43. Kapitel
McDermott steht im Konferenzraum, den Kopf gegen die Wand gelehnt. »Ich denke einfach nur nach, das ist alles«, kommt er Stolettis Frage zuvor.
»Professor Albany ist hier. Was hat dir das FBI erzählt?«
McDermott gibt Stoletti die Kurzfassung. Sie setzt sich, während sie zuhört. Als er fertig ist, warnt er sie, dass niemand was davon wissen darf. »McCoy hat ihren Arsch riskiert, als sie mir davon erzählt hat.«
»Ein Handlanger des KGB«, sagt sie. »Herr im Himmel.«
McDermott stößt sich von der Wand ab. »Das erklärt sein routiniertes Vorgehen. Wir suchen einen zum Killer ausgebildeten paranoiden Schizophrenen.«
Einer der Detectives, Williams, steckt den Kopf durch die Tür. »Mike, Paul Riley ist am Apparat.«
»Okay. Sag ihm …«
»Er meint, es ist dringend«, sagt Williams. »Vielleicht besser, du redest mit ihm.«
 
»Der Kerl auf dem Foto heißt Leo Koslenko.« Riley zeigt ihnen das Foto und deutet auf den gefährlich wirkenden Mann im Hintergrund. »Ein Immigrant, der für die Bentleys gearbeitet hat.«
McDermott ist sich nicht sicher, wie er mit der Situation umgehen soll. Er ist nicht darauf vorbereitet, in keiner Hinsicht. Er hat letzte Nacht nicht geschlafen und spürt jetzt die Auswirkungen – das langsam arbeitende Hirn, die schmutzigen Klamotten, die schweren Augenlider. Vielleicht sollte er Überraschung vortäuschen, aber weder er noch Stoletti haben dazu noch die Energie.
Riley ist ohnehin kein Dummkopf. »Sie wissen das bereits«, folgert er aus ihren Mienen.
»Gerade rausgefunden. Vor ein paar Stunden haben wir sein Haus durchsucht.« Er nickt Riley anerkennend zu. »Er hat Fingerabdrücke an Brandons Tür hinterlassen, wie Sie es vermutet haben.«
»Er hat also eine Akte«, konstatiert Riley. Andernfalls wären seine Abdrücke wertlos gewesen. Er wartet auf weitere Ausführungen, doch die beiden Detectives hüllen sich in Schweigen. Stoletti holt tief Luft. »Erzählen Sie uns was über diese Gwendolyn Lake.«
Auch Brandon Mitchum hat sie gestern Nacht erwähnt.
Riley berichtet ihnen, was er weiß. Sie war Cassies Cousine, ein widerspenstiges Waisenkind, das um den Globus jettete, sich mit den Reichen und Berühmten herumtrieb. Gestern, sagt Riley, hat er sie oben im Norden besucht, und heute hat sie seinen Besuch erwidert. Sie hat ihm von Koslenko erzählt, der sich in Cassie verguckt hatte und offensichtlich unter psychischen Problemen litt. Gwendolyn hat ihm erzählt, dass Cassie eine Affäre mit Professor Albany hatte. Und dass sie schwanger war, kurz bevor sie ermordet wurde.
»Jemand ist in dieses Ärztehaus eingebrochen, um die Unterlagen über ihre Schwangerschaft zu stehlen«, schließt Riley. »Oder über die Abtreibung. Oder beides. Und das muss Albany gewesen sein, richtig?«
McDermott schweigt noch immer. Das alles weiß er inzwischen selbst und noch mehr. Etwa, dass Leo Koslenko die perverse Neigung hat, Prostituierte zu ermorden – oder Frauen, die so wirken wie die Frau im Baumarkt. Er weiß, dass Koslenko einen Brief für Professor Albany in seinem Schlafzimmer aufbewahrt hat, der vermutlich aus der Zeit der Morde stammte, und der Albany davor warnt, etwas über Harland Bentleys Affäre mit Ellie Danzinger verlauten zu lassen.
Weiß Riley davon, dass Harland Bentley mit Ellie Danzinger schlief?
Als Riley mit seinem Bericht am Ende ist, wirft McDermott seiner Partnerin einen raschen Blick zu. Sie sind sich beide unsicher, ob sie Riley einweihen sollen, ob er auf ihrer Seite steht.
Kaum vorstellbar, dass Riley diese Leute umgebracht hat. Alles spricht für Koslenko, egal von welcher Seite man es betrachtet. Aber irgendjemand hat ihn aufgezogen und losgelassen, wie McCoy es ausgedrückt hat, und die Identität dieser Person ist von höchstem Interesse. Harland Bentley käme da durchaus in Frage, und Riley arbeitet für Bentley.
Offenkundig hat Riley Brandon Mitchum das Leben gerettet, aber vielleicht wusste er ja auch Bescheid darüber, dass Koslenko dorthin unterwegs war.
Wäre immerhin eine Möglichkeit. Vielleicht ist Riley in alles eingeweiht, darf aber wegen des Anwaltsgeheimnisses nichts sagen. Vielleicht versucht er, das Morden zu stoppen, ohne dabei seinem Mandanten zu schaden.
»Glauben Sie, Albany hat Dreck am Stecken?«, fragt er Riley. »Kann es sein, dass er eine Reihe von Menschen getötet hat, um zu vertuschen, dass er Cassie Bentley geschwängert hat?«
Riley zuckt ratlos mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, was sonst dahinterstecken könnte.«
McDermott stößt ein kurzes Lachen aus. »Sie können sich kein anderes Motiv vorstellen?«
»Nennen Sie mir doch eins«, kontert Riley.
McDermott lächelt ihn an. Von wegen. Jedenfalls jetzt noch nicht. »Dann erzählen Sie mir mal von diesen Briefen, diesem Code.«
Insgeheim macht McDermott sich Vorwürfe. Diese Briefe enthielten eine versteckte Nachricht? Er hat nicht mal versucht, eine zu entdecken. Er hat darin nichts als die wirren Ergüsse eines Verrückten gesehen.
»Er verwendet den ersten Buchstaben in jedem Wort.« Riley breitet seine Kopien der Nachrichten auf dem Konferenztisch aus. »Deshalb wirken die Briefe so unsinnig. Sie sind es ja auch. Er hat einfach Worte gebraucht, die mit bestimmten Buchstaben beginnen. Stoletti hat bereits darauf hingewiesen.«
»Ah, Mist.« McDermott klatscht in die Hände. »Die Vertiefungen auf dem zweiten Brief. Er hat nach Worten gesucht, die mit T und N anfangen. Es kam ihm auf den ersten Buchstaben an. Jesus.« Er blickt auf Rileys Notizen.
BENÖTIGE ERNEUT IHRE BEIHILFE
WERDE ZWEITEN VERS BENUTZEN.
ZEIT ZU OPFERN ALBANI
ANDERE WISSEN UM UNSER GEHEIMNIS
»Wie kann man nur so blind sein.« McDermott schüttelt verärgert den Kopf und versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Er ist ein bisschen zu alt dafür, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. »Das ist ein ganz simpler Code – vorausgesetzt, man sucht überhaupt nach einem.«
Riley stimmt ihm zu. »Nachdem ich erst mal auf die Idee gekommen war, dass da ein Code verborgen sein könnte, habe ich lediglich zehn Minuten gebraucht. Und das ist vermutlich so beabsichtigt. Ich sollte ihn ohne allzu viel Schwierigkeiten knacken können.«
»Er benötigt erneut Ihre Hilfe«, sagt Stoletti. »Er wendet sich an Sie, Riley.«
»Ich weiß.« Riley schüttelt den Kopf. »Aber ich habe keine Ahnung, warum.«
»Andere kennen unser Geheimnis.« McDermott mustert Riley aus schmalen Augen. »Sie teilen ein Geheimnis mit diesem Typen?«
»Er setzt Sie über seine Pläne in Kenntnis«, sagt Stoletti. »Er teilt Ihnen mit, dass er Ihre Hilfe benötigt und das Geheimnis aufgeflogen ist. Er informiert Sie darüber, dass er die zweite Strophe benutzen wird und es an der Zeit ist, Albany zu opfern.«
McDermott versucht, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Diese Nachrichten sind eindeutig für Riley bestimmt. Mit welcher Absicht zeigt er sie ihnen dann?
»Zeit zu opfern Albani. Vermutlich will er, dass Sie den Professor belasten«, sagt Stoletti. »Was er sagt ist: Wahren wir unser Geheimnis, indem wir Albany alles in die Schuhe schieben.«
»Möglich«, stimmt Riley zu. »Aber vielleicht steht da auch ein Punkt hinter opfern.«
»Zeit zu opfern. Albani. Als würde er mit seinem Namen unterzeichen.« Ja, denkt McDermott, auch das wäre vorstellbar.
Ein Klopfen an der Tür zum Konferenzraum. Detective Sloan, der mit der Untersuchung des Mordes auf dem Baumarkt-Parkplatz betraut war, winkt McDermott zu sich.
»Setzen Sie sich doch«, sagt McDermott zu Riley. »Wir sind gleich wieder da.«
 
McDermott und Stoletti lassen Riley im Konferenzraum zurück und besprechen sich vor der Tür leise mit Detective Sloan.
»Wir haben den Wagen und das Kennzeichen«, verkündet Sloan stolz. »Chrysler Le Baron, Kennzeichen: J41258. Er hat es bei Car-N-Go in der Innenstadt ausgeliehen, unter Vorlage eines gefälschten Führerscheins. Er hat bar für zwei Wochen im Voraus bezahlt.«
»Gut gemacht, Jimmy. Schick das über Funk raus. Und zwar sofort.« Er späht hinüber zu Williams, der gerade ins Revier zurückkehrt.
»Albany ist da«, sagt Williams. »Er schreit jetzt schon nach einem Anwalt.«
»Was ist mit Harland Bentley?«
»Wir suchen noch nach ihm. In seinem Büro scheint keiner zu wissen, wo er ist.«
»Treib ihn auf, Barney. Mach dich auf die Socken.«
McDermott wendet sich an Stoletti, die die Augenbrauen nach oben zieht.
»Was, zum Teufel, sollen wir jetzt tun?«, murmelt sie.
»Die Frage ist eher«, erwidert er, »was sollen wir als Erstes tun?«
In Gottes Namen
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