23.
Kapitel
Ich dränge mich durch die versammelte
Reporterschar und steige hinauf in den dritten Stock des
Apartmenthauses, flankiert von zwei uniformierten Beamten, die
unten auf mich gewartet haben. Am Telefon hielten sie sich ziemlich
bedeckt, erst redete ein Cop namens McDermott mit mir und dann
Carolyn Pendry, die ihm offenbar das Telefon entrissen hatte und
ein paar mehr Details preisgab.
Oben entdecke ich als Erstes Carolyn. Sie redet mit
einem stämmigen Typen, der mir bekannt vorkommt. Er gestikuliert
mit den Händen, offenbar in dem Versuch, sie zu beruhigen. Sie
nickt fortwährend. Ihr prachtvolles Haar, das elegante Kostüm und
ihr perfekt geschnittenes Gesicht stehen in scharfem Kontrast zu
dem erschöpften, mitgenommenen Ausdruck, ihrer zusammengesunkenen
Haltung.
Als sie mich entdeckt, ruft sie »Paul« und zerrt
den Mann mit sich. »Das hier ist Commander Briggs. Paul
Riley.«
Wir reichen uns die Hand. Die hohen Tiere haben
sich also eigens herbemüht. Der Commander persönlich an einem
Tatort – und das nach zehn Uhr abends? Nun, immerhin geht es um die
Tochter von Carolyn Pendry.
Ihr Gesicht verzieht sich gequält. Sie berührt
meinen Arm. »Danke … ich danke Ihnen …«
»Carolyn, mein Gott. Das ist doch
selbstverständlich. Es tut mir so leid.«
Sie zieht mich mit sich, und im gleichen Moment
verlässt eine Frau das Apartment, das vermutlich Evelyn gehört. Sie
ist groß, Mitte vierzig, und ihr Dienstausweis baumelt von ihren
Hals.
»Das ist Detective Stoletti.«
»Paul Riley.«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Sie deutet in die
Wohnung.
Danke, freut mich ebenfalls, Ihre Bekanntschaft zu
machen.
»Nichts anfassen«, knurrt sie.
Ich erwidere nichts, halte mich aber an die
Empfehlung. Ein Mann mit rötlichem Gesicht, fast so groß wie ich,
wenn auch etwas breiter um die Hüften, stellt sich als Michael
McDermott vor. Nach außen hin etwas freundlicher als seine
Kollegin, wirkt auch er wenig erfreut über meine Anwesenheit.
Kurz erwäge ich, sie daran zu erinnern, dass es
keineswegs meine Idee war, hier aufzutauchen. Vor knapp dreißig
Minuten lag ich noch mit einer wunderschönen nackten Frau im Bett,
ohne die geringste Absicht, mich in nächster Zeit von dort
fortzubewegen.
Auch er ermahnt mich, nicht mit Beweismitteln
herumzuspielen. Als ich allerdings über McDermotts Schulter spähe,
sehe ich, dass sie ohnehin bereits alles abgesucht und die Spuren
gesichert haben. Das Innere des Apartments entspricht dem, was ich
erwartet habe; es ist winzig, mit einer Küche, in der man sich kaum
umdrehen kann, und einem Wohnzimmer, unmöbliert bis auf eine
L-förmige Couch. Aus dem Teppichboden haben sie kleine Proben
entnommen. Absperrband verwehrt den Zutritt zur Küche, wo die
Küchenzeile auf Fingerabdrücke hin untersucht wurde.
Ich betrete das intakt erscheinende Wohnzimmer. Das
Ganze hat sich vermutlich im Schlafzimmer abgespielt, dem einzigen
weiteren Raum in der kleinen Wohnung. Ich fühle, wie das Adrenalin
durch meine Adern pumpt. Früher war das mal mein Job. Verbrecher
jagen. Rätsel lösen.
Während ich mich dem Durchgang zum Schlafzimmer
nähere, verlangsamen sich meine Bewegungen. Ein Abwehrmechanismus.
Ich blicke nach unten, und ein dumpfer Laut dringt aus meiner
Kehle. Natürlich wusste ich, dass es sich bei der Toten um Evelyn
Pendry handelt. Doch das mildert kaum den Schock, jemanden, der
mich gestern noch mit Fragen gelöchert hat, in diesem Zustand zu
vorzufinden.
Sie liegt auf dem Teppich, nackt bis auf die
Unterwäsche, alle viere von sich gestreckt, den Kopf nach rechts
gedreht. In ihrer linken Schläfe klafft ein hässlicher blutiger
Spalt, offensichtlich eine tiefe Stichwunde. Ihr Mund steht offen.
Die Haut zeigt bereits erste Anflüge von Leichenblässe. Es wirkt,
als hätte sie gerade etwas sagen wollen, und irgendetwas hätte sie
dabei unterbrochen, etwas sehr Wichtiges.
Die Beleuchtung im Raum wirkt brutal unter diesen
Umständen, sie badet die Ermordete in schonungslosem
Scheinwerferlicht. Am liebsten würde ich eine Decke über sie
breiten und ihr die Lider zudrücken. Ich betrachte ihre leeren
Augen, warte unwillkürlich darauf, dass sie blinzeln.
Ich trete bis auf ein paar Schritte an sie heran
und beuge mich über sie. Der faulige Geruch, der von der jungen
Frau aufsteigt, rührt vom Urin und den Fäkalien her; ihr
sympathisches Nervensystem ist kollabiert, während sie sich gegen
den Mörder gewehrt hat. Oder gegen den Schmerz kämpfte.
Von der Wunde am Schädel einmal abgesehen, ist
Evelyn Pendrys Körper von unzähligen Schnitten übersät. Einige sind
nur oberflächlich, andere gehen tiefer. Aus sämtlichen Wunden ist
Blut ausgetreten, also wurden sie ihr zugefügt, bevor ihr Herz zu
schlagen aufhörte.
Man hat sie gefoltert, bevor man sie mit einem
einzigen Stich ins Gehirn getötet hat.
Als ich einen Blick über die Schulter in Richtung
der beiden Detectives werfe, bemerke ich, dass Carolyn nicht mit
uns im Raum ist. Das beruhigt mich, obwohl sie ihre Tochter bereits
vorher gesehen haben muss.
»Er hat sich vorher mit ihr vergnügt«, sage ich und
werfe einen zweiten, gründlicheren Blick auf sie. Nirgendwo in der
Umgebung sind Blutspuren zu entdecken. »Er hat sie hier überwältigt
und sich dann über sie hergemacht.«
Ich schaue erneut zu den Detectives auf, die beide
nicht sonderlich beeindruckt scheinen. Ich weiß nicht, was sie von
mir erwarten. Nach wie vor habe ich keine Ahnung, warum ich
eigentlich hier bin.
»Wie ist er reingekommen?«, frage ich.
Niemand hält es für nötig, mir zu antworten. Okay,
sie mögen mich nicht, doch das ist mir im Moment völlig
gleichgültig.
»Wie ist er hier reingekommen?«, wiederhole ich.
McDermott zuckt mit den Achseln. »Keine Einbruchsspuren. Entweder
hat er das Schloss geknackt, oder sie hat ihn reingelassen.«
»Hat er sich sexuell an ihr vergangen?« Ich
vermeide den Blickkontakt mit Carolyn, die sich jetzt wieder zu uns
gesellt hat.
McDermott schüttelt den Kopf. »Er wollte ihr nur
wehtun.«
Ich erhebe mich und mustere die beiden Detectives.
»Sie gehen aber wohl nicht ernsthaft davon aus, dass sie ihn
reingelassen hat«, sage ich.
»Das Bad«, erwidert er. »Achten Sie auf Ihre
Schritte.«
Ich drehe mich um und betrete vorsichtig das Bad.
Jemand hat bereits das Licht eingeschaltet. Zunächst halte ich
meine Augen auf den Boden gerichtet. Dann bemerke ich es aus den
Augenwinkeln. Ich blicke zum Spiegel auf, erkenne mein eigenes
Spiegelbild, und dann, mit rotem Lippenstift auf das Glas
geschrieben, die Worte:
Ich bin nicht der Einzige.
Ich taumele einen Schritt zurück und verliere fast
das Gleichgewicht. Ich fahre zu den Cops herum, die offensichtlich
ihre Schlussfolgerungen aus meiner Reaktion ziehen.
»Sagt Ihnen das was?«, fragt Stoletti.
Ich kann nichts dagegen tun – ich muss zulassen,
dass es mich innerlich in Stücke reißt, mich bei den Innereien
packt und sie zu unzähligen Knoten verdreht.
»Sind Sie okay?«, fragt mich McDermott.
Ich stolpere an ihnen vorbei und gehe vorsichtig
neben Evelyn in die Hocke, um die Wunde in ihrer Schläfe zu
betrachten. Sie war so jung. Obwohl schon sehr reif für ihr Alter,
hatte sie noch so viel vor sich. Klug und ehrgeizig. Ich muss an
die Worte denken, mit denen ich sie das letzte Mal, als wir
miteinander sprachen, abgespeist habe. Es bleibt immer ein
unangenehmer Nachgeschmack, wenn man jemanden so schlecht
behandelt, wie ich es getan habe. Doch inzwischen gibt es mehr als
nur einen Grund, warum ich es bereue, ihr nicht zugehört zu
haben.
»Ein Schnappmesser, richtig?« Ich schaue die beiden
an. »Damit wurde sie getötet?«
»Richtig«, bestätigt McDermott, und Stoletti fragt:
»Woher wissen Sie das?«
»Und vermutlich war sie nicht das erste
Opfer.«
Niemand antwortet, zumindest nicht mit Worten.
Allerdings sprechen ihre Mienen Bände. Die Detectives werfen sich
einen Blick zu.
»Sie ist das zweite Opfer«, sage ich. »Es hat
bereits eines gegeben. Richtig?«
»Richtig.« McDermott nickt. »Und welche
Mordwaffe?«
»Ein Eispickel«, sage ich.
Sein Gesichtsausdruck bestätigt mir, dass ich recht
habe. »Woher, zum Teufel …«, murmelt er.
Carolyn drängt sich zwischen die beiden Detectives.
»Ist das ein weiterer Song, Paul?«
Ich erhebe mich und blicke zurück ins Bad. Mein
Herz hämmert wie wild gegen meinen Brustkasten.
»Der gleiche Song«, antworte ich. »Aber die zweite
Strophe.«
Das Volk gegen Terrance Demetrius Burgos Fall Nr. 89-CR-31003
August 1989
Der Stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Paul
Riley schob die Kassette in das Abspielgerät, drückte den
Startknopf und las den Songtext mit, der in großen Buchstaben auf
einer Tafel stand, die in einem der Räume des
Burgos-Sonderkommandos zurückgeblieben war. Tyler Skye, der Sänger
von Torcher, plärrte über wütende Gitarrenakkorde hinweg etwas, das
er selbst als zweite Strophe des Songs »Someone« bezeichnete.
A second verse a wretched curse a fate no
worse a hate perverse
Eine zweite Strophe, ein elender Fluch, ein
kaum minder schreckliches Schicksal und abartiger Hass. Nach
dieser Einleitung wurden Gitarre und Schlagzeug noch lauter,
während Tyler Skyes Stimme förmlich explodierte und eine Litanei
brutaler Textzeilen herausbrüllte, die kein menschliches Ohr mehr
verstehen konnte.
An ice pick a nice trick praying that he
dies quick
A switchblade oughta be great for lobotomy
insane a call to me
Precision blade incisions made a closer
shave a bloody spray
Trim-Meter chain saw cheerleader’s brain’s
all paint on the stained wall
Machete in the head he isn’t ready to be
dead I can’t explain why I’m in pain, why I’m unable to refrain
from getting somebody’s brain
Ditchin’ life kitchen knife no more itch and
no more strife no more hate I passed the test
And on seventh day I rest
Der Text der zweiten Strophe stand der ersten an
Grausamkeit in nichts nach. Ein Eispickel, ein netter Trick, er
fleht darum, dass er schnell stirbt. Ein Schnappmesser, denn nichts
ist besser für eine Lobotomie, wie verrückt muss man sein, mich um
Rettung anzuflehn. Eine rasiermesserscharfe Klinge verwandelt eine
gründliche Rasur in ein Blutbad. Eine Trim-Meter-Kettensäge
verteilt das Hirn des Cheerleadergirls wie Farbe auf besudelte
Wände. Eine Machete im Kopf, obwohl er zum Sterben nicht bereit
ist, keine Ahnung, warum es mir wehtut, warum ich’s nicht lassen
kann, anderen Leuten den Schädel zu spalten. Setz dem Leben ein
Ende, mit einem Küchenmesser, kein Schmerz mehr, keine Sorgen und
kein Hass. Ich hab den Test bestanden. Und ruhe am siebten
Tag.
Und ebenso wie die erste Strophe endete auch die
zweite mit einem Selbstmord. Kein Schmerz und keine Sorgen mehr,
weil er sich selbst getötet hat. Das unterstützte zusätzlich die
Deutung, dass es sich bei dem letzten Mord in der ersten Strophe –
schieb’s zwischen die Zähne und drück fröhlich ab – um einen
Selbstmord handelte. Allerdings hatte Burgos sich nicht selbst
getötet. An seiner Stelle hatte Cassie sterben müssen, und als sie
ihn verhaftet hatten, war er vermutlich gerade dabei, sich an die
Umsetzung der zweiten Strophe machen. Schließlich hatten sie
sämtliche darin beschriebenen Waffen in Burgos’ Keller gefunden –
den Eispickel, das Springmesser, die Kettensäge, die Machete und
das Küchenmesser. Alle neu und unbenutzt. Es war keine Spur von
Blut oder etwas anderem darauf zu entdecken gewesen.
Sie hatten ihn gefasst, bevor er den Text der
zweiten Strophe in die Tat umsetzen konnte.
Joel Lightner betrat den Raum, während Riley noch
an dem langen Tisch hockte, auf die Tafel mit dem Text starrte und
der Musik lauschte. Lightner zog die Augenbrauen hoch, um seine
Meinung zu dem Text zu bekunden. Er unterschied sich nicht
sonderlich von dem der ersten Strophe. Gemeinsam hörten sie sich
den dazugehörigen Refrain an, eine leicht variierte Version des
Refrains zur ersten Strophe.
That someone is me / you still haven’t
caught me / I tried to warn you / but you never sought me / you
don’t understand / I’ll never be done / it won’t ever stop
Dieser Jemand bin ich, ihr habt mich immer
noch nicht geschnappt, ich hab versucht, euch zu warnen, aber ihr
habt mich nicht ernst genommen, ihr kapiert nichts, ich werde ewig
so weitermachen, es wird nie zu Ende sein.
Die Musik, ohnehin schon laut und brutal,
kulminierte jetzt in ohrenbetäubendem Getrommel und rückkoppelnden
Gitarren, während Tyler Skye die letzte Zeile herausbrüllte:
I’m not the only one.
Riley drosch auf die Austaste. Lange Zeit sagten
sie nichts. Ich bin nicht der Einzige war wahrscheinlich die
bedrohlichste Zeile des Songtextes. Diese Musik war überall frei
erhältlich, und jeder Gestörte durfte sich berufen fühlen, danach
zu handeln.
»Wir wissen definitiv, dass nirgendwo weitere
Leichen begraben liegen«, sagte Riley.
Lightner grunzte zustimmend. Sie hatten den
gesamten Mansbury Campus mit Polizeihunden abgesucht. Burgos’ Haus
war komplett auf den Kopf gestellt, der Boden unter seiner Garage
ausgehoben, der Garten umgegraben worden. Sie hatten überall
gesucht und nichts gefunden. »Jedenfalls spricht nichts dafür«,
sagte Lightner. »Die Mordwaffen waren unbenutzt. Die Machete noch
in der Verpackung. Und der gute Terry würde es uns sicher verraten,
hätte er irgendwo noch ein paar Leichen gebunkert. Was das
betrifft, ist er nicht gerade verschwiegen.«
Burgos hatte sich gegenüber dem Psychiater, der ihm
nach seinem Schuldunfähigkeits-Antrag auf den Zahn gefühlt hatte,
freimütig geäußert. Er hatte zahlreiche Details preisgegeben – zwar
nicht darüber, wie er die Morde begangen hatte, aber zumindest
warum. Er hatte Bibelverse und Tyler Skyes Texte zitiert, und er
hatte die Sünden seiner Opfer angeprangert, die sie seinem
gerechten Zorn ausgeliefert hatten.
»Also«, erklärte Lightner, »haben wir es jetzt ganz
offiziell nur noch mit fünf Morden zu tun.«
Letzten Freitag, am 11. August, hatte Riley das
Gericht darüber informiert, dass im Fall Cassandra Bentley
sämtliche Anklagepunkte fallen gelassen wurden. Unmittelbar nachdem
Riley das verkündet hatte, waren vonseiten der
Bezirksstaatsanwaltschaft und der Bentley-Familie simultan
Pressebulletins veröffentlicht worden. Es war der ausdrückliche
Wunsch der Bentleys, dass ihre Tochter nicht Gegenstand von
Beschuldigungen wurde, die mit der Diskussion um Burgos’
Schuldunfähigkeit einhergingen; etwa wenn der »verzweifelte
Angeklagte« versuchte, ihr Promiskuität und dergleichen mehr zu
unterstellen. Es sei völlig ausreichend, so hieß es weiter im
Pressetext der Bentleys, dass Burgos inzwischen den Mord an Cassie
gestanden hatte, und dass ihm wegen fünf weiterer Morde der Prozess
gemacht wurde.
Riley hatte die ganze Angelegenheit beiseite
geschoben, kaum dass er das Gerichtsgebäude verlassen hatte. Es war
nicht mehr von Bedeutung. Jetzt drehte sich alles nur noch um die
Frage der Schuldfähigkeit. Burgos würde argumentieren, er hätte
unter einer schweren psychischen Störung gelitten und wäre unfähig
gewesen, das Unrecht seiner Tat zu erkennen. Somit war es die
Aufgabe der Anklage, ihm das Gegenteil nachzuweisen – dass er nicht
psychisch krank und ihm sehr wohl klar gewesen war, was für
Verbrechen er beging.
Das Argument, er sei psychisch krank, war natürlich
nicht ganz von der Hand zu weisen. Schon vor Jahren hatte man eine
paranoide Schizophrenie bei ihm diagnostiziert. Und auch der
gesunde Menschenverstand sprach auf den ersten Blick dafür. Wie
konnte jemand, der so etwas tat, nicht verrückt sein?
Doch der zweite Aspekt des Tests auf
Schuldunfähigkeit stand auf einem anderen Blatt. Burgos würde
beweisen müssen, dass er sich des Unrechts seiner Taten nicht
bewusst gewesen war. Und bei der Einschätzung des
Unrechtsbewusstseins ging es weniger um Psychologie als um Fakten.
Daher bemühten sich die Ermittlungsbeamten, entsprechende Beweise
zu besorgen, und ihre Ergebnisse gaben bereits zu Hoffnungen
Anlass. Burgos hatte die Mädchen in der kurzen Ferienzeit zwischen
dem Ende des Frühjahrssemesters und dem Anfang der Sommerkurse
ermordet, weil er wusste, dass in dieser Zeit das Bramhall
Auditorium leer stand. Und er hatte Prostituierte aus verschiedenen
Stadtvierteln ausgewählt, um von niemandem aus ihrem Umfeld
wiedererkannt zu werden und seine Mordserie ungehindert zu Ende
bringen zu können. Diese Handlungsweise deutete auf einen Täter
hin, dem sehr wohl bewusst war, dass er gegen das Gesetz verstieß,
und der daher einer Verfolgung entgehen wollte – ein Mann, der,
juristisch gesehen, voll schuldfähig war.
Lightner trat näher, um sich Riley genauer zu
betrachten. »Hast du heute schon was gegessen, Schätzchen?«
Riley winkte ab, die gleiche Frage hatte er heute
schon von seiner Frau zu hören bekommen. In den letzten Wochen
hatte er gut drei Kilo an Gewicht verloren. Essen war wirklich das
Letzte, was ihn im Moment interessierte. Dieser Fall würde
voraussichtlich der wichtigste in seiner Karriere als Anwalt
werden, zudem hatte er alle Hände voll damit zu tun, die
Oberaufsicht über eine der größten Strafverfolgungsbehörden des
Landes zu führen.
»Lass uns einen fetten Cheeseburger bei Baby’s
essen gehen«, schlug Lightner vor.
Riley schaute auf die Uhr. Es war kurz nach eins.
Er war seit sieben Uhr im Büro und hatte noch keinen Bissen zu sich
genommen. Gemeinsam mit Lightner marschierte er zurück in sein
Büro, um seine Jacke zu holen, und stieß dort auf seine Sekretärin
Betty, die ihm gerade einen Brief auf seinen Platz legte.
»Noch mehr Fanpost«, erklärte sie, als er
eintrat.
Seit sie im Fall Burgos ermittelten, schneiten bei
den zuständigen Cops und Staatsanwälten alle möglichen verrückten
Schreiben herein, in denen es um das Alte Testament und den Zorn
Gottes ging. Zwar mochte kaum jemand Burgos’ Taten gutheißen, doch
warnten viele Schreiber potentielle »Sünder« vor den Folgen ihrer
Taten.
»Den hier fand ich besonders merkwürdig«, bemerkte
Betty.
Riley nahm den Brief und las ihn gemeinsam mit
Lightner.
Gerechtigkeit unentwegt triumphiert,
ebenso aber regiert Böses ewig. Ich tadle bitter Euer neues
öffentliches Treiben, Ihr gebildeten Eliten. Eigennutz verdrängt
Ethos: Nächstenliebe, Treue und Ethik leugnet lästerlich Euer
Regieren. Nur einige Unerschrockene tadeln Heuchelei. Ihr
lasterhaften Frevler, erwartet Antwort. Lernend, bereut auch
neuerlichen Irrglauben.
Er starrte Betty an, die mit den Achseln zuckte.
»Der ist tatsächlich merkwürdig«, pflichtete er ihr bei. Die
meisten Briefe, die eintrafen, zitierten einfach Stellen aus dem
Alten Testament oder prophezeiten Menschen, die Gottes Wort
lästerten, drastische Strafen. Aber so schräg sie auch waren, nie
bedienten sie sich irgendwelcher rätselhafter Anspielungen. »Hast
du das Original noch?«
Sie nickte. »Abgeheftet und archiviert.«
Als Vorsichtsmaßnahme bewahrte die
Bezirksstaatsanwaltschaft alle Originalbriefe auf, datiert und in
Plastik verschweißt.
»Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll«,
sagte Riley.
»Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist ein
unausrottbares menschliches Phänomen, ebenso wie das Böse«,
spekulierte Betty, die über seine Schultern spähte. »Und die
Menschen von heute sind gierig und unmoralisch.«
»Was soll das sein? Stammtischphilosophie?«, fragte
Lightner. »Die Menschen von heute sind gierig und umoralisch? Der
Cop von heute hat Hunger auf einen Cheeseburger.« Er nickte Riley
zu. »Können wir?«
Riley studierte den Brief erneut. »Der ist wirklich
sehr seltsam«, wiederholte er.
»Staatsanwälte.« Lightner seufzte. »Mach die Dinge
nicht unnötig kompliziert. Ich bin am Verhungern.«
»Schon gut.« Riley dachte einen Moment nach.
Mach die Dinge nicht unnötig kompliziert. Er ließ den Brief
in den Papierkorb fallen und ging zum Mittagessen.