45.
Kapitel
Leo wartet auf der Straße gegenüber von Rileys
Büro. Nirgendwo ist einer dieser Kuriere in Sicht, mit ihren
leuchtfarbenen Jacken und Fahrradhelmen. Er denkt an seinen
LeBaron, der auf einem Parkplatz um die Ecke steht. Er muss dorthin
zurück. Ihm bleibt nicht viel Zeit.
Er rückt seine Brille zurecht – eine falsche mit
ungeschliffenen Gläsern – und zieht sich die Baseballmütze tief in
die Stirn. Die Art der Verkleidung spielt keine große Rolle,
Hauptsache, man erkennt ihn nicht.
Sobald ich das Gebäude betrete, haben sie mich auf
dem Überwachungsvideo. Aber ich bin in Eile.
Leo senkt den Kopf, sein Herz rast. Er überquert
die Straße in einem Pulk von Fußgängern und verschwindet in dem
Gebäude. Er beobachtet den Aufzug und den Wachmann oben auf der
Galerie.
Sie suchen nach mir.
In dem Moment bemerkt Leo, wie einer dieser Kuriere
den Aufzug nach unten besteigt. Er atmet erleichtert auf. Der Mann
ist jung, seine Umhängetasche leer.
Leo winkt ihn heran, in der einen Hand den
Umschlag, in der anderen die fünfzig Dollar.
McDermott kann spüren, dass Albany sich langsam
wieder berappelt. Offensichtlich lässt er sich die ganze Sache
durch den Kopf gehen. Er wägt seine Optionen ab und sieht
mittlerweile keinen Grund mehr, warum er nicht erzählen soll, was
er weiß.
»Also, was ist schlimmer, als die beste Freundin
der eigenen Tochter zu vögeln?«, wiederholt McDermott.
Der Professor schiebt sich eine Zigarette zwischen
die Lippen und zündet sie an. Er bläst den Rauch aus und starrt zur
Decke.
»Die Schwester seiner eigenen Frau zu vögeln«,
stößt er hervor.
Wessen Schwester – was?
»Meinen Sie Natalias Schwester?«
Die Spur eines Lächelns stiehlt sich auf Albanys
Gesicht. »Mia Lake«, sagt er. »Gwendolyns Mutter.«
»Harland hatte was mit Mia Lake?«
Albany nickt. »Cassie hat über Vaterschaft geredet?
Ich wette, es drehte sich um Gwendolyn.«
McDermott lässt sich in seinen Stuhl zurücksacken.
»Harland ist Gwendolyns Vater?«
Albany wirkt befriedigt nach dieser Offenbarung.
»Ich schätze, er hat sich während Natalias Schwangerschaft, als sie
ihn nicht ranließ, der Schwester zugewandt.« Er zuckt mit den
Achseln. »Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie doch einfach
Gwendolyn. Oder machen Sie am besten gleich Ihren dämlichen
Test, zum Teufel.«
McDermott späht kurz zu Stoletti hinüber.
»Sie können sich vorstellen«, fährt Albany fort,
»dass ein Mann, der eine Milliardenerbin geheiratet hat – mit einem
knallharten Ehevertrag übrigens – wenig Wert darauf legt, dass so
was publik wird. Cassie jedenfalls ging wohl kaum davon aus, dass
ihr Vater das öffentlich breitgetreten haben wollte.«
Das musste der Anlass für den heftigen Streit
gewesen sein, von dem Brandon gesprochen hatte, in Gwendolyns Villa
kurz vor den Examen. Deshalb war Cassie aus dem Haus gerannt.
»Moment.« McDermott presst die Hände flach auf den
Tisch. »Hat Cassie Ihnen das erzählt?«
»Sicher. Woher sollte ich es denn sonst wissen?
Gwendolyn hat es Cassie erzählt, Cassie erzählte es mir. Diese
Gwendolyn war wirklich ein mieses Stück. Sie hasste Cassie. Sie
wollte sie verletzen.«
»Und wer wusste noch davon? Ihnen hat Cassie es
erzählt – und wem sonst noch?«
»Sie meinen, ob Ellie es gewusst hat?« Albany zieht
genussvoll an seiner Zigarette. »Das ist anzunehmen, auch wenn ich
da keinen Einblick habe.«
Nein, McDermott denkt dabei nicht an Ellie. Er
denkt an Harland Bentley. Vielleicht hat Cassie Harland
angerufen:
Du bist der Scheißvater.
Vielleicht hatte Cassie gar nicht über ihre eigene
Schwangerschaft gesprochen, als Brandon sie belauschte. Sondern
über Gwendolyn.
Du bist der Scheißvater.
Deshalb könnte sie so verwirrt gewesen sein. Ein
dreifacher Tiefschlag – ihr Vater hatte eine uneheliche Tochter,
die Cassie immer für ihre Cousine gehalten hatte; offensichtlich
ging ihr Vater erneut fremd, diesmal mit ihrer besten Freundin; und
dann noch ihre eigene Schwangerschaft.
Das reichte, um jemanden endgültig über die Kante
zu schubsen. Zumal der größte Teil ihrer Qualen auf eine einzige
Person zurückzuführen war – Harland Bentley.
Daraus ließ sich folgern, dass der Einbruch in die
Praxis von Cassies Ärzten nichts mit Cassie zu tun hatte. Es ging
dabei um Gwendolyn. Natürlich. Sie hatte vermutlich die gleichen
Ärzte wie Cassie. Warum auch nicht? Vielleicht hatte sie einen
Bluttest machen lassen, den ersten Schritt zu einem
Vaterschaftstest?
»Cassie hat Ihnen also Dinge erzählt, die sie nicht
mal Ellie anvertraute«, nimmt Stoletti den Faden wieder auf.
»Demnach standen Sie sich sehr nahe.«
Albany lächelt bitter. »Sie stellen ausgesprochen
trickreiche Fragen, Detective Stoletti. Wollen Sie mir damit etwa
das Geständnis entlocken, ich hätte eine Affäre mit Cassie gehabt?
Das ist nicht nötig. Sie war damals bereits neunzehn, wissen Sie.
Ich habe gegen keinerlei Gesetz verstoßen. Sie war klug, voller
Energie – sie war ein wunderbares Mädchen, das ich bis heute sehr
vermisse. Aber sollte sie wirklich schwanger gewesen sein, hat sie
mir nie ein Wort davon gesagt.«
McDermott deutet mit dem Kinn auf den Brief. »Wann
haben Sie den gekriegt?«
Albany schwenkt die Hand mit der Zigarette
ebenfalls Richtung Brief. »Diese Nachricht wurde mir von dem Mann
auf dem Foto überbracht. Und das war das erste und letzte Mal, dass
ich ihn zu Gesicht bekommen habe.«
»Leo Koslenko.«
»Keine Ahnung, wie er heißt«, sagt er. »Hab ich
auch nie gewusst. Er ließ mich den Brief nicht mal anfassen. Er
marschierte in mein Büro und hielt ihn mir zum Lesen vor die Nase.
Ich musste ihm damals auf der Stelle eine Antwort geben.«
»Und wann war damals? Wann genau passierte
das Ganze?«, drängt McDermott.
»Ich kann mich nicht mehr an den Wochentag
erinnern, ich weiß nur noch, dass es ein Werktag war. Ein paar Tage
nachdem die Leichen gefunden worden waren.« Er gestikuliert mit
seiner freien Hand. »Dieser Mann platzt einfach so in mein Büro,
schiebt mir den Zettel ins Gesicht und sagt, er braucht sofort eine
Antwort. Ich hab ja gesagt.«
»Aber nie die Notwendigkeit gesehen, das der
Polizei mitzuteilen?«, fragt McDermott in keinem sonderlich
freundlichen Ton.
»Nein, in der Tat. Weil schließlich jeder davon
ausging, dass Terry Burgos diese armen Mädchen ermordet hatte.« Er
stippt seine Zigarette in dem schwarzen Aschenbecher aus. »Und
natürlich wollte ich mich selbst schützen, zugegeben. Hätte ich
auch nur den geringsten Zusammenhang zu Morden erkannt, hätte ich
mich sofort gemeldet. Doch Terry hat die Morde gleich gestanden.
Warum in aller Welt hätte ich also peinliche Geheimnisse über mich
und andere offenbaren sollen, wo doch keinerlei Zusammenhang
bestand?«
McDermott öffnet fragend die Hände.
»Ich habe nichts mit Cassies oder Ellies Ermordung
zu tun.« Albany bohrt einen Finger in den Tisch. »Besonders an
Cassie lag mir viel. Der Gedanke, ich hätte ihr was antun können –
das ist das Schlimmste, was Sie mir unterstellen können.«
»Oh, womöglich können wir noch mit Schlimmerem
aufwarten, Professor.« McDermott hievt sich aus seinem Stuhl. »Sie
werden leider eine Weile hier ausharren müssen.«
Als ich ins Büro zurückkomme, hat Betty schon den
Ordner mit den Briefen bereitgestellt, die während des Burgos-Falls
an die Bezirksstaatsanwaltschaft geschickt wurden. Jedes einzelne
Schreiben wurde damals datiert und archiviert. Eine reine
Vorsichtsmaßnahme. Die Dinger fanden nie irgendeine Verwendung. Und
als der Fall dann offiziell abgeschlossen war – nach Burgos’
Hinrichtung – und alle scharf waren auf kleine Erinnerungsstücke,
krallte ich mir die Briefe. Ich hatte die vage Idee, ein Buch über
den Fall zu schreiben, und einige dieser Briefe schienen mir dabei
durchaus verwendbar.
Aber ich erinnere mich jetzt daran, dass es damals
einen Brief gab, der mir besonders auffiel. Es war keine der
üblichen alttestamentarischen Tiraden über gerechten göttlichen
Zorn. Es ging darin zwar auch um Moral, aber weniger im biblischen,
als vielmehr in einem absurden, seltsam verdrehten Sinn. Wie die
Botschaften, die ich seit einiger Zeit erhielt.
Ich blättere den Aktenordner durch, ein Brief auf
jeder Seite, feinsäuberlich in Plastik gehüllt. »Irgendeine Idee,
wann der Brief damals eintraf?«, frage ich Betty.
Aber sie hat keinen Schimmer, von was ich rede. Ich
mache weiter, dann stockt meine Hand. Da ist er.
Gerechtigkeit unentwegt triumphiert,
ebenso aber regiert Böses ewig. Ich tadle bitter Euer neues
öffentliches Treiben, Ihr gebildeten Eliten. Eigennutz verdrängt
Ethos: Nächstenliebe, Treue und Ethik leugnet lästerlich Euer
Regieren. Nur einige Unerschrockene tadeln Heuchelei. Ihr
lasterhaften Frevler, erwartet Antwort. Lernend, bereut auch
neuerlichen Irrglauben.
Ich mache mich sofort an die Arbeit.
G-U-T-E-A-R-B-E-I-T-B-E-N-Ö-T-I-G-E-E-V-E-N-T-U-E-L-L-E-R-N-E-U-T-H-I-L-F-E-A-L-B-A-N-I
Gute Arbeit. Benötige eventuell erneut Hilfe.
Albani.
Ich betrachte den Poststempel auf dem Umschlag.
Der Brief war am Dienstag, den 15. August 1989, eingegangen.
Ich öffne die Metallringe des Ordners und zupfe den
Brief in seiner Plastikhülle heraus. Dann lege ich ihn auf den
Tisch und starre ihn an.
Wieder steht Albani am Ende der Nachricht.
Diesmal jedoch regt sich kein Zweifel über die Zeichensetzung. Das
Wort Albani steht allein. Vielleicht ist es auch ein
Doppelpunkt. »Ich benötige eventuell erneut Hilfe: Albani.«
Oder es ist eine Unterschrift. Oder vielleicht will er mir auch den
Täter verraten – Albany.
Gute Arbeit? Im August 1989? Der Fall kam
gerade erst in die Gänge. Es gab nichts, wozu man mir hätte
gratulieren können.
»Betty«, rufe ich in die Gegensprechanlage. »Wo
sind die Unterlagen des Burgos-Falles?«
»Müssten eigentlich schon in deinem Büro
liegen.«
Ich finde sie in der Ecke, zusammen mit weiteren
Ordnern. Die Anklageunterlagen umfassen mit ihren sieben dicken
Bänden fast alle wichtigen Dokumente des Falls. Sie bieten eine
komplette chronologische Ordnung, sind mit nummerierten Reitern
versehen und am Rand gebunden. Ich blättere den ersten Band durch.
Wenn der Brief am 15. August 1989 eintraf, dann musste sich die
gute Arbeit auf etwas beziehen, das davor geschehen
war.
Ich überfliege die Monate Juni und Juli. Der
Hausdurchsuchungsbefehl, die Anklageschrift, eine Debatte über
Kautionsstellung, der Schriftwechsel anlässlich von Burgos’
Versuch, sein Geständnis als unzulässig erklären zu lassen, Burgos’
Antrag auf Schuldunfähigkeit. Vielleicht spielt dieser Brief auf
unseren Sieg an, als Burgos’ Geständnis vor Gericht anerkannt
wurde? Durchaus möglich.
Im August – insbesondere in der Zeit vor dem 15.
August – wurde kaum etwas dokumentiert. Am Ersten des Monats hatte
Burgos’ Anwalt einen Antrag auf Bewilligung von mehr Geld für
Burgos’ Psychiater gestellt. Und dann war da noch ein Antrag der
Staatsanwaltschaft vom 2. August.
Über diesen Antrag war am 11. August 1989
entschieden worden – an dem Freitag, bevor dieser Brief
eintraf.
»O Jesus.«
Am 11. August 1989 hatten wir beantragt, die
Anklage im Mordfall Cassie Bentley fallenzulassen, und kurz darauf
die Zustimmung erhalten.
Gute Arbeit.
Betty kommt in mein Büro gestürmt. »Paul, du hast
schon wieder einen Brief per Kurier gekriegt. Die Leute von der
Rezeption haben den Boten gebeten, zu warten. Er sagt, ein Typ mit
Bart und Brille hätte ihn in der Lobby angesprochen und ihm fünfzig
Dollar fürs Zustellen gezahlt.«
»Bring mir den Brief«, sage ich. »Und schaff mir
Detective McDermott ans Telefon.«