,
füge ich hinzu, als sie einen Augenblick später waghalsig zwischen
einem Camry und einem Porsche einschert.
»Stellen Sie sich nicht so an. Und du auch nicht«,
faucht sie in den Rückspiegel, als der Porschefahrer hinter ihr
hupt. Würde sie ihm jetzt noch den Finger zeigen, wäre ich wirklich
beeindruckt.
»Wir treten nicht als Partner auf«, belehrt sie
mich. »Sie kennen Albany, und das schüchtert ihn womöglich ein,
also halten Sie sich zurück.«
»In Ordnung. Es sei denn, ich will eine ganz
bestimmte Information. Sie haben Anweisung, mit mir zu
kooperieren.«
Stoletti kennt die Regeln. Ich habe vollen Zugang
zu allen Informationen. Aber Regeln sind nun mal dazu da, um
gebrochen zu werden. Und sie scheint nicht damit einverstanden, wie
ich sie auslege.
»Ich übernehme das Reden, wenn wir dort sind«,
teilt sie mir mit.
»Fragen Sie ihn, was immer Sie fragen wollen«, sage
ich. »Ich werde das Gleiche tun.«
»Ich führe das Gespräch. Verstanden?«
»Nein«, sage ich. »Nicht einverstanden. Fahren Sie
hier raus. Ich kenne eine Abkürzung.«
Mit quietschenden Reifen lenkt sie den Wagen auf
die Ausfahrt und zeigt dabei auf ihre Tasche zwischen meinen
Beinen.
»Da drin ist ein brauner Umschlag«, sagt sie. »Ihre
Kopie.«
Ich öffne ihn, obwohl ich es hasse, im Auto zu
lesen. Davon kriege ich immer Kopfweh. Aber ich muss auch kaum was
lesen, denn der Umschlag enthält Fotos vom Ciancio-Tatort. Bilder
des Toten, der mit gespreizten Gliedern auf dem Bett liegt, mit
Stichwunden übersät, vor allem in Beinen und Bauch, und der einen
tödlichen im Auge.
Es gibt mehrere Aufnahmen des Eispickels, ein Stück
Stahl, mit nadelfeiner Spitze und einem Holzgriff, bedeckt mit
Ciancios Blut. Als ich umblättere, stoße ich auf die Kopie eines
ausgerissenen alten Zeitungsfotos. Eine grobkörnige
Schwarzweiß-Aufnahme, und die Kopie ist auch nicht gerade die
beste, trotzdem entdecke ich darauf ein bekanntes Gesicht.
Harland Bentley.
Das Bild muss etwa aus der Zeit der Morde stammen.
Zumindest sah Harland damals so aus, das Haar ein bisschen voller,
sein Gesicht etwas schmaler. Er trägt einen Mantel und hat die
Augen gesenkt, während er sich durch eine Gruppe von Reportern
drängt, die ihm ihre Mikros entgegenstrecken. Ich kann nicht
erkennen, wo die Aufnahme gemacht wurde. Vielleicht irgendwo in der
Nähe des Gerichtsgebäudes. Ein anderer Mann steht in einiger
Entfernung, er trägt einen breitkrempigen Hut und hat Kopf und
Augen in Harlands Richtung gedreht. Er scheint Harland intensiv zu
mustern, auch wenn Fotografien immer diesen Effekt haben; die Leute
sehen oft aus, als starrten sie wie gebannt auf etwas ganz
Bestimmtes. Der Mann wirkt jung, obwohl seine Augen tief in den
Höhlen liegen und sich unter dem einem so etwas wie eine Narbe
abzeichnet. Ich kenne ihn nicht, würde mir aber sicher nicht
wünschen, dass mich jemand so bedrohlich anstarrt.
Ich blicke auf. »Fahren Sie geradeaus bis zur
nächsten Ampel und biegen Sie dann rechts ab. Ist das im
Hintergrund der Schlägertyp? Ist das das Foto, das McDermott
verteilt hat?«
Sie wirft einen kurzen Blick auf das Bild. »Ja. Wir
kennen Harland Bentley, und wir wissen, dass das um ihn rum
Reporter sind. Aber wer ist der finstere Typ?«
»Den Kerl hab ich noch nie zuvor gesehen. Wo haben
Sie das gefunden?«
»Haben wir heute Morgen erst reinbekommen. Es war
in einer Schuhschachtel in Ciancios Schlafzimmer.«
»Zusammen mit anderen Fotos?«
»Nein, es lag unter einem Paar Schuhen«, sagt sie.
»Er hatte es versteckt.«
Wir brettern an anderen Wagen vorbei, aber ich
beschließe, das Tempo-Thema vorläufig nicht mehr anzuschneiden.
Gerade überlege ich: Warum und vor wem versteckte Fred Ciancio
wohl ein Foto von Harland Bentley?, als Stoletti mir exakt die
gleiche Frage stellt. Ich antworte ihr, ich hätte nicht die
geringste Ahnung.
»Dort muss ich auch noch einen Zwischenstopp
einlegen«, sagt sie.
»Wo – bei Harland Bentley?«
»Ja.« Sie späht zu mir herüber. »Gibt’s ein Problem
damit?«
»Nein, ich … haben Sie ihn vorher angerufen?«
»Ich habe jemand überprüfen lassen, ob er in der
Stadt ist. Heute ist er in seinem Büro. Ich schau nur kurz
rein.«
»Ohne ihn vorher anzurufen?«
Sie legt den Kopf schief. »Ich nehme mir diese
Typen lieber vor, wenn sie einen nicht erwarten. Bevor sie sich
ihren Rechtsbeistand besorgen können und alles nur noch
komplizierter machen. Unser Täter wird bald wieder zuschlagen. Wir
müssen uns also beeilen. Ich hab keine Lust, Zeit mit teuren
Anwälten zu verschwenden.«
Sie nickt. »Das Gleiche gilt für den Professor. Er
ist nicht auf uns gefasst. Sein Unterricht endet um elf, und wir
werden auf ihn warten. Glauben Sie mir, man erfährt mehr, wenn man
sie unvorbereitet erwischt.«
»Das wusste ich nicht«, sage ich leise.
»Muss es mich kümmern, was Sie wissen oder
nicht?«
»In dem Fall schon.« Ich blicke sie an. »Weil ich
Harland Bentleys teurer Anwalt bin.«
»Das soll ja wohl ein …« Sie hebt die Hand, als
wolle sie sich selbst Einhalt gebieten. »Seit wann denn das?«
»Seit etwa fünfzehn Jahren. Ich vertrete all seine
Firmen. Das ist nicht gerade ein Geheimnis.«
»Mir jedenfalls ist es neu. Haben Sie mit ihm schon
über das Ganze hier gesprochen? Über unsere Ermittlungen?«
»Sie rechnen doch jetzt nicht ernsthaft mit einer
Antwort?«
Sie fährt an den Bordstein und bremst scharf ab.
Ich bin überrascht, dass der Airbag nicht herausplatzt. Sie fährt
zu mir herum und ist plötzlich nur noch wenige Zentimeter von mir
entfernt. »Einen Moment mal. Sie vertreten Harland Bentley in
diesem Fall?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ja oder nein?«
»Harland Bentley hat nichts zu verbergen.
Entspannen Sie sich, Ricki. Werden Sie nicht hysterisch.«
Ihre Kiefer mahlen, während sie mich wütend
anfunkelt. Aus Erfahrung weiß ich, dass Frauen es überhaupt nicht
leiden können, wenn man sie der Hysterie bezichtigt.
»Ich mag Sie nicht, Riley«, sagt sie. »Nur damit
Sie Bescheid wissen.«
»Den Eindruck habe ich langsam auch.«
»Und Sie werden auch bald einen Eindruck von meinen
Handschellen an Ihren Armen haben, wenn Sie glauben, Sie könnten
hier ein doppeltes Spiel spielen.«
»Detective Stoletti«, sage ich ruhig. »Legen Sie
den Gang wieder ein und fahren Sie zum Campus. Es ist kurz vor elf.
Ich werden Ihnen helfen, rauszufinden, wer das getan hat, weil ich
es Evelyn Pendry schulde und weil es mich ärgert, dass mir dieser
Idiot Briefe schreibt. Und weil Sie, wenn Sie eine ebenso schlechte
Polizistin sind wie Ihre sämtlichen Ex-Kollegen von Major Crime,
nicht mal einen Katholiken im Vatikan finden würden.«
Sie beißt sich auf die Zunge, während sie knallrot
anläuft, dann drischt sie den Gang rein. »Wenn ich dahinterkommen
sollte, dass Sie diese Ermittlungen sabotieren, dann werden Sie
selbst einen teuren Anwalt brauchen.« Sie gibt Gas und jagt über
eine rote Ampel. Ich umklammere die Armlehne und schließe die
Augen.