18. Kapitel
Nachdem er Richter Landis kurz seine Sicht des Falls skizziert hat, lehnt sich Jeremy Larrabee zurück und überkreuzt die Beine. Seine Klientin, Josefina Enriques, ist Verwaltungsangestellte in einer der in den Vororten gelegenen Fabriken von Bentley Bearings. Die zweiundfünfzigjährige Latino-Frau hat vor einem Jahr eine Entschädigungsklage wegen eines Karpaltunnel-Syndroms eingereicht. Drei Monate darauf wurde sie von meinem Klienten Bentley Bearings gefeuert. Die Klage, die Jeremy Larrabee in ihrem Fall eingereicht hat, beinhaltet den Vorwurf der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht und Alter sowie eine Entschädigungsklage wegen Verdienstausfalls. Er hat das Gericht wissen lassen, dass er gegebenenfalls eine Sammelklage aller Betroffenen in Erwägung zieht.
Richter Landis richtet seine müden Augen auf mich. »Mr. Riley?«
Ich bin aus zwei Gründen sauer. Erstens schmerzt mein Schädel wie die Hölle. Und zweitens sollte ich eigentlich gar nicht hier sein. Ich bin zwar der Letztverantwortliche für alle Rechtsangelegenheiten von Harland Bentleys Firmen, aber mit dem Tagesgeschäft habe ich normalerweise wenig zu tun. Das ist Aufgabe der angestellten Partner in der Firma. Wenn jedoch ein Richter zu einer Schlichtungsverhandlung aufruft, so wie Richter Landis heute, muss der Prozessanwalt anwesend sein, also der hauptverantwortliche Rechtsbeistand beider Parteien. Aus diesem Grund bin ich hier.
Eigentlich gibt es sogar drei Gründe, warum ich sauer bin. Denn nicht nur mein Hinterkopf ist von dem Überfall in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch mein Stolz. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich dieser Frau gestern auf den Leim gegangen bin. Sie musste nur ein bisschen mit den Wimpern klimpern, und schon habe ich jede Vorsicht sausen lassen.
»Oh, ich bin schon neugierig, wie Mr. Riley die Sache diesmal hindrehen wird«, bemerkt Jeremy Larrabee. Jeremy und ich haben eine gemeinsame Vorgeschichte, zwar keine besonders freundschaftliche, aber ich habe immer wieder meinen Spaß mit ihm. Er ist leicht reizbar, trägt einen Pferdeschwanz wie in den Sechzigern, hat pockennarbige Haut, tief liegende Augen, und seine Anzüge schillern in den kühnsten Farben. Heute hat er ein zitronengelbes Hemd gewählt, dazu eine wild gemusterte lila Krawatte und ein schokoladenbraunes Sakko.
»Ihre Klientin wurde gefeuert, weil sie die Mittagspausen zwei Stunden überzogen hat«, sage ich. »Und weil sie nur einmal in der Woche unter die Dusche ging. Wir bieten nicht einen Cent.«
Larrabees Kiefermuskeln ballen sich. Oberhalb seiner buschigen Augenbrauen schwillt eine Ader. Er ist jetzt über sechzig, und wie man munkelt, hat er den Job als Strafverteidiger an den Nagel gehängt – angeblich schon kurze Zeit nach dem Burgos-Prozess. Mittlerweile hat er sich aufs Privatrecht verlegt und vertritt ihm interessant erscheinende Mandanten. So verwendet er einen Großteil seiner Zeit darauf, Bentley Bearings, eine Tochterfirma der Harland Bentley Holding Company, kurz BentleyCo, mit Anzeigen zu überschütten. Aktuell hat er nicht weniger als elf Klagen gegen uns laufen. Bisher haben wir allerdings in keinem einzigen Fall ein Angebot gemacht. Währenddessen häufen sich bei ihm Unmengen von Kosten und Gebühren, und er versucht gerade verzweifelt, seine Kriegskasse wieder zu füllen – erzielt er nur einen einzigen erfolgreichen Vergleich, kann er alle anderen Fälle mitfinanzieren.
»Ich würde gerne mit jedem von Ihnen einzeln sprechen«, sagt der Richter. »Fangen wir mit Mr. Riley an.«
Eine übliche Taktik bei Vorverhandlungen – der Richter redet mit beiden Parteien gesondert und erklärt ihnen, ihr Fall sei völlig aussichtslos und sie täten gut daran, sich schnellstmöglich auf einen Vergleich einzulassen. Richter bevorzugen immer einen Vergleich, denn er entlastet ihren übervollen Terminkalender. Und das Allerletzte, was Richter Landis will, ist eine Sammelklage in einem läppischen Fall wie diesem.
Jeremy erhebt sich zögernd und blickt auf mich herab. »Mr. Riley«, sagt er und marschiert dann hinaus.
Sobald sich die Tür schließt, lasse ich meinen Kopf auf die Hände sinken. Jetzt sind wir unter uns.
»Ich bemerke da eine Schwellung an deinem Hinterkopf«, sagt der Richter. »Und deine Hand war auch schon mal präsentabler.«
»Du hättest erst den anderen Burschen sehen sollen.«
»Und wie geht’s der Tochter des Gouverneurs?«
Er meint Shelly. Stumm schaue ich zu ihm auf, meine Miene spricht Bände.
»Wirklich schade.« Er lehnt sich in seinem Ledersessel zurück. »Ich konnte sie gut leiden. Sie hat echten Kampfgeist.«
»Das hat sie ganz sicher.«
»Ich denke, sie hat da einen Riesenfehler gemacht. Nun ja. Nach allem, was man hört, vertrittst du Senator Almundo in der Public-Trust-Anklage. Er steht wohl ziemlich unter Druck?«
»Noch ein bisschen mehr Druck«, sage ich, »und er explodiert.«
»Tja, aber wenn es jemand gibt, der in so einem Fall noch ein Kaninchen aus dem Hut zaubern kann, dann …« Der Richter nickt in Richtung Tür. »Interessant, dass Larrabee sich auf Harland Bentleys Firmen eingeschossen hat. Bei dieser Vorgeschichte.« Er schüttelt den Kopf, als wisse er nicht, was er davon halten soll. »Hegt er da irgendeinen alten Groll?«
Ich zucke mit den Achseln. »Sein Mandant hat Harlands Tochter ermordet. Warum sollte ausgerechnet er was gegen Harland haben?«
Richter Landis trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch. Ganz offensichtlich ist das auch ihm ein Rätsel. Kein normaler Mensch wird wohl je die Launen Jeremy Larrabees verstehen. »Gut, Paul, kommen wir zu unserem Fall hier …«
»Keinen Cent, Danny«, sage ich. »Larrabee ist wie Ungeziefer. Wirfst du ihm einen Krümel hin, hast du bald eine Invasion.«
Der Richter lässt die Hände auf seinen massiven Schreibtisch fallen. Sein Zimmer ist im Jagdhausstil eingerichtet. Auf dem Boden liegen Bärenfelle, die Wände zieren abgeschlagene und ausgestopfte Tierköpfe. Ich bin kein Jäger, aber ich habe schon ein paar Runden Golf mit dem ehrenwerten Richter Daniel Landis gespielt. Und meines Wissens nach ist er in seinem Leben nie was anderem hinterhergejagt als einem verschlagenen Golfball.
Er massiert sich die eindrucksvolle Stirn und wackelt dann mit dem Zeigfinger. »Du wirst ein bisschen Geld springen lassen müssen, damit er endlich Ruhe gibt.«
»Alles, was wir springen lassen, ist ein Jahr Gratisseife für seine Klientin.«
Die Schultern des Richters beben, als er losprustet. »Und einen Futtersack, den sie sich vors Gesicht schnallen kann.«
»Aufhören.« Sein Gesicht ist rot wie eine Tomate und zu einem breiten Grinsen verzerrt. Er ringt nach Atem. »Zehntausend«, sagt er. »Dein milliardenschwerer Klient verjubelt das bei einem einzigen Dinner. Und die Frau wird wieder eingestellt.«
»Zehntausend was?«, frage ich. »Zehntausend Nasenstöpsel für die Leute, die in ihrer Umgebung arbeiten müssen?«
Der gefällt Danny sogar noch besser. Sein Lachen geht in einen keuchenden Husten über, und er winkt mir, ich soll gehen. Sein Gesicht ist leuchtend rot, und er hält zehn Finger hoch, als ich die Tür zur Richterkammer hinter mir schließe.
Jeremy Larrabee sitzt im leeren Gerichtssaal und spricht in sein Handy.
Er scheint überrascht. »Schon fertig?«, fragt er und schaltet sein Handy aus. An seinem Pokerface muss er noch arbeiten. Er hat wohl auf irgendein Einlenken meinerseits gehofft, aber die Tatsache, dass ich nur sechzig Sekunden drin war, spricht für sich. Ich schnappe mir meine Jacke und meinen Aktenkoffer.
»Gehen Sie schon?«, fragt er.
»Sieht so aus.« Normalerweise versuche ich Kollegen gegenüber immer höflich zu sein, aber dieser Typ will eine von Harlands Firmen auspressen, und die Anklagepunkte sind absoluter Humbug. Soll er ruhig spüren, wie gleichgültig er mir ist.
»Geben Sie dem Richter eine Minute«, sage ich. »Er vergießt immer noch Tränen über das Schicksal Ihrer Klientin.«
»Ich werde eine Sammelklage anstrengen«, erwidert er und reckt das Kinn. »Dann werden die Karten neu gemischt.«
Danny Landis wird in diesem Fall niemals eine Sammelklage zulassen. Jeremy müsste das eigentlich wissen. Ein guter Anwalt kennt das Gesetz. Aber ein wirklich exzellenter Anwalt kennt seinen Richter.
»Jeremy.« Ich trete einen Schritt näher. »Tun Sie sich selbst einen Gefallen, und suchen Sie sich eine andere Firma aus. Wir werden in keinem dieser Fälle einem Vergleich zustimmen. Es sind elf Prozesse, und Sie werden alle verlieren. Das verspreche ich Ihnen. Denken Sie auch mal ans Geschäft.«
Kurz schießt mir die Frage des Richters durch den Kopf, warum Jeremy es auf Harlands Unternehmen abgesehen hat. Will er irgendeine alte Rechnung begleichen? Eine Frage, die mich beschäftigt, seit er die erste Klage eingereicht hat. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Er würde mir wohl auch kaum die Wahrheit sagen.
Als ich mich entferne, ruft er mir hinterher: »Prozesskosten.« Das ist das Mantra des verzweifelten Anwalts. Der Prozess kostet dich hundertausend, also gib mir achtzigtausend, und wir stehen beide als Gewinner da. Darauf spekulieren diese Parasiten. Sie bauen darauf, dass den Unternehmen die Klärung der Rechtsfrage gleichgültig ist und dass sie zahlen, einfach nur um Anwalts- und Prozesskosten zu sparen. Aber da haben sie die Rechnung ohne Harland Bentley gemacht. Und ohne mich.
»Fünftausend«, sage ich, indem ich die Forderung des Richters aufgreife und den Betrag halbiere.
»Fünftausend sind zu wenig«, sagt Larrabee. »Allein der Verdienstausfall …«
»Ich meine für alle elf Fälle zusammen.« Mit diesen Worten stoße ich die Tür auf und marschiere aus dem Gerichtssaal.
 
McDermott kommt zwanzig Minuten zu spät zum Dienst, hält das aber für vertretbar, da er bis tief in die Nacht hinein mit dem Ciancio-Mord zu tun hatte. Der wachhabende Sergeant begrüßt ihn mit »Hey, Chief«, als er an ihm vorbeitrottet. McDermott verzieht die Lippen und blinzelt dem Mann müde zu. Der Kaffee in dem Styroporbecher in seiner Hand – eine dunkel geröstete Mischung von Dunkin Donuts – ist heiß, aber vermutlich wird er nicht dazu kommen, auch nur einen Schluck davon zu trinken, bevor er kalt wird.
»Morgen, Chief.« Kopecky, ein weiterer Detective, klopft ihm auf die Schulter.
»Schluss jetzt mit dem Chief-Quatsch«, sagt McDermott laut und vernehmlich, was vermutlich ein Fehler ist, denn sein Ärger wird sie nur noch mehr anstacheln. Er stellt den Kaffee auf seinem überladenen Schreibtisch ab, der zur Hälfte von einem brandneuen Dell-Computer mit Beschlag belegt wird, mit dem er nicht richtig zurechtkommt.
»Hey, Chief, Streets und San haben eine Leiche im Müll gefunden.« Diesmal ist es Collins, wie McDermott ein großer stämmiger Ire. »Ich nehme Kopecky mit.«
McDermots Blick schweift durch das betriebsame Revier und bleibt an der Tür des Lieutenants hängen. Offensichtlich hat der Lieutenant einen schlechten Tag, weswegen Collins seine Frage an McDermott richtet. »Sicher, Collins, tun Sie das.«
McDermott ist keineswegs der Chef des Reviers. Eigentlich sind die Detectives des Dritten Bezirks Lieutenant Coglianese unterstellt, der schon bessere – will sagen nüchternere – Tage gesehen hat. Vor vier Monaten ist seine Frau gestorben, und als er nach der Trauerzeit wieder auftauchte, konnten es die Cops im Dritten buchstäblich riechen. Er hatte auch früher öfter mal einen über den Durst getrunken, wie schon sein Vater, und unter den Detectives wurde debattiert, wie man sich verhalten sollte. Sie hatten sich an den dienstältesten Detective gewandt, McDermott, der die Devise ausgab, man werde den Chef die nächsten sechs Monate mit durchschleifen, dann hätte er die dreißig Dienstjahre voll und könnte bei voller Pension abtreten.
An sich eine noble Tat, die aber leider zur Folge hatte, dass McDermott nun nicht nur seinen eigenen Papierkram, sondern auch noch den seines Chefs erledigen musste. Und zwischenrein sollte er, so ganz nebenbei, auch noch ein paar Fälle aufklären.
Er blickt auf das Schwarze Brett und die Zahl der ungeklärten Mordfälle. Heute würden sicher noch einige dazukommen, angefangen mit dem Mädchen aus dem Müll. Die Geschäfte im Dritten Revier brummen. Besonders in den Sommermonaten. Die Zahl der Vergewaltigungen und Raubüberfälle verdoppelt sich zwischen Mai und September. Schießereien zwischen Gangs verdreifachen sich sogar. Einige meinen, es sei wegen der Hitze und ihren Auswirkungen auf den Gefühlhaushalt der Leute. McDermott macht allerdings eher die längeren Tage dafür verantwortlich. Mehr Zeit für die Gangster, sich gegenseitig abschätzige Blicke zuzuwerfen.
»Collins«, sagt er und öffnet den Deckel seines Kaffeebechers, um wenigstens das starke Aroma zu genießen. »Wo liegt die Leiche?«
Das interessiert ihn deshalb, weil letzte Woche auf der Venice Avenue ein Scharfschütze das Feuer auf eine Gruppe von Polizisten eröffnet hat, die gerade einen Tatort untersuchten. Das Ganze hatte eine Großfahndung im Andujar-Wohnprojekt ausgelöst. Inzwischen trugen die meisten Detectives dort kugelsichere Westen, genau wie die Streifenbeamten.
Am Ende hatte sich der Heckenschütze als ein elfjähriger Junge erwiesen, bewaffnet mit einer alten Jagdflinte.
»East Side.« Collins hängt sich die Weste um. »Zwischen LeBaron und Cape.«
LeBaron und Cape. Keine schlechte Gegend, also keine Verstärkung notwendig. »Das ist meine Nachbarschaft«, sagt McDermott. »Sorgt mir dort für Ordnung.«
In Gottes Namen
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