35.
Kapitel
Mit zitternden Händen heftet Leo das Foto an den
Spiegel des Hotelbadezimmers. Er entspannt sich, wendet eine
Atemübung an, die er bei Dr. Pollard gelernt hat, strafft seinen
Körper und versucht, das Foto anzulächeln. Er kann ihr nur helfen,
wenn er ganz ruhig ist.
Es ist die Kopie eines Fotos aus dem
Highschool-Jahrbuch. Ihr Kopf ist etwas unnatürlich geneigt, und
sie schaut nicht direkt in die Kamera. Sie trägt einen schlichten
pinkfarbenen Pullover mit V-Ausschnitt und ein Kettchen mit einem
Glücksbringer um den Hals. Ihr Haar ist frisch geschnitten, kaum
schulterlang, ihr Lächeln das eines Engels.
Du siehst hübsch aus.
In seiner Vorstellung ist ihr Gespräch ganz locker
und entspannt:
Quatsch, tu ich gar nicht.
Doch, das tust du. Ich schwör dir, du siehst
wunderhübsch aus. Und ich will, dass du dir keine Sorgen machst.
Ich werde mich um alles kümmern. Sie wollen gewisse Dinge über dich
verbreiten, aber das werde ich nicht zulassen. Niemand wird etwas
erfahren.
Aber Brandon ist noch am Leben.
Ich weiß, meine Liebste, mein Ein und Alles, aber
ich habe schon einen Plan.
Mit dem Finger zeichnet er die Umrisse ihres
Gesichts nach. So schön, so wunderschön.
Ich liebe dich, Leo.
Und ich liebe dich, Cassandra.
Wenn du mich liebst, dann verrate mir deinen
Plan.
Pst … bitte, mach dir keine Sorgen.
Leo beugt sich dicht zum Foto und streift mit den
Lippen ihre Stirn. Ich muss leider gehen, aber ich bin bald
zurück.
Zweite Runde des Gesprächs mit Brandon Mitchum. Er
macht einen entspannteren Eindruck, offensichtlich wirken die
Beruhigungsmittel. Gedankenverloren kaut er auf seinen Lippen
herum, als Stoletti und McDermott ihre Plätze wieder
einnehmen.
McDermott weiß jetzt, dass Riley richtig liegt. Der
Täter hat diesmal tatsächlich schlampig gearbeitet. Er ist von
seinem Plan abgewichen. Offensichtlich ist er im Besitz von Evelyn
Pendrys verschwundenem Computer. Er hat ihre Aufzeichnungen
gelesen, alles, was sie recherchiert hat. Dabei ist er auf Brandon
Mitchums Namen gestoßen und hat ihm einen Besuch abgestattet. Aber
er hat überstürzt gehandelt – gerade mal einen Tag nach dem Mord an
Evelyn – und sich nicht damit abgegeben, die Umgebung vorher
gründlich zu studieren. Daher hatte er keine Ahnung, dass das
Schloss an der Eingangstür zu Brandons Wohnhaus defekt war. Diesmal
hat er sich nicht die Zeit genommen, unbemerkt in das Apartment
einzudringen und seinem Opfer dort aufzulauern.
Und das, obwohl er sein Handwerk verdammt gut
beherrscht. Er ist trainiert darin, Schlösser zu knacken und
Menschen in seine Gewalt zu bringen.
Evelyn war offensichtlich auf der richtigen Spur,
und jetzt folgt der Täter dem von ihr skizzierten Weg und versucht
dabei, alle Spuren zu verwischen. Evelyn hat mit Ciancio
gesprochen, der jetzt tot ist. Evelyn hat mit Brandon geredet, also
sollte der als Nächster dran glauben. Und weil Evelyn auch
Professor Albany kontaktierte, hat McDermott gerade im Revier
angerufen und einen Streifenwagen zu dessen Haus beordert.
Stoletti beginnt. »Hat Evelyn Pendry Ihnen
verraten, was sie vorhatte?«
»Sie wollte über Terry Burgos schreiben, nehme ich
an.« Brandons Stimme ist jetzt dünn und heiser. Langsam geht ihm
die Kraft aus. »Eine Reportage oder so was.«
»Eine Reportage«, schaltet sich McDermott ein.
»Also kein reiner Hintergrundsbericht.«
Brandon fasst sich mit der Hand an den
Gesichtsverband. »Evelyn war Reporterin, wie Sie ja wissen, daher
hat sie sich ziemlich bedeckt gehalten. Vermutlich wollte sie ihre
Story schützen. Aber sie wirkte ziemlich besorgt. Offenbar glaubte
sie, dass mehr hinter den Burgos-Morden steckte, als bisher
angenommen wurde. Wie schon gesagt, sie hat sich vor allem für
Cassie, Ellie und Gwen interessiert. Sie schien größtes Interesse
daran zu haben, etwas über den Charakter der Mädchen
rauszufinden.«
»Dann erzählen Sie uns davon.«
Brandons Augen wandern zur Decke. »Mansbury, wissen
Sie, hat den Dünkel, eine liberale Elite-Kunsthochschule zu sein.
Was vermutlich auch zutrifft. Aber wie an jeder Eliteschule tummeln
sich auch dort die Sprösslinge der Finanzgrößen. Eine Menge Kids,
die ihr Leben lang keinen Finger krumm machen mussten. Ich komme
aus einfachen Verhältnissen, aber Cassie und Ellie – die hatten
richtig Kohle. Bei Cassie lag das auf der Hand, aber auch Ellies
Familie gehörte eine riesige Stahlfirma, irgendwo in Südafrika,
glaube ich.«
»Und weiter?«, versucht McDermott das Ganze zu
beschleunigen.
»Na ja, jedenfalls war Ellie eines von diesen
reichen Partymädchen. Ein nettes Mädchen, verstehen Sie mich bitte
nicht falsch, aber sie hatte nicht besonders viel – wie soll ich
sagen – Tiefgang. Ja.«
Er kichert. »Nicht besonders viel Tiefgang. Schicke
Klamotten, teure Frisuren, die richtigen Leute kennen. Sie war
schon in Ordnung auf ihre Art. Aber der einzige Grund, warum ich
überhaupt was mit ihr zu tun hatte, war Cassie.«
Er merkt, dass er jetzt die volle Aufmerksamkeit
der beiden Detectives genießt, und fährt fort. »Und Cassie war ein
echter Schatz. Ungelogen, das Mädchen war wirklich eine Seele von
Mensch. Wissen Sie, was ich meine? Sie hatte mehr Geld als Gott
persönlich, aber sie war total großzügig. Sie engagierte sich
ehrenamtlich, studierte fleißig, war immer für einen da. Aber da
war eine Sache …«
McDermott wippt schon wieder auf den
Zehenballen.
»Cassie war einfach ziemlich durch den Wind.
Schauen Sie, sie hatte diese ganze Kohle und alles, also muss man
vielleicht nicht allzu viel Mitleid mit ihr haben. Das hätte sie
selbst auch nicht gewollt. Aber es schien, als ob sie nicht genau
wüsste, wer sie eigentlich war.« Er seufzt. »Sie war nie mit sich
zufrieden, keine Ahnung, warum. Sie war nett, sie war intelligent,
sie war schön, aber in ihrem Inneren herrschte das reinste Chaos.
Und nach diesem Streit mit Gwendolyn bestand überhaupt keine Chance
mehr, an sie ranzukommen. Sie war ein hoffnungsloser Fall. Wir alle
büffelten wie die Irren für die Examen und waren ein bisschen
komisch drauf. Aber Cassie? Sie aß nichts mehr. Sie redete nicht
mehr. Und offensichtlich lernte sie nicht mal mehr für die
Prüfungen. Nach den Abschlussexamen stürmten wir alle aufatmend aus
den Hörsälen, um endlich die Sommerferien zu genießen, doch Cassie
hockte in ihrem Zimmer hinter verschlossener Tür. Sogar Ellie
zeigte sie die kalte Schulter, obwohl sie zusammen wohnten.«
McDermott wirft einen schnellen Blick auf Stoletti.
Er kann sich vorstellen, was sie jetzt denkt. Das klingt ganz nach
einem Mädchen, das gerade von einer unerwünschten Schwangerschaft
erfahren hat.
»Und ich hab mich damals gefragt«, fügt Brandon
hinzu, »wem Cassie sich mit ihren Sorgen überhaupt anvertrauen
konnte. Sie hasste ihren Vater …«
Interessant.
»Und ihre Mutter, Nat … Ich bin der Frau nie
begegnet, aber, mal ehrlich, in meinen Augen war sie
tablettenabhängig. Und das ist milde ausgedrückt. Die Frau war ein
richtiger Pillen-Junkie. So viel also zu Cassies engster Familie.
Dann war da noch ihre Cousine Gwen, die nur selten da war und auch
dann keine große Hilfe darstellte. Wenn jemand ein echter Freak
war, dann dieses Mädchen. Sie ließ es noch heftiger angehen als
Ellie. Die beiden waren vom gleichen Schlag. Cassie dagegen war
ganz anders.« Plötzlich taucht Brandon aus seinen Erinnerungen auf
und blickt zu McDermott hoch.
McDermott beobachtet ihn einen Moment, eine übliche
Taktik – man muss jemanden nur anstarren, um ihn am Reden zu
halten. Aber Brandon scheint wirklich am Ende, außerdem beginnen
seine Augen sich langsam zu verschleiern, die Erschöpfung und das
Beruhigungsmittel fordern ihren Tribut.
»Und all das haben Sie auch Evelyn erzählt«,
folgert McDermott.
Brandon nickt.
»Und was hat sie daraufhin gesagt?«
»Sie hat mich das Gleiche gefragt, was Sie mich
jetzt gleich fragen werden – ob Cassie schwanger war, und wenn ja,
wer der Scheißvater war.«
McDermott lächelt schwach.
»Leider hab ich überhaupt keine Ahnung, ob sie
schwanger war«, fährt Brandon fort. »Ich kann zwar verstehen, dass
man auf so was kommt, aber, verdammt, die meisten Leute glaubten
damals, sie sei lesbisch. Ich geb zu, ich habe es selbst manchmal
vermutet. Bloß das ist irgendwie schon ein verdammt großer Sprung,
vom Lesbischsein zu einer möglichen Schwangerschaft.«
»Egal«, sagt McDermott, »machen Sie den
Sprung.«
»Hören Sie, ich weiß es einfach nicht.«
McDermott liegt ein Name auf der Zunge, aber er
will nicht derjenige sein, der ihn ausspricht. Es wäre sicher nicht
das erste Mal, dass ein Professor mit einer hübschen jungen
Studentin schläft. Und besagter Professor wäre sicher auch nicht
allzu glücklich darüber gewesen, von einer Schwangerschaft der
betreffenden Studentin zu erfahren. Er konnte sich Professor Albany
gut vorstellen, wie er die drohenden Risiken erwog: Wenn Cassie
sich gegen ihn wandte und ihn beschuldigte, konnte er einfach alles
abstreiten. Dann stünde ihre Aussage gegen seine. Doch im Fall
einer Schwangerschaft war das eine ganz andere Geschichte.
Vaterschaftstest. Unanfechtbare Beweise. Ende einer
vielversprechenden Karriere.
»Cassie hatte nicht allzu viele Freunde – besonders
keine männlichen«, sagt Brandon. »Ich war so ziemlich der
einzige.«
Auch das ist eine Möglichkeit, aber McDermott hat
Brandon bereits ausgeschlossen. Er vertraut seinem Instinkt, und
der Bursche hier macht ihnen nichts vor; besonders jetzt nicht,
nachdem er dem Tod ins Auge geblickt hat und unter starken
Beruhigungsmitteln steht. Mitchum lügt nicht. Er ist nicht der
Vater gewesen.
Weiter, Brandon.
»Tja, da war noch eine Sache, über die Evelyn und
ich gesprochen haben. Es gab da einen Typen, einen Professor im
Fachbereich Kulturwissenschaften. Oh, richtig, jetzt fällt’s mir
wieder ein.« Er schnippt mit den Fingern. »Er hat dieses eine
Seminar gemacht, in dem auch Terry Burgos saß. Professor Albany
hieß er. Frank Albany.«
Stoletti wirft ein: »Wie kamen Sie auf ihn?«
»Er war einer dieser …« Brandon verzieht das
Gesicht. »Er war einer dieser Profs, die sich gerne mit Studenten
umgeben. Für mich hatte der Kerl immer was Unheimliches, aber
Cassie dachte wirklich, er sei der Knaller.«
»Der Knaller.«
»Cool, meine ich. Sie sah zu ihm auf.« Er überlegt
einen Moment.
»Das haben Sie Evelyn erzählt?«
»Ja, und sie war ganz versessen darauf, zu
erfahren, wie viel Zeit Cassie mit Albany verbracht hat.«
»Hat sie gesagt, warum?«
»Na ja, sie hat mich gefragt, ob Cassie schwanger
war – ich meine, ich bin ja nicht blöd.«
»Nein, ganz sicher nicht«, versichert ihm
McDermott.
»Aber hat sie das Ganze in einen größeren
Zusammenhang gerückt?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich hab sie danach gefragt,
aber sie wollte es mir nicht sagen.«
Sie versuchen, Brandon weitere Details, Namen,
Ereignisse oder Orte zu entlocken, die Evelyn vielleicht erwähnt
hatte. Doch es scheint die typische Unterhaltung mit einem Reporter
gewesen zu sein, in der der Befragte die meiste Redezeit
bestreitet. Evelyn Pendry hatte sich nicht in die Karten gucken
lassen.
»Was ist mit Gwendolyn Lake?«, fragt Stoletti.
»Irgendeine Ahnung, wo wir sie finden können?«
Nein, hat er nicht. »So wie sie es damals getrieben
hat, wäre ich ziemlich überrascht, wenn sie überhaupt noch am Leben
ist.«
»Sie sind ihr seit dieser Nacht vor den Examen, in
der sich der Streit ereignete, nie wieder begegnet?«, versucht es
McDermott. »Nie? Nicht mal bei Cassies Beerdigung?«
Brandons Augen wandern zur Decke. »Nein. Sie war
nicht da.«
Merkwürdig. Gwendolyn kam nicht zur Beerdigung
ihrer Cousine? Auf seinen Blick hin zuckt Stoletti mit den
Achseln.
Dann stellt sie die nächste Frage. »Haben Sie das
damals der Polizei erzählt? Die Sache mit dem Streit? Die Bemerkung
über den Scheißvater?«
»Nein«, gibt Brandon zu. »Weil es keine Rolle mehr
spielte. Sie hatten Burgos ja schon geschnappt, und er lieferte ein
umfassendes Geständnis. Da dachte ich, es geht niemanden was an.
Ich hatte das Gefühl, ich wäre es Cassie schuldig, ihr Geheimnis
nicht auszuplaudern. Außerdem kam es in Cassies Fall nie zu einer
Anklage, richtig? Darum haben sie wegen ihr auch nie richtig
ermittelt. Das einzige Mal, als ich aussagen musste, war während
des Prozesses – und auch nicht in Cassies Fall. Es ging um Ellie.«
Sein Blick huscht zwischen den beiden Detectives hin und her.
»Ehrlich, ich hab keinen Anlass gesehen, den Namen eines
wunderbaren Menschen grundlos zu beschmutzen.«
Das klingt ein wenig so, als wolle Mitchum sich
rechtfertigen. Vermutlich hat er so sein schlechtes Gewissen schon
öfter beruhigt. Auch wenn er nicht ganz unrecht hat. McDermott kann
ein Lied davon singen, was es bedeutet, im allgemeinen Interesse
Geheimnisse zu wahren. Allerdings beschäftigt ihn im Moment mehr
die Tatsache, dass Cassies Mord von den Ermittlungen ausgenommen
wurde. Wieder einmal erweist sich, dass damit eine ganze Reihe
bohrender Fragen geschickt vermieden wurden.
Doch McDermott lässt es vorläufig dabei bewenden.
»Gibt es sonst noch was, Brandon? Irgendwas über den Täter oder
Evelyn oder ganz allgemein von damals, worüber wir noch nicht
gesprochen haben?«
Es kommt immer wieder vor, dass Zeugen so von den
Fragen der Polizei in Anspruch genommen sind, dass sie darüber
wichtige Dinge vergessen. McDermott hat schon zahlreiche
Zweitbefragungen durchgeführt, bei denen überraschende neue Dinge
ans Tageslicht gefördert wurden und die Zeugen ihn höflich
informierten: Danach hat man mich beim ersten Mal einfach nicht
gefragt.
Brandon Mitchums Mund formt ein kleines o,
und seine Augen blinzeln kurz. Seine Miene erweckt weniger den
Anschein, als wühle er in seinem Gedächtnis, sondern eher, als
ringe er mit sich.
»Alles, was Ihnen einfällt«, sagt McDermott. »Der
Kerl wird nicht aufhören, bevor wir ihn stoppen.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Brandon.
»Und ich bin mir nicht sicher, was diesen Beutel
mit Gras in Ihrem Apartment betrifft«, erwidert McDermott. »Wir
sind bisher sehr zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs, und ich
wollte Sie eigentlich mit einer kleinen Verwarnung davonkommen
lassen.«
Brandon hebt die Hand. »Okay, okay. Ich dachte –
ich dachte nur nicht, dass es wichtig ist. Und ich weiß nicht mal,
ob es stimmt.« Er schüttelt den Kopf. »Okay, ich sag’s Ihnen. Aber
Sie haben es nicht von mir.«